Die Suche nach dem Sinn - Viktor Frankl (1905 – 1997)

Samuel Pfeifer

Viktor Frankl wurde 1905 in Wien geboren, zu Beginn jenes schicksalsschweren Jahrhunderts, das Europa umpflügte und mit Krieg, Judenhass und Konzentrationslagern neue schreckliche Abgründe auftat. Der Vater war Ministerialbeamter in Wien, die Mutter entstammte einer jahrhunderte-alten, hoch geachteten Familie von Rabbinern aus Prag. Die ganze Familie kam 1942 unter den Nazis ins Konzentrationslager, sein Vater, seine Mutter und seine Frau wurden in verschiedenen Lagern umgebracht; nur Viktor Frankl überlebte. Der junge Neurologe, Nervenarzt und Psychotherapeut hatte noch vor der Deportation sein erstes Manuskript des Buches „Ärztliche Seelsorge“ verfasst. Eingenäht in seinen Mantel versuchte der 37-jährige es ins Konzentrationslager zu schmuggeln, doch in den Wirren verlor sich auch das Manuskript, nun nur noch in seinem Gedächtnis verankert und der schwersten Bewährungsprobe ausgesetzt, der eine positive Sicht des Lebens überhaupt begegnen konnte.

Während viele andere am Erlebten zerbrachen, blieb Frankl dabei: Es gilt, selbst in schwersten Umständen einen Sinn zu finden. „Trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ (1977/2012), so betitelte er das Buch, das er schon bald nach der Befreiung aus dem KZ verfasste. Frankl, stets berührt von der kleinsten positiven Erfahrung, wertete diese als Beweis dafür, „dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein ‚So oder So‘!“(S.102). Frankl hatte kein spirituelles „Erleuchtungserlebnis“ wie Tournier, doch das Erleben in den Konzentrationslagern prägte und bestätigte ihn in seinen frühen Wiener Ideen. Das Buch wurde in 24 Sprachen übersetzt, darunter auch auf Chinesisch, Japanisch und Koreanisch. Allein in den USA verkaufte es sich rund neun Millionen Mal, war Pflichtlektüre an vielen amerikanischen Colleges und wurde von der Library of Congress als eines der einflussreichsten Bücher seiner Zeit bezeichnet.

Sich einlassen in die Not der einzelnen Person

Doch schauen wir nochmals zurück, wie Frankl die neue Sichtweise entwickelte. Sein Umfeld im medizinischen Studium war die neu aufgebrochene Psychotherapiebewegung in Wien. Da machte Sigmund Freud Furore mit seinen Ideen von verdrängter Sexualität, und Alfred Adler hielt dagegen mit seiner These vom Machtstreben als Grundlage der Neurosen. Er kennt Freud und Adler persönlich, setzt sich mit ihren Lehren auseinander. Viele andere sind in Ehrfurcht erstarrt, übernehmen die Lehren als staunende Jünger, lassen sich von Freud und seinen Kollegen analysieren.

Frankl aber hat den Mut diese Ansätze zu kritisieren und neue Konzepte zu entwickeln. Die Folge: er wird aus ihren Gesellschaften ausgeschlossen. Er erkennt, dass da eine Grundhaltung herrscht, die er mit einer mitmenschlichen Begegnung nicht in Einklang bringen kann. Er kritisiert den „analytischen Pandeterminismus“, den „furor analysandi“ (S. 47, Ärztliche Seelsorge) und den Psychologismus (S. 57), der den Menschen in seinem Erleben und seinen inneren Kämpfen entwerte. Der Psychologismus reduziere die vielschichtige Existenz einer Person auf das Krankhafte, ständig auf der Suche nach Problemen. „Überall sieht er nichts als Masken; hinter ihnen aber will er nichts anderes gelten lassen als neurotische Motive. Alles erscheint unecht, uneigentlich.“ (S. 58). Etwas aber fehlt diesem besserwisserischen Ansatz: „Die Demut aber hat sie anscheinend vergessen, die Demut vor dem geistig Schöpferischen in der Welt vor dem Geistigen als einer Welt für sich, deren Wesen und Werte sich eben nicht einfach in die psychologische Ebene psychologistisch hinabprojizieren lassen. Demut, wenn sie echt ist, ist aber mindestens so sehr ein Zeichen innerer Stärke, wie Mut.“ (S. 58) Psychologie in diesem Sinne werde ein „Aburteilen“ des Menschen, ohne seine tiefen inneren Quellen wahrzunehmen. Völlig vergessen gehe dabei die Frage nach Sinn, Freiheit und Verantwortung der Person. Der Begriff der Person behielt in seinem Werk immer eine zentrale Bedeutung. So findet sich in der neuen Auflage der „Ärztlichen Seelsorge“ ein Anhang unter dem Titel „Zehn Thesen über die Person“.

Ihm aber ging es darum, sich einzulassen in die geistige Not des seelisch leidenden Menschen (S.45). In den Doktrinen der Psychoanalyse würden so typisch menschliche Eigenschaften wie Gewissen und Liebe zur blossen Nebensache gemacht. „Da ist der Geist nichts als die höchste Nerventätigkeit“ (S.48). Aus dem „gelehrten Nihilismus“ werde ein „gelebter Nihilismus…, als der sich das existentielle Vakuum interpretieren liesse.“ Die Psychotherapie seiner Zeit stehe in der Gefahr, den Menschen „zu versachlichen und zu entpersönlichen“ (S.48). Schlimmer noch: „Der Patient selbst wird dann als Mensch nicht mehr ernst genommen. Wir können den Sachverhalt auch so formulieren, dass wir sagen: Seinem Glauben wird nicht mehr geglaubt. … Wie unter solchen Umständen noch ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden soll, lässt sich kaum vorstellen.“ (S. 49) Freud habe nur „den Willen zur Lust“ gesehen, Adler nur „den Willen zur Macht“, doch da sei noch etwas anderes, nämlich „der Wille zum Sinn“.

Häftling 119´104 – Leben, was er gelehrt hat

Diese mutigen Thesen formulierte er schon als junger Psychiater und Neurologe. Sein Ruhm drang bald weit über Wien hinaus. Doch immer bedrohlicher wurden die Wolken über seiner Heimatstadt: Die Nazis machten ernst damit, alle Juden zu deportieren und zu vernichten. Für ihn allerdings gab es Hoffnung: Die Botschaft der USA bot ihm ein Visum als Gastdozent an, was ihn sicher vor dem Konzentrationslager gerettet hätte. Doch dann meldete sich sein Gewissen. Kann ich meine Eltern zurücklassen in dem sicheren Todesurteil? Nach einer unruhigen Nacht besuchte er seine betagten Eltern. Sein Vater zeigte ihm ein Marmorstück aus der niedergebrannten Synagoge. Es war ein Teil der Gesetzestafeln, darauf nur ein Buchstabe, der Anfang eines Gebotes. Frankl erzählt: „Und zwar welches?“, drang ich in meinen Vater. Darauf gibt er mir zur Antwort: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange lebest im Lande …“ (Frankl 1995/2013). Für ihn war dieses Marmorstück nicht einfach ein Stein, sondern ein göttlicher Hinweis auf seine Lebensaufgabe. Später schrieb er in dem Buch „Ärztliche Seelsorge“: „Das Gewissen gehört zu den spezifisch menschlichen Phänomenen. Es liesse sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort. Das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“ (S. 87)

Frankl blieb in Wien. Und er wurde deportiert, zusammen mit seiner ganzen Familie. Der hochbegabte Arzt wird zum Häftling Nr. 119´104. Nun galt es zu leben, was er geschrieben hatte: Verantwortung übernehmen und dem Leben Sinn geben, auch unter schwierigsten und unmenschlichsten Umständen. Etwa ein Jahr zuvor hatte er seine erste Frau, Tilly, kennengelernt, eine 23-jährige Krankenschwester. Sie waren noch eines der letzten Paare, die im jüdischen Standesamt getraut werden durften, dann wurde es geschlossen. Die Nazis gaben den Befehl aus, dass bei Feststellung einer Schwangerschaft bei Jüdinnen zwingend eine Abtreibung vorzunehmen sei. So verlor das junge Paar sein erstes Kind.

Drei Jahre lang gingen sie durch die Hölle der Konzentrationslager. Tilly starb kurz vor der Befreiung an Unterernährung. Frankl selbst überlebte in einem anderen Lager und gehörte zu jenen ausgemergelten Gestalten, die den US-Truppen entgegenwankten, die sie befreiten.

Komplexe Philosophie, tiefe Wahrheiten

Äusserlich ausgemergelt – innerlich entschlossen, das Erlebte so zu verarbeiten, dass es dieser scheinbar sinnlosen Existenz neuen Sinn gab. Die Trauer brach ihm manchmal fast das Herz, doch er stellte sich seiner Verantwortung, wurde zum Vorstand der Neurologischen Poliklinik in Wien berufen und hielt schon bald wieder Vorlesungen. Noch im Jahr der Befreiung aus dem KZ gab er zwei Buch-Manuskripte in Druck, die ihn weltberühmt machten. Das Schreiben öffnete die Schleusen seiner Seele: „Ich diktierte und diktierte, drei Stenotypistinnen mussten einander ablösen, um … mitzukommen – so viel diktierte ich mir täglich von der Seele herunter … Es sprudelte nur so aus mir heraus … Ab und zu sank ich erschöpft in einen Lehnstuhl und brach in Tränen aus.“ (Lebenserinnerungen, S. 83).

Insgesamt schrieb Frankl nicht weniger als 32 Bücher. Sie zu lesen ist für Laien nicht einfach. Manche Sätze sind vollgepackt mit Fachbegriffen aus der Existenzphilosophie (Kierkegaard u.a.), der Phänomenologie (Scheler u.a.) und der allgemeinen Wissenschaftstheorie. Damit schafft er aber eine Diskussionsbasis für die Wissenschaftler seiner Zeit, denen er mit seinen philosophischen Überlegungen eine Brücke baut, die sich bei Tournier in dieser differenzierten Form nicht findet.

Von den Werten her ist die Würde des Menschen, seine Einzigartigkeit, sein individuelles Erleben für ihn die Grundlage seines Menschenbildes, ohne dass er explizit religiöse Überlegungen einfliessen lassen würde (allerdings kommen die Begriffe Gott, Seele, Gewissen etc. bei ihm vor – nicht selten braucht er biblische Beispiele in seinen Texten). Später reflektiert er seine Haltung zur Religion noch expliziter, etwa in dem Buch „Der unbewusste Gott“ (1974/2012) oder zusammen mit dem Theologen Pinchas Lapide: „Gottsuche und Sinnfrage“ (2005).

Gerade aus dieser Kraft heraus kann der Mensch auch in schwersten Situationen einen Sinn finden, sich erkämpfen: „Denn das Leben erweist sich grundsätzlich auch dann noch als sinnvoll, wenn es weder schöpferisch fruchtbar noch reich an Erleben ist.“ Es kommt darauf an, „wie der Mensch zu einer Einschränkung seines Lebens sich einstellt.“ Es „eröffnet sich ein neues, eigenes Reich von Werten, die sicherlich sogar zu den höchsten gehören.“ (S. 92) „Es geht um Haltungen wie Tapferkeit im Leiden, Würde auch noch im Untergang und im Scheitern.“

Hinordnung der Person auf Sinn und Werte

„Derselbe Instinkt, der den Menschen zu seinen eigensten Lebensaufgaben hinführt, leitet ihn auch bei der Beantwortung der Lebensfragen, in der Verantwortung seines Lebens. Dieser Instinkt ist das Gewissen. Das Gewissen hat seine „Stimme“ und „spricht“ zu uns – ein unleugbarer phänomenaler Tatbestand. Das Sprechen des Gewissens ist jedoch jeweils ein Antworten. Hier erweist sich der religiöse Mensch psychologisch gesehen als einer, der zum Gesprochenen den Sprecher hinzu erlebt, also gleichsam hellhöriger ist als der Nichtreligiöse. In der Zwiesprache mit seinem Gewissen – in diesem intimsten Selbstgespräch, das es gibt – ist ihm Gott der Partner.“ (S. 107)

In den Gesprächen mit seinen Patienten hatte Frankl ein grosses Ziel: Die „Hinordnung der Person auf die Welt des Sinnes und der Werte“. Detailliert besprach er mit ihnen ihre Lebensnöte. Er psychologisierte nicht, würdigte das individuelle Erleben und versuchte dann im Dialog Wege zu finden, wie diese Menschen ihr Leben gestalten könnten, in all seiner existenziellen Einschränkung, seinen Verlusten und den Herausforderungen, vor denen man am liebsten flüchten würde. In der Praxis geht die Logotherapie auf eine Konfrontation der Existenz mit dem Logos, mit dem Sinn aus. Ja es sei das wesentliche Merkmal des Menschseins, in diesem „polaren Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen zu stehen, im Angesicht von Sinn und Werten, von ihnen angefordert zu werden.“ (108) Seinen therapeutischen Ansatz bezeichnete er als Logotherapie und Existenzanalyse, die später dann von Alfried Längle (Längle & Holzhey-Kunz, 2008) zur „Personalen Existenzanalyse“ weiterentwickelt wurde.

Dabei war es ihm ein Anliegen, seinen Patienten nicht einfach seine Sichtweise aufzudrängen – eine wichtige ethische Voraussetzung in der Psychotherapie und Seelsorge. „Die Idee eines Willens zum Sinn darf nicht im Sinne eines Appells an den Willen missdeutet werden. Glaube, Liebe, Hoffnung lassen sich nicht manipulieren und fabrizieren. Niemand kann sie befehlen. Selbst dem Zugriff des eigenen Willens entziehen sie sich. Ich kann nicht glauben wollen, ich kann nicht lieben wollen, ich kann nicht hoffen wollen … An den Willen zum Sinn zu appellieren heisst vielmehr den Sinn selbst aufleuchten lassen – und es dem Willen überlassen, ihn zu wollen“ (S. 112).

Literatur

  • Frankl V.E. (1940/2011). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und der Existenzanalyse. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
  • Frankl V.E. (1977/2012). Trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. 4. Auflage. München: Kösel.
  • Frankl V.E. (1975/2005). Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Bern: Huber.
  • Frankl V.E. und Lapide P. (2005). Gottsuche und Sinnfrage. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Frankl V.E. (1974/2012). Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion. 11. Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
  • Frankl V.E. (1995/2013). Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen. 5. Auflage. Weinheim: Beltz.
  • Längle A. und Holzhey-Kunz A. (2008). Existenzanalyse und Daseinsanalyse. Wien: FacultasWUV.

Erschienen in:

P&S, 2/2014, Prävention, S. 56-59.

Von

  • Samuel Pfeifer

    ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Schweiz und hat Medizin, Psychologie und Theologie studiert.

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