Die moderne Sorge um die Opfer

René Girard

Auf dem Tympanon mancher Kathedralen ist ein übergroßer Engel mit einer Waage in der Hand dargestellt. Er wiegt die Seelen für die Ewigkeit. Hätte es die moderne Kunst nicht aufgegeben, die die Welt bedrängenden Ideen darzustellen, hätte sie die Thematik des Wägens der Seelen erneuert und meißelte man heute das Wägen der Opfer in die Giebeldreiecke unserer Parlamente und Universitäten, unserer Gerichtsgebäude, Verlagshäuser und Fernsehanstalten.
Mehr als jede andere Gesellschaft je zuvor beschäftigt sich unsere Gesellschaft mit den Opfern. Auch wenn dies nur eine breit angelegte Komödie ist, handelt es sich doch um ein noch nie dagewesenes Phänomen. In keiner geschichtlichen Periode, in keiner uns bekannten Gesellschaft wurde über die Opfer so gesprochen, wie wir es tun. Die Ansätze zur gegenwärtigen Einstellung lassen sich in der jüngeren Vergangenheit ausmachen, doch jeden Tag werden neue Rekorde gebrochen. Wir alle sind zugleich Akteure und Zeugen einer imposanten anthropologischen Premiere.
Man studiere alte Urkunden, durchsuche alles, erforsche noch den hintersten Winkel des Planeten – nie wird man auf etwas stoßen, was auch nur im entferntesten an die moderne Sorge um die Opfer gemahnt. Weder das China der Mandarine noch das Japan der Samurai, weder Indien noch die präkolumbischen Gesellschaften, weder Griechenland noch das Rom der Repub­lik oder des Römischen Reichs kümmerten sich auch nur im geringsten um die Opfer, die sie, ohne zu zählen, ihren Göttern, dem Vaterland zu Ehren oder dem Unternehmungsgeist bedeutender und unbedeutender Eroberer darbrachten. Ein Außerirdischer, der unsere Gespräche belauschte, ohne die Geschichte der Menschheit zu kennen, würde zweifellos annehmen, in den vergangenen Jahrhunderten habe irgendwo eine Gesellschaft existiert, was das Mitleid anbetrifft der unsrigen haushoch überlegen, und für das Leiden der Unglücklichen derart empfänglich, dass sie unter den Menschen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen habe und wir sie zum Fixstern erhoben haben, um den unsere obsessive Beschäftigung mit dem Opferthema kreist. Einzig die Sehnsucht nach einer solchen Gesellschaft könnte unsere Strenge gegen uns selbst und unsere Selbstvorwürfe begreiflich machen. Selbstverständlich hat diese ideale Gesellschaft niemals existiert. Bereits im 18. Jahrhundert, als Voltaire seinen Candide verfasste, suchte er, doch fand er keine der seinen überlegene Welt. Also musste er seine ideale Gesellschaft in allen Einzelheiten erfinden. Der Lauf der Welt gibt keinen befriedigenden Anlass, uns selbst zu verurteilen. Das hindert uns freilich nicht daran, die heutige Welt lauthals mit Beschuldigungen zu überziehen, von denen wir zugleich genau wissen, dass sie falsch sind. Nie habe sich eine Gesellschaft, hört man häufig, den Armen gegenüber so gleichgültig gezeigt wie die unsrige. Aber wie kann das sein, gab es doch die Idee der sozialen Gerechtigkeit, so unvollkommen sie auch umgesetzt sein mag, nirgendwo sonst. Sie ist eine Erfindung jüngeren Datums. Das heißt nicht, dass ich unserer Welt jeden Tadel ersparen will. Was ihre Schuld betrifft, teile ich die Ansicht meiner Zeitgenossen. Aber ich versuche den Ort, den Gesichtspunkt zu entdecken, von dem her wir uns verurteilen. Meiner Meinung nach haben wir gute Gründe, uns schuldig zu fühlen, aber es sind nicht die, die wir gerne anführen. Um die gegen uns selbst gerichteten Verwünschungen zu rechtfertigen, genügt es nicht zu sagen, dass wir reicher und besser ausgestattet sind als die Welt je zuvor. Selbst in den elendesten Gesellschaften gab es Reiche und Mächtige, und sie zeigten sich gegenüber den Opfern in ihrer Umgebung vollkommen gleichgültig.

Unsere Welt steht unter dem Eindruck eines Imperativs, der sich nur an sie richtet. Bereits die Generationen unmittelbar vor uns hörten den Ruf, wenn er auch damals noch weniger ohrenbetäubend laut war. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, umso schwächer wird er. Alles deutet darauf hin, dass er sich in Zukunft noch verstärken wird. Da wir nicht mehr so tun können, als hörten wir nichts, verurteilen wir unsere Defizite, doch wissen wir nicht, in wessen Namen. Wir stellen uns überzeugt, dass jedermann diesen Ruf schon immer gehört hat, obwohl in Wirklichkeit nur wir ihn hören. Nun ist, verglichen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, unser Wirken und Tun tatsächlich lächerlich und unser Versagen erschreckend. Uns zu tadeln haben wir gute Gründe, aber weshalb? Den Epochen vor uns war unsere Sorge so fremd, dass sie sich nicht einmal ihre eigene Gleichgültigkeit zum Vorwurf machten. Befragen wir unsere Historiker, so verweisen sie auf den Humanismus und andere vergleichbare Geistesströmungen, was sie der Notwendigkeit enthebt, das Religiöse zu erwähnen, etwas über die Rolle zu sagen, die das für null und nichtig erklärte Christentum in dieser Angelegenheit unzweifelhaft spielt. In Frankreich hat sich tatsächlich der Humanismus gegen das dem Ancien régime verpflichtete Christentum durchgesetzt, das zu Recht der Komplizenschaft mit den Mächtigen beschuldigt wurde. Die lokalen Umstände sind von Land zu Land verschieden, doch können sie den wahren Ursprung der modernen Sorge um die Opfer nicht verschleiern – einen offenkundig christlichen Ursprung. Humanismus und Humanitarismus entfalten sich zuerst auf christlichem Boden. Das ist etwas, was Nietzsche gegen die Heuchelei seiner Zeit mit Nachdruck vertreten hat – die gleiche, wenn auch weniger monumentale Heuchelei wie die unsrige. Der Philosoph, schärfster Gegner des Christentums im 19. Jahrhundert, hat die Quelle unserer Schuldgefühle zu einer Zeit entdeckt, da sie weniger evident waren als heute, weniger karikierend christlich in ihrem antichristlichen Reflex. Wenn es eine Ethik des Christentums gibt, dann ist sie eins mit der Nächstenliebe, der caritas, und ihr Ursprung lässt sich unschwer auffinden:

Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? Oder durstig und haben dich getränkt? Wann haben wir dich als einen Fremdling gesehen und beherbergt? Oder nackt und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25, 34-40)

Das Ideal einer gewaltlosen Gesellschaft geht offensichtlich auf die Verkündigung Jesu, auf die Ankündigung des Reichs Gottes zurück. In dem Maß, in dem das Christentum uns ferner und ferner wird, schwächt sich dieses Ideal nicht ab, gewinnt vielmehr an Intensität. Ein leicht erklärbares Paradoxon: Die Sorge um die Opfer ist zu einem paradoxen Zankapfel im Spiel der mimetischen Rivalitäten, der konkurrierenden Überbietungen geworden. 

Es gibt Opfer, ganz allgemein, am interessantesten aber sind immer jene, die es uns erlauben, unsere Nachbarn zu verurteilen. Und diese zahlen es uns mit gleicher Münze heim. Sie denken vorab an jene Opfer, für die sie uns verantwortlich machen.
Wir machen nicht alle die Erfahrung von Petrus und Paulus, die bei sich selbst die Schuld an Verfolgungen entdecken, worauf sie sich an die eigene und nicht an die Brust ihrer Nachbarn schlagen; es sind unsere Nächsten, die uns an unsere Pflicht erinnern, und wir leisten ihnen den gleichen Dienst. In unserer Welt werfen sich sozusagen alle gegenseitig die Opfer an den Kopf und das Endresultat entspricht dem, was Jesus in seinen Sätzen angekündigt hat, die von der modernen Sorge um die Opfer erstmals erhellt werden:
auf dass gefordert werde von diesem Geschlecht aller Propheten Blut, das vergossen ist, seit der Welt Grund gelegt ist, von Abels Blut an bis … (Lukas 11, 50-51)

Das Jesuswort bestätigt sich, wenn auch mit einem beträchtlichen Rückstand auf den erwarteten Zeitplan der ersten Christen; wichtig ist indes, dass es sich bestätigt, nicht aber das Datum dieser Bestätigung. Inzwischen haben wir unsere Opferriten; sie sind antiopferkultisch und laufen in einer ebenso unwandelbaren Ordnung ab wie die eigentlich religiösen Riten. Zuerst werden die Opfer beklagt, die zu produzieren oder produzieren zu lassen man sich gegenseitig beschuldigt. Dann beklagt man die Heuchelei jeder Klage; schließlich beklagt man das Christentum, den unerlässlichen Sündenbock, gibt es doch keinen Ritus ohne Opfer, und in unseren Tagen ist immer es das Opfer: Es ist the scapegoat of last resort, und mit höchst bekümmerter Miene stellen wir fest, dass es nichts getan hat, um „das Gewaltproblem zu lösen“.

Bei unseren ständigen Vergleichen zwischen unserer Welt und der Welt der anderen bedienen wir uns stets zweierlei Maß und zweierlei Gewicht. Wir tun alles, um die erdrückende Überlegenheit der ersteren zu verschleiern, die jedenfalls nur noch mit sich selbst konkurriert, umfasst sie doch inzwischen den gesamten Planeten. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass alles, was gegen unsere Welt vorgebracht werden kann, wahr ist: Sie ist bei weitem die schlechteste aller Welten. Keine Welt, so wird unablässig wiederholt, hat mehr Opfer hervorgebracht als sie, was zutrifft. Doch sind ganz gegenteilige Aussagen ebenfalls richtig: Unsere Welt ist auch bei weitem die beste aller Welten, diejenige, welche am meisten Opfer rettet. Sie zwingt uns zu immer mehr unvereinbaren Aussagen jeglicher Art. Die Sorge um die Opfer bringt uns zu der durchaus richtigen Einschätzung, dass die Fortschritte im „humanitären Bereich“ äußerst schleppend vorangehen – und dass sie auf keinen Fall glorifiziert werden dürfen, will man sie nicht noch weiter verlangsamen. Die gesteigerte Sorge um die Opfer zwingt uns zu permanenter Selbstkritik.

Kennzeichen der Sorge um die Opfer ist, dass sie sich mit ihren vergangenen Erfolgen nicht zufriedenstellen lässt. Gibt man ihr zuviel Raum, tritt sie bescheiden zurück. Sie sucht eine Aufmerksamkeit von sich abzuwenden, die allein den Opfern gelten soll. Sie geißelt sich selbst; prangert die eigene Nachgiebigkeit, das eigene Pharisäertum an. Sie ist die säkulare Maske der caritas. Was uns daran hindert, diese Sorge um die Opfer etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, ist also gewissermaßen diese Sorge selbst. In unserer Welt ist simulierte oder echte Demut angesagt, und das geht unzweifelhaft auf das Christentum zurück. Die Sorge um die Opfer denkt nicht in Statistiken. Sie handelt nach dem evangelischen Grundsatz des verlorenen Schafes, der besagt, dass der Hirte nötigenfalls die ganze Herde ihrem Schicksal überlässt. Um uns selbst zu beweisen, dass wir weder ethnozentrisch noch triumphalistisch sind, wettern wir gegen die bourgeoise Selbstzufriedenheit des 19. Jahrhunderts, wir ziehen die Einfalt des „Fortschritts“ ins Lächerliche und verfallen der gegenteiligen Einfalt: Wir klagen uns an, die unmenschlichste aller Gesellschaften zu sein. Die modernen Demokratien können zu ihrer Verteidigung eine Palette von historisch einzigartigen Leistungen präsentieren, um die sie die übrige Welt beneidet. Die allmähliche Lockerung der kulturellen Grenzen beginnt bereits im Mittelalter und endet in unserer Zeit in dem, was wir Globalisierung nennen – meiner Auffassung nach erst in zweiter Linie ein wirtschaftliches Phänomen. Die wahre Triebfeder ist die Entgrenzung der Opferlogik; es ist die Kraft, die, nachdem sie die archaischen Gesellschaften vernichtet hat, nun deren Ersatzgröße, den „modernen“ Staat, zerschlägt.

Das Wägen der Opfer ist „in“, spielen wir also das Spiel, ohne zu mogeln. Betrachten wir zuerst die Waagschale unserer Erfolge. Seit dem Hochmittelalter entwickeln sich sämtliche bedeutenden Institutionen in dieselbe Richtung: öffentliches Recht und Privatrecht, Strafrecht, Rechtspraxis und Personenstatus. Alles verändert sich anfänglich langsam, doch der Rhythmus steigert sich, und aus großer Distanz betrachtet verläuft die Entwicklung immer in dieselbe Richtung: Milderung der Strafen, größtmöglicher Schutz der potentiellen Opfer.
Unsere Gesellschaft hat Sklaverei und Leibeigenschaft aufgehoben. Dann wandte sie sich dem Schutz der Kinder, der Frauen und der Alten, dem Schutz der Fremden und der Minoritäten, dem Kampf gegen Elend und „Unterentwicklung“ zu. In jüngster Zeit wurden die medizinische Versorgung, der Schutz der Behinderten usw. ausgebaut.
Tagtäglich werden neue Schwellen überschritten. Wenn sich an irgendeinem Punkt des Planeten eine Katastrophe ereignet, fühlen sich die nicht betroffenen Staaten inzwischen verpflichtet, Hilfe zu leisten und sich etwa an Rettungsarbeiten zu beteiligen. Eher symbolische und zudem von Prestigedenken geprägte denn wirkungsvolle Gesten, wird der Einwand lauten. Zweifellos, doch in welcher Epoche vor der unsrigen und wo in aller Welt förderten internationale Hilfeleistungen das nationale Ansehen?
Die einzige Rubrik, unter die sich das ohne Anspruch auf Vollständigkeit soeben Aufgezählte einordnen lässt, ist die Sorge um die Opfer. In unserer Zeit wird diese Sorge zuweilen zur lächerlichen Karikatur, doch man hüte sich davor, sie schlicht als Modephänomen, als ewig wirkungsloses Geschwätz abzutun. Sie ist nicht in erster Linie eine heuchlerische Komödie. Im Verlauf der Zeit hat sie eine mit allen übrigen nicht vergleichbare Gesellschaft hervorgebracht. Sie hat die Welt geeint.

Wie ist das konkret vor sich gegangen? Mit jeder Generation drangen die Gesetzgeber eine Stufe tiefer in das jahrhundertealte Erbe vor und machten es sich zur Pflicht, es zu verwandeln. Dort, wo ihre Vorfahren keinerlei Reformbedarf festgestellt hatten, entdeckten sie Unterdrückung und Unrecht. Der Status quo hatte lange Zeit als unantastbar gegolten, als naturgegeben oder von den Göttern, häufig sogar vom christlichen Gott gewollt. Seit Jahrhunderten legen die aufeinanderfolgenden Wellen der Sorge um die Opfer neue Kategorien von Sündenböcken im Unterbau der Gesellschaft frei und rehabilitieren sie – Opfer, angesichts deren in der Vergangenheit nur einige wenige spirituelle Ausnahmegestalten vermutet hatten, dass das von diesen Menschen erlittene Unrecht jemals beseitigt werden könne.

Die moderne Sorge um die Opfer setzt sich meiner Auffassung nach erstmals mit jenen religiösen Einrichtungen durch, die „wohltätig“ genannt werden. Es begann alles mit dem Hospital, jener Dependance der Kirche, aus der bald das Krankenhaus wurde. Das Spital nahm alle Behinderten, alle Kranken auf, ohne Unterschied der gesellschaftlichen, territorialen oder sogar religiösen Zugehörigkeit. Das Spital erfinden heißt, erstmals den Begriff des Opfers jeder konkreten Zugehörigkeit zu entledigen, heißt, den modernen Opferbegriff erfinden.
Die noch autonomen Kulturen pflegten verschiedene Arten von Solidarität in der Familie, im Stamm, innerhalb des Landes, doch sie kannten das Opfer an sich nicht, das anonyme und unbekannte Opfer, im Sinne des „unbekannten Soldaten“. Vor dieser Entdeckung gab es Mitmenschlichkeit im umfassenden Sinn nur innerhalb eines klar definierten Territoriums. Heute verkümmern lokale, regionale und nationale Zugehörigkeiten: ecce homo.
Wesentlich für das, was man heute unter den Menschenrechten versteht, ist, dass jedes Individuum oder jede Gruppe von Individuen zum „Sündenbock“ der eigenen Gemeinschaft werden kann. Den Akzent auf die Menschenrechte setzen heißt, sich zu bemühen, den unkontrollierbaren mimetischen Furor zu verhüten und zu überwachen.
Zumindest diffus sehen wir für jede beliebige Gemeinschaft die Möglichkeit, dass sie ihre Glieder verfolgt, entweder, indem sie plötzlich irgendwo, irgendwann und irgendwie unter irgendeinem Vorwand gegen irgend jemanden mobil macht, oder, häufiger, indem sie sich durchgängig in Mustern organisiert, nach denen die einen auf Kosten der anderen bevorzugt und Formen sozialer Ungerechtigkeit über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zementiert werden. Die Sorge um die Opfer sucht uns gegen die unzähligen Spielarten des Opfer­mechanismus zu schützen.

Die nachhaltigsten Transformationen bewirkt nicht die revolutionäre Gewalt, sondern die moderne Sorge um die Opfer. Was diese Sorge speist, sie wirksam macht, ist das echte Wissen um Unterdrückung und Verfolgung. Es sieht ganz so aus, als wäre dieses anfangs geringe Wissen nach den ersten Erfolgen allmählich kühner aufgetreten. Um dieses Wissen zusammenzufassen, gilt es auf die Analysen des letzten Kapitels zurückzukommen; ist es doch das Wissen, das die rituelle Bedeutung des Ausdrucks „Sündenbock“ von seiner modernen Bedeutung trennt. Dieses Wissen nimmt jeden Tag zu, und künftig wird es sich zweifellos ausdrücklich auf die mimetische Lektüre der Beziehungen zwischen Verfolgern und Verfolgten stützen.

Die von mir eher chaotisch und gerafft dargestellte Entwicklung deckt sich mit der Anstrengung unserer Gesellschaften, die permanenten Sündenbock-Strukturen, auf denen sie beruhen, in dem Maß zu beseitigen, wie sie sich deren Existenz bewusst werden. Diese Transformation erscheint als moralischer Imperativ. Gesellschaften, die die Notwendigkeit von Transformationen nicht sahen, haben sich nach und nach verändert, stets in dieselbe Richtung, um das Bedürfnis zu befriedigen, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen und zwischen den Menschen „menschlichere“ Beziehungen herzustellen.

Nach jedem neuen Schritt kommt es zu heftigem Widerstand der ihrer Vorteile beraubten Privilegierten. Ist die Situation einmal verändert, werden die Ergebnisse niemals ernsthaft in Frage gestellt. Im 18. und 19. Jahrhundert erkannte man, dass im Zuge dieser Entwicklung ein Gebilde von Staaten im Entstehen begriffen war, das in der Menschheitsgeschichte gerade deshalb so einmalig war, weil mit der sozialen und moralischen Transformation bisher ebenfalls nie dagewesene technische und wirtschaftliche Fortschritte einhergingen.
Es versteht sich von selbst, dass allein die privilegierten Klassen diese Feststellung machten; sie haben darauf mit außerordentlichem Stolz und ebenso außerordentlicher Vermessenheit reagiert, und die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts können bis zu einem gewissen Punkt als die unvermeidliche Strafe gelten. Die alten Welten waren untereinander vergleichbar, die unsere ist wahrhaft einmalig. Ihre Überlegenheit in sämtlichen Bereichen ist derart erdrückend und evident, dass es sich paradoxerweise verbietet, sie zur Schau zu stellen. Dahinter steht die Furcht vor dem Rückfall in einen tyrannischen Stolz, die Furcht auch, jene Gesellschaften zu demütigen, die nicht zur privilegierten Gruppe gehören. Anders gesagt, es ist einmal mehr die Sorge um die Opfer, die über sich selbst Stillschweigen bewahrt.

Unsere Gesellschaft lastet sich ständig Verbrechen und Fehltritte an, deren sie, absolut gesehen, sicherlich schuldig ist, im Vergleich zu allen anderen Gesellschaftstypen jedoch relativ unschuldig. Wir haben offensichtlich nicht aufgehört, „ethnozentrisch“ zu sein. Ebenso offensichtlich jedoch sind wir die am wenigsten ethnozentrische aller Gesellschaften. Wir waren es, die vor fünf oder sechs Jahrhunderten den Begriff erfanden – Montaignes 31. Kapitel im Ersten Buch der Essais über die „Menschenfresser“ ist der Beweis dafür. Eine zu einer solchen Erfindung fähige Gesellschaft musste bereits weniger ethnozentrisch sein als die übrigen Gesellschaften, die derart ausschließlich mit sich selbst beschäftigt waren, dass ihnen der Begriff des Ethnozentrismus nicht einmal in den Sinn gekommen wäre. Unsere Welt hat das Mitleid nicht erfunden, aber sie hat es universalisiert. In archaischen Kulturen wurde Mitleid ausschließlich innerhalb äußerst begrenzter Gruppen geübt. Markiert war die Grenze stets durch die Opfer. Die Säugetiere markieren die Grenzen ihres Territoriums mit ihren Exkrementen. Während langer Zeit haben die Menschen dasselbe getan, mit jener besonderen Form von Ausscheidung, die für sie ihre Sündenböcke sind.

Von

  • René Girard, Prof. Dr.

    1923 in Avignon geboren, lebt seit 1947 in den USA. Er lehrte dort an verschiedenen Universitäten, zuletzt als Professor für französische Sprache, Literatur und Kultur an der Stanford Universität, an der er heute noch als Professor Emeritus tätig ist.

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