Meta-Anthropologie der Geschlechter

Philosophische Überlegungen zur Zweigeschlechtlichkeit des Menschen

Peter Henrici

In der ersten philosophischen Schrift über die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, die jahrhundertelang die einzige geblieben ist, in Platons Symposium, spielt eine Frau, Diotima, die Hauptrolle. Sie ist es, die Sokrates die höchste metaphysische Offenbarung zuteil werden lässt. Das ist kein Zufall. Auch in Dantes Divina Comedia führt eine Frau, Beatrice (die „Beseligende“), den Dichter in den Himmel. Näher bei uns, in Paul Claudels kosmisch-religiösem Drama, dem Soulier de Satin, spielt wiederum eine Frau, Doña Proëza, die Hauptrolle. Das ist nicht nur eine Hommage an Goethes „Ewig-Weibliches“, das uns „hinan zieht“. Das Zueinander in Verschiedenheit der beiden Geschlechter eröffnet dem Menschen einen Zugang zur Transzendenz.

Die Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen wurde in der Philosophie bisher wenig bedacht. Man hat die Geschlechterdifferenz als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, über die sich ein weiteres Nachdenken gar nicht lohnt. Sie findet sich ja fast überall in der Natur und ihr Zweck ist leicht einsichtig. Sie dient der Fortpflanzung und die Zweigeschlechtlichkeit soll jeweils neue Kombinationen von Erbgut zustande bringen.1 Doch beim Menschen kann der Sinn der Zweigeschlechtlichkeit nicht auf ihre Funktion bei der Fortpflanzung reduziert werden. Der Mensch ist sich als einziges Naturwesen seiner Zweigeschlechtlichkeit bewusst; er hat ein Wissen auch über das andere Geschlecht, das er nicht ist und nicht sein kann. Jedes menschliche Individuum, jede menschliche Person wird früher oder später erkennen, dass er oder sie nur eine der beiden grundlegenden Varianten des Menschseins besitzt und dass die andere für ihn oder sie für immer unerreichbar bleibt. Das weckt ein Erstaunen, und das Staunen sollte ja ein Ausgangspunkt der Philosophie sein. Das philosophische Denken steigt jedoch selten zu solch konkreten Einsichten hinab, weil es lieber im Abstrakten bleibt. Und doch zeigt sich das Sein in allen seinen Möglichkeiten erst im ganz Konkreten.

1. Die unüberwindliche Begrenztheit der menschlichen Person

Dass der Mensch ein begrenztes, endliches Wesen ist, kann als Binsenwahrheit gelten. Überall erfährt der Mensch seine Grenzen, in seinem Können, in seiner Lebenszeit, in der Unmöglichkeit, zugleich hier und dort zu sein und nicht zuletzt in seiner kulturellen und rassischen Identität. Doch vor und unter all diesen zufälligen Grenzen, die den Menschen wie jedes andere endliche Seiende eingrenzt, liegt eine andersgeartete, unüberschreitbare Grenze, die konstitutiv zum Menschsein, ja zum Personsein gehört. Jede menschliche Person ist Person immer entweder nur als Mann oder nur als Frau. Das ist umso erstaunlicher als die Person als höchste und vollkommenste Form endlichen Seins betrachtet, ja geradezu durch ihre Vollständigkeit und Selbständigkeit definiert wird.2

Die meisten Überlegungen zur Zweigeschlechtlichkeit setzen bei der wechselseitigen Anziehung der Geschlechter ein. Tatsächlich aber greift die Zweiheit der Geschlechter tiefer; sie gehört zum sozusagen metaphysischen (genauer gesagt meta-anthropologischen) Bestand des Menschseins. Alle anderen Grenzen, die ein Mensch erfährt, lassen ein Mehr oder Minder zu; sie sind unter Umständen veränderbar. In der Geschlechtsbestimmung dagegen gibt es kein Mehr oder Minder und keine mögliche Veränderung – außer durch einen künstlichen, gewaltsamen und teilweise fiktiven chirurgischen Eingriff.

Die Bestimmung eines jeden Menschen durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, wird man sagen, ist ebenso unabänderlich wie seine geschlechtliche Zugehörigkeit. Die Rassenmerkmale der Menschen differenzieren sich jedoch in einer fast unübersehbaren Vielfalt aus und sie bleiben in der Weitergabe von Generation zu Generation veränderlich. Die Zweigeschlechtlichkeit zieht sich dagegen mit bemerkenswerter Konstanz durch alle Rassen (ja durch alle Evolutionsstufen) hindurch. Wir können nicht umhin, sie als ein Wesensmerkmal der meta-anthropologisch zu definierenden Menschennatur zu betrachten. Dann aber stehen wir vor dem Paradox, dass die eine Menschennatur unüberwindlich zweigeteilt sein soll, und dass kein einziges menschliches Individuum (theologisch gesprochen: nicht einmal Jesus Christus) diese Natur im Vollsinn repräsentieren kann.

Jede menschliche Person ist wesensnotwendig entweder nur männliche Person oder nur weibliche Person. Durch dieses Entweder-Oder ist die menschliche Natur, oder in der Terminologie aristotelisch-scholastischer Logik die species humana, so beschaffen, dass in ihr die einzelnen Individuen nicht nur im Blick auf die Vielzahl anderer möglicher Individuen begrenzt sind, sondern immer auch wesensmäßig durch die grundsätzlich andere Möglichkeit des Menschseins. In diesem Sinne wäre auch die immer wieder angerufene Gleichheit von Mann und Frau in Personwürde und Gottebenbildlichkeit zu nuancieren. Die eine und gleiche personelle und religiöse Würde stellt sich geschlechtsbedingt in Mann und Frau auf je andere Weise dar.

Es hat somit einen tiefen Sinn, dass die Genesis die Gottebenbildlichkeit des Menschen erst im Zusammen von Mann und Frau sieht (Gen 1,27). Gewiss, der Text hat zunächst die Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen im Auge, durch die er der Schöpferkraft Gottes am ähnlichsten zu sein scheint und die nur im Zusammen von Mann und Frau gegeben ist. In einem weiteren Sinn aber wird gesagt, dass die volle Gottähnlichkeit des Menschen erst in beiden Geschlechtern zugleich gegeben ist, nicht in nur einem von ihnen; denn was Menschsein bedeutet, wird erst aus beiden Geschlechtern zugleich ersichtlich. Müssen wir daraus schließen, dass jede menschliche Person nur „teilweise Mensch“ ist?

2. Die Differenz der Geschlechter als Öffnung zum „Anderen“

Auf dem Weg zur Vollentfaltung seines Personseins muss ein Kind auch, und vielleicht sogar an erster Stelle, seine geschlechtliche Identi­tät als Junge oder Mädchen entdecken. Es entdeckt sie in seiner Unterscheidung von den „Anderen“: dass es als Junge nicht Mädchen und als Mäd­chen nicht Junge ist. Diese Differenz wird ihm zuerst von außen her, gesellschaftlich-konventionell (Kleidung, Verhalten…) nahegebracht, lange bevor die sexuellen Unterschiede für es relevant zu werden beginnen. Die in sein Fleisch eingeschriebenen Unterschiede lassen dann die Geschlechtsdifferenz nach und nach immer unüberwindlicher erscheinen, unüberwindlicher noch als die zunächst ins Auge fallenden Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen. Schließlich werden die Kinder selbst einmal erwachsen sein, aber die Jungen können nicht Mütter und die Mädchen nicht Väter werden. Noch später wird das Hingezogensein zum andern Geschlecht (oder, tragischerweise, sein Fehlen) das Leben eines Menschen weit­gehend bestimmen.

Die Begrenzung des Menschen durch das „Entweder-Oder“ von Mann und Frau weist folglich eine Eigenheit auf, durch die sie sich von den anderen menschlichen Grenzen unterscheidet. Die geschlechtliche Begrenzung ergibt sich zu allererst aus der Existenz des jeweils anderen, andersgearteten Geschlechtes, und sie wird auch erst daraus erkannt. Das aber heißt, dass jede menschliche Person kraft ihrer geschlechtlichen Identität unübersehbar über sich hinaus verwiesen ist; denn ihre volle Identität wird erst durch den Verweis auf das andere Geschlecht konstituiert. Sobald ihr ihre geschlechtliche Identität bewusst wird, sieht sich jede menschliche Person mit einer Art Transzendenz konfrontiert. Sie ist gezwungen, über sich selbst hinaus zu denken und ein unerreichbar Anderes als solches anzuerkennen. Hier liegt wohl der grundlegende philosophische bzw. meta-anthropologische Sinn der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit.

Jede menschliche Person hat, bewusst oder unbewusst, im anderen Geschlecht immer das Andere ihrer selbst vor Augen. Dieses Andere ist ihr ebenso unerreichbar wie wesensverwandt, erstrebenswert und nie voll verstehbar. Das Erleben der Zweigeschlechtlichkeit wird so zum Urbild aller Transzendenzerfahrung. Trans­zendenz besagt einen unlösbaren Bezug in absoluter Unerreichbarkeit. „Absolument impossible et absolument nécessaire à l’homme“ so hat Maurice Blondel das Transzendente beschrieben.3 Auf der Erfahrungsebene zeigt sich eine solche Unerreichbarkeit trotz innigster Bezogenheit in erster Linie in der Beziehung zu einem anderen Menschen, zu einem unerreichbaren, mir immer gegenüberstehenden Du, und das, obwohl ich mir selbst meines Ich-Seins erst vom Anspruch dieses Du her voll bewusst werde. Dass Du auch für mein Erkennen und Verstehen im letzten immer unerreichbar bleiben wirst, wird unterstrichen und festgemacht, wenn Du dem andern Geschlecht angehörst.

Von daher wird verständlich, weshalb die Bibel die Beziehung zwischen Mann und Frau gerne als Metapher für die Beziehung zwischen Gott und Mensch braucht. Nicht weil Gott männlich und der Mensch weiblich wäre, sondern weil die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen am deutlichsten eine unüberwindbare Andersheit im engsten Bezogensein markiert. Von hier aus ist auch zu verstehen, weshalb Paulus im Römerbrief die antike Neigung zur Homosexualität mit der Gottvergessenheit des antiken Menschen in Verbindung bringt.4 In beiden Fällen stellt er eine Art Transzendenzdefizit fest, mangelnde Anerkenntnis des Anderen als Anderen.

Positiv gewendet bringt die aufbrechende Liebe zu einer Person des anderen Geschlechts erfahrungsgemäß oft eine weitere Öffnung auf Tranzendenz hin mit sich, eine metaphysische Erfahrung. Ausdrücklich reflektiert wird dieses Hingezogensein zu einer/einem unüberwindlich Anderen zwar nicht, sonst wäre die Spontaneität der Liebe dahin. Doch je weiter sich die Liebesgeschichte entwickelt, umso schmerzlicher wird wohl auch das unerreichbar Andere der jeweils anderen Person bewusst, zugleich mit der immer engeren Bindung an sie. „Nec cum te, nec sine te.“ Für religiöse Menschen kann diese Erfahrung zum Urbild ihrer Beziehung zu Gott werden. Die Sprache der christlichen Mystik ist ein Beispiel dafür.

3. Die Zweigeschlechtlichkeit als Urbild der Analogie

Die Überlegungen zur Zweigeschlechtlichkeit lassen sich philosophisch noch weiter vertiefen. Als nächstes drängt sich die Frage auf, wie denn die unüberbrückbare Differenz zweier Geschlechter innerhalb der einen Spezies Mensch begrifflich gefasst werden könnte. Verschiedene Vorschläge wurden gemacht.

Wer die Differenz von Mann und Frau in erster Linie biologisch und im Blick auf die Zeugungsfunktion hin sieht, betrachtet die beiden Geschlechter als komplementär. Zweifellos ergänzen sie sich in mancherlei Hinsicht, nicht nur in ihrer Funktion für die menschliche Fortpflanzung. Und doch: Wenn sich die beiden Geschlechter nur komplementär ergänzten, dann wären erst Mann und Frau zusammen im vollen Sinne Mensch; jede Person für sich würde nur jeweils die Hälfte des Menschseins verwirklichen. Aristophanes stellt das in Platons Symposium so dar, und seine mehr humorvollen als ernstgemeinten Ausführungen leben noch heute fort in der Redensart von der „besseren Hälfte“. Der autonomen, in sich selbst vollendeten menschlichen Person wird der Begriff der Komplementarität jedoch keineswegs gerecht.

Nicht besser steht es mit dem Begriff der Polarität, mit dem man das Verhältnis der Geschlechter auf der geistigen Ebene definieren will. Polarität besagt einerseits, dass jeder der beiden Pole auf den anderen ausgerichtet ist, und darüber hinaus, dass sich die beiden Pole überhaupt erst durch diese Ausrichtung als Pole definieren. Würde man sie ohne diese Ausrichtung als in sich ruhend und vollständig konstituiert betrachten, dann wäre auch nicht mehr von Polarität zu reden. Auf die menschliche Zweigeschlechtlichkeit angewendet würde Polarität deshalb besagen, dass sich der Mann erst durch seinen Bezug auf die Frau voll als Mann definiert und die Frau erst durch ihren Bezug auf den Mann voll als Frau. Doch dies widerspricht nicht nur dem Selbstverständnis von Mann und Frau, sondern bringt wiederum auch die Autonomie und die Vollendetheit der menschlichen Person nicht genügend zum Ausdruck.

Darüber hinaus verleitet der Begriff der Polarität dazu, zwischen einem primären Pol und einem sekundären Pol zu unterscheiden. Im ersten Korintherbrief scheint Paulus zu einer solchen Auffassung zu neigen.5 Er stützt sich dafür auf den zweiten Schöpfungsbericht,6 der jedoch eher eine umfassende Komplementarität von Frau und Mann unterstreichen will. Paulus selbst korrigiert seine Aussage, indem er sogleich beifügt, dass sie in christlicher Sicht so nicht mehr stimmt: „Doch im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau. Denn wie die Frau vom Mann stammt, so kommt der Mann durch die Frau zur Welt.“7

Hier wird die Komplementarität durch den Verweis auf eine Reziprozität im Fortpflanzungsvorgang ergänzt, an den Paulus offenbar vor allem denkt. Mann und Frau als Personen sind jedoch mehr als Zeugungswesen, und es ist dieses personale Zueinander in Verschiedenheit, das in erster Linie begrifflich gefasst werden müsste.

Wenn wir in einer ersten Annäherung sagen, dass der Mann schon für sich allein ganz Mensch und menschliche Person ist und die Frau ebenso, dass sie es jedoch je auf ihre eigene, geschlechtsspezifische Weise sind, dann ist mit dieser Problemstellung auch schon der Hinweis auf eine mögliche Antwort gegeben. Wir werden sagen müssen, dass die beiden Geschlechter, als menschliche Personen, in einer Art Analogie zueinander stehen. Der für den Philosophen geläufige Begriff der Analogie besagt Ähnlichkeit in Unähnlichkeit, und er ist in erster Linie auf das voll konstituierte Seiende anzuwenden (analogia entis). Im Fall der menschlichen Geschlechter würde es sich um eine sogenannte Verhältnis­analogie (analogia proportionalitatis) handeln: Wie der Mann sich zu seinem Menschsein verhält, so ähnlich (aber nicht gleich) verhält sich die Frau zu dem ihren.

Die Anwendung dieser aristotelisch-scholastischen Begriffe auf die menschliche Zweigeschlechtlichkeit wird bei eingefleischten Aristotelikern auf Widerstand stoßen. Sie werden darauf beharren, dass es innerhalb der gleichen Spezies, der Spezies „Mensch“, nur univoke, begrifflich als absolut gleich aufzufassende Individuen gibt. Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, werden sie sagen, ist in genau gleicher Weise Mensch und Person. Erst daraus leite sich auch die volle Gleichheit von Mann und Frau in ihrem Personsein und in ihrer Menschenwürde ab.

Das ist zwar logisch sauber, entspricht jedoch nicht der erfahrenen, unüberbrückbaren Ge­schlechterdifferenz. Zuzugeben ist, dass die Analogie zwischen Mann und Frau wesentlich anders aufzufassen ist als der „Urfall“ der Seins­analogie zwischen Gott und Geschöpf. Von „je größerer Unähnlichkeit“8 kann zwischen Mann und Frau keine Rede sein; man müsste geradezu umgekehrt von je größerer Ähnlichkeit in aller Unähnlichkeit sprechen. Im Geschlechterverhältnis kann es auch kein „analogatum princeps“ geben, kein Erstgegebenes, in Bezug worauf das Andere zu definieren ist. Weder Mann noch Frau sind der „Urfall“ des Menschseins, vielmehr herrscht zwischen ihnen eine vollkommene Umkehrbarkeit der Aussagen und der Seinsverhältnisse.

So präzisiert scheint die Analogie jedoch ein geeignetes sprachlichbegriffliches Werkzeug zu sein, um von der rational nicht auflösbaren Tatsache der unrückführbaren Verschiedenheit der Geschlechter zu sprechen. Es gehört ja zum Wesen analoger Verhältnisse, dass sie sich weiter nicht auflösen und auf schlicht univoke Aussagen rückführen lassen. Näher betrachtet scheint die Analogie sogar die einzige Möglichkeit zu bieten, um ohne Verkürzung von der Einheit in Verschiedenheit und der Verschiedenheit in Einheit der beiden menschlichen Geschlechter zu sprechen. Genau gesagt, müsste ja jede das Mensch- und Personsein betreffende Aussage lauten: So ähnlich, wie ich als Mann Mensch und Person bin und mein Menschsein erlebe, so ähnlich (in Unähnlichkeit) ist auch die Frau Mensch und Person und erlebt sich als solche.

Die Beachtung der Analogie könnte einerseits eine oberflächliche Gleichmacherei von Mann und Frau verhindern; sie verhindert aber auch, dass von zwei grundsätzlich verschiedenen, inkommunikablen Erlebniswelten zu sprechen ist. Wenn man von da aus weiterdenkt, wird man bald darauf stoßen, dass letztlich alles menschliche Erleben und Erfahren unter dem Gesetz der Analogie, des „so ähnlich“ steht.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei weitreichende Folgerungen. Zum einen ist zu folgern, dass nicht die Univozität, die Eindeutigkeit, der Normalfall im menschlichen Erleben, Sprechen und Denken ist, sondern die Analogie, die Ähnlichkeit in Unähnlichkeit. Univoke Begriffe werden erst durch Abstraktion gewonnen, und zwar durch Abstraktion im oberflächlich-empirischen Sinn: durch Weglassen oder Nicht­beachten wichtiger Unterschiede. Zum andern wäre aus dem Vorstehenden zu folgern, dass sich die Denkform Analogie und ein durchgängig von Analogie geprägtes Weltverständnis genetisch allererst aus dem Erleben und der Erfahrung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen ergibt. Der Stellenwert der Zweigeschlechtlichkeit für die Ontologie, ja für die Metaphysik, kann deshalb kaum hoch genug veranschlagt werden.

4. Vater und Mutter – ein heilsgeschichtlicher Ausblick

Den vielleicht wichtigsten Aspekt der Zwei­geschlechtlichkeit haben wir bisher außer acht gelassen: Jedes menschliche Kind hat notwendigerweise zwei Eltern, Mutter und Vater, und im Normalfall erlebt es seine grundlegende Beziehung zu zwei Personen auch. Das heißt – auch wenn wir nicht auf die typisch verschiedene Gestaltung der beiden Beziehungen achten – dass es von vorneherein auf zwei primäre Bezugspersonen ausgerichtet ist; dass es also nicht nur in einer einzigen, einsamen und ausschließlichen Ich-Du-Beziehung lebt, sondern von vorneherein auf eine gewisse Offenheit und Pluralität seiner Beziehungen angelegt ist. Diese Fähigkeit zu pluraler, aber nicht anonymer Beziehung wird sich später auf Geschwister und Altersgenossen hin ausweiten und führt schließlich zum menschlichen Sein-in-Gemeinschaft und in Gesellschaft, das alles andere ist (und sein soll) als ein weitgehend anonymes Herdendasein. Auch hier ist die anthropogenetische Bedeutung der Zweigeschlechtlichkeit kaum zu unterschätzen – und man kann sich nur wundern, dass die Frage nach dem Elternpaar des „ersten Menschen“ in der Evolutionstheorie nicht energischer angegangen wird.

Von der Zweielternschaft aus eröffnet sich, unvermeidlich, ein heilsgeschichtlicher Ausblick. Die bisherigen Überlegungen waren philosophischer Art; Bibeltexte wurden nur selten und zur Illustration beigezogen. Am Ende dieser Überlegungen aber wird es unvermeidlich, einen Blick auf ihre theologische Relevanz zu werfen. Die unumgängliche Zweiheit von Vater und Mutter für die Zeugung eines Kindes weckt für den Christen eine christologische Assoziation. Erst durch diese Zweiheit wird es möglich, dass ein Mensch zwar eine menschliche Mutter hat, und dadurch in der Erbfolge des Menschengeschlechts steht, aber auch eine einmalige sozusagen „genetische“ Beziehung zu Gott als seinem Vater. Die Ermöglichung der Inkarnation ist, theologisch gesehen, offenbar der letzte Sinn der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit. Für Jesus Chris­tus, so folgern wir weiter, hat sich die allgemein menschliche Doppelbeziehung zu Mutter und Vater zu einer Doppelbeziehung zum Menschengeschlecht und zu Gott selbst ausgeweitet – und er überspannt somit in seiner menschlichen Existenz einen unüberbrückbaren Abgrund. Das wäre menschlich schlechthin undenkbar, wäre in der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit nicht immer schon ein Transzendenzbezug grundgelegt.

So können wir nun rückschließend schöpfungstheologisch sagen, dass das Menschen­geschlecht nicht nur deshalb in unrückführbarer Zweigeschlechtlichkeit geschaffen wurde, dass eine Inkarnation des Sohnes Gottes überhaupt erst möglich würde, sondern dass darüber hinaus jede menschliche Person dank ihrer überschreitbaren geschlechtlichen Identität für ein religiöses Verhältnis zu Gott disponiert würde, in entfernter, aber echter Ähnlichkeit (Analogie!) mit dem Gottesverhältnis des Gottessohnes. Das kann für mindestens drei von den vier bisher genannten Bezügen gelten: Für die Abhängigkeit des Menschen von zwei verschiedenen Eltern,9 für seine unumgehbare Ausrichtung auf Transzendenz und auf die Erkenntnis analoger Verhältnisse, welche ihm einen Zugang zur Gotteserkenntnis und zur Gottesrede eröffnen. Die zuerst sich nahelegende, spezifisch menschliche Erkenntnis der eigenen geschlechtlichen Begrenztheit wird dagegen vom Sohn Gottes nur in analoger Weise ausgesagt werden können: dass auch er, der unbegrenzte Gott, sich in seiner Menschennatur wie alle anderen Menschen als begrenzt erfahren hat. So könnten die befremdenden Aussagen verstanden werden, in denen Jesus seinen Abstand vom Vater betont.

Auf diesen wenigen Seiten konnten auf dem weiten Feld der menschlichen Geschlechtlichkeit nur ein paar Umrisse markiert werden. Sie möchten anzeigen, wo eine tiefere denkerische Erforschung noch manche philosophische und theologische Schätze zutage fördern könnte.

Anmerkungen

1 Selbst im Historischen Wörterbuch der Philoso­phie werden die zwei Geschlechter, trotz der Gender­diskussion, nur biologisch, von der Zeugungsfunktion her, begründet und eingeordnet.

2 Die Definition des Boethius „rationalis naturae individua substantia“ wird von Thomas noch schärfer gefasst als „distinctum subsistens in natura rationali“ und zur gängigen scholastischen Definition als „suppositum rationale“, „d.h. sie ist eine geistige Vollsubstanz, die den letzten Selbstand (hypóstasis = suppositum) in sich selbst besitzt“ (E. Coreth, Was ist der Mensch? Innsbruck 1973, 165f).

3 L’Action (1893), p. 388. Was Blondel hier als „surnaturel“ bezeichnet, ist auf dieser Reflexionsstufe erst das Transzendente als solches.

4 Röm 1,21-27.

5 1 Kor 11,3-9.

6 Gen 2,21-24.

7 ebd. 11,11-12.

8 Lateranum IV analogia.

9 Die tiefsinnigen Überlegungen Hans Urs von Balthasars über die Bedeutung der Kind-Mutter-Beziehung für das Gottesverhältnis (Herrlichkeit 3/1. Im Raum der Metaphysik, Einsiedeln 1965, S. 945-947) müssten durch entsprechende, schwierigere über das Kind-Vater-Verhältnis ergänzt und vielleicht modifiziert werden.

Von

  • Peter Henrici

    Prof. em. Dr. phil., lic. theol., Jahrgang 1928, Mitherausgeber der Zeitschrift Communio. Bis zu seiner Berufung zum Weihbischof und Generalvikar des Bistums Chur in Zürich lehrte er Neuere Philosophiegeschichte an der Päpstlichen Universität Gregoriana, deren Honorarprofessor er heute ist.

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