Moderne Opferrhetorik - über die Instrumentalisierung eines Begriffs

Sehr geehrte, liebe Freunde

Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit der modernen Opfer­rhetorik und einer schleichenden Umdeutung der Sprache. Der Opferbegriff, mit dem wir ganz bestimmte, sehr wertschätzende Assoziationen verbinden, hat sich in den letzten Jahren unmerklich gewandelt in etwas, das mit dem ursprünglichen Begriff nur noch wenig gemeinsam hat.

Das 20. Jahrhundert – und bis heute – ist das Jahrhundert der Opfer geworden. Faschistischem Größenwahn und mehreren Vernichtungskriegen wurden Millionen von Menschen geopfert: in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in den sowjetischen und chinesischen Todeslagern. Oder denken wir an jüngere Ereignisse: Der Völkermord in Ruanda und das brutale Massaker an muslimischen Menschen, vor allem Männern und Jungen, in Srebrenica vor wenigen Jahren. Tagtäglich werden Menschen Opfer wirklicher Gewalt, Sklaverei, Folter, sexueller Gewalt und vieler anderer Gräuel.

Das ist die assoziative Matrix, auf dem das moderne Reden vom Opfer aufbaut, die es aber missbraucht (und damit die realen Opfer instrumentalisiert!), wenn es bei komplexen Beziehungen, Verhältnissen, und Ereignissen sich in der Öffentlichkeit zum reinen Opfer stilisiert: Schuld sind immer die anderen.  

Wie ist die folgende Aussage einer amerikanischen Gender-Feministin einzuschätzen: „Feministisches Bewusstsein ist das Bewusstsein, Opfer zu sein… und dahin zu kommen, sich selbst als Opfer zu sehen“ (kursiv im Original).1  Warum sollte Frausein allgemein und pauschal mit Opfersein gleichgesetzt werden?
Und wie ist das Folgende einzuordnen: Kaum eine Bewegung hat in den letzten Jahren so viel öffentliche und staatliche Anerkennung und Förderung ihres Lebensstils erreicht wie die Homosexuellenbewegung. Dennoch beklagte vor wenigen Tagen anlässlich einer Feier zu 20 Jahren „Autonomes Schwulenreferat“ in der Alten Aula der Universität Marburg der Hauptsprecher, dass homosexuell lebende Menschen heute unter großem Anpassungsdruck stünden: Man solle oder wolle „die leidige Opferrolle“ aufgeben, doch solches Aufgeben schwäche nur die politische Homosexuellenbewegung.2 Die Opferrolle als politisches Instrument?

Menschen, die Opfer realer Misshandlung wurden, entziehen sich meist dem öffentlichen Interesse. Wenn sie ihr Leid in einem therapeutisch geschützten Rahmen ansprechen können, ist das schon eine enorme Leistung. In unserer Gesellschaft dagegen boomt ein Markt öffentlicher, medialer Opfer-Selbstdarstellung. Es scheint zum guten Ton zu gehören, sich als Opfer zu präsentieren.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Menschen und Gruppen sich heute eloquent als Opfer darstellen: Sie sind reines Opfer; eine persönliche Verantwortungsbeteiligung, und sei sie noch so klein, schließen sie kategorisch aus. Ob eine reale Gewalterfahrung in ihrem Leben überhaupt vorkam, ist unwichtig, wichtig ist, dass sie sich als Opfer fühlen. Zu ihrem Auftreten gehört eine verbale Empörungsrhetorik, die das Opfersein zum Zentrum ihrer Entrüstung macht und automatisch eine Solidarisierung der Öffentlichkeit nach sich zieht: Wem es gelingt, sich als Opfer darzustellen, ist von vornherein im Recht.

Die Artikel

Engagiert und geistreich führt der SPIEGEL-Redakteur Jan Fleischhauer im ersten Artikel Die Erfindung des Opfers (ein Buchauszug) in die moderne Opferrhetorik ein. Anhand zahlreicher Beispiele beschreibt er, wie die Opferrolle kultiviert wird und wie sich daraus Kapital schlagen lässt. Und natürlich: Wo es Opfer gibt, muss es auch Täter geben, streng getrennt bitte. Zudem: Der Täter, der einen Einbruch verübt hat, ist nur Opfer seiner Verhältnisse. Täter hingegen ist derjenige, der eine politisch inkorrekte Bemerkung zur Genderideologie macht. Seine Neigungen sind unter Kontrolle zu halten.

In unserer Gesellschaft hat ein Wettbewerb begonnen, so Fleischhauer, in dem jede Gruppe ihre besondere Benachteiligung herauszustel­len versucht. Statt sich auf Verbindendes zu be­sinnen, „werden die Bürger ermuntert, sich über ihr Anderssein zu definieren und das Besondere zu betonen, das sie trennt“. Weil sich unsere Gesellschaft „immer weiter entlang der Grenzlinien konkurrierender Opferclans aufspaltet“, droht sie zu zersplittern; und statt mehr Gleichberechtigung setzen sich neue, weitaus ungerechtere Hierarchien durch.

In seiner Analyse Ohnmacht als Pression – Über Opferrhetorik zeigt der Soziologe Rainer Paris auf, dass es heute nicht mehr entscheidend ist, ob jemand wirklich Gewalt erlebt hat; entscheidend ist, ob er sich als Opfer fühlt und sich als solches darstellen kann. Es hat, so Paris, eine schleichende Umdeutung des Gewalt­begriffs gegeben, der die Verlagerung von objektiven Tatschen zu inneren Gefühlswelten als absolutem und einzigem Maßstab für die Identifikation mit der Opferrolle möglich gemacht hat. Damit werde auch jegliche Macht von vornherein dämonisiert.
In der Unfähigkeit, zwischen Macht und Gewalt, zwischen tatsächlichem und vermeintlichem Missbrauch zu unterscheiden, sieht Paris einen Schlüssel zum Verständnis des gewandelten Umgangs mit dem Opferbegriff. Er prangert die selbstgerechten Opferdiskurse an, die trotz komplexer Beziehungen und Verhältnisse Menschen kategorisch den Opfern oder Tätern zuordnen und die Schuld immer allein beim anderen sehen. Gerade Schuldeinsicht könne Merkmal persönlicher Reife sein, während Selbstgerechtigkeit dazu führe, dass Opferdiskurse zu Täterdiskursen mutieren.

In Tätermoral und Opferdenken gibt Ralph Pechmann, OJC, einen Einblick in den Denkansatz des Kulturanthropologen René Girard. Er stellt dessen zentrale Thesen zum Opfermotiv in verschiedenen Kulten und Kulturen vor und schlägt den Bogen zur Überhöhung des Opfer­begriffs in den postmodernen Genderdebatten. Nur vordergründig sind diese, so Pechmann, dem Humanismus verpflichtet. In Wirklichkeit wendet sich ihre umfassende Skepsis gegenüber jedem transzendenten Bezug letztlich gegen „den Menschen“ selbst: Identität wird nunmehr als bloße Konstruktion begriffen und der Demontage preisgegeben. Als Opfer empfindet sich, wem die Umdefinierung seines Selbst verwehrt bleibt.

Die beiden letzten Beiträge stammen direkt aus der Feder des Kulturanthropologen und Reli­gionsphilosophen René Girard.
In Die moderne Sorge um die Opfer zeigt Girard auf, warum er diese „Sorge“ als säkularisierte Frucht des Juden- und Christentums sieht. Sie ist eine uns aus unserem religiösen Erbe zugewachsene, unbedingte Aufgabe.
Vor dem Juden- und Christentum forderten die Gesellschaften Solidarität nur in einem eingeschränkten Maß ein, und auch nur innerhalb des eigenen Stammes oder Clans. Erst durch die Ausbreitung des Christentums wurden Mitmenschlichkeit und Mitleid mit dem Bedürftigen universal, entstanden die universalen Menschenrechte und die Idee universaler sozia­ler Gerechtigkeit. Den Anfang machten im Mittelalter die an die Klöster angegliederten Hospitäler. Heute sind die international arbeitenden humanitären Hilfsorganisationen für uns eine Selbstverständlichkeit, auch wenn ihre Wurzeln im Christentum weithin vergessen sind. In den alten Gesellschaften galten die Opfer immer als schuldig und wurden ihrem Schicksal überlassen. Erst das Judentum (Joseph, Hiob) und dann das Christentum (Passion Christi) sensibilisierten Menschen zunehmend für die Tatsache, dass es unschuldige Opfer gibt, denen die Zuwendung zusteht.

Im Artikel Nietzsches zweifaches Erbe gibt Girard einen weiteren Schlüssel für das moderne Opferverständnis. Da die Religion, zumindest im Westen und in der Öffentlichkeit, im Rückzug begriffen ist und es kein Werte-Vakuum geben kann, ist die „Sorge um die Opfer“ das  neue Absolute geworden, unser Religionsersatz. „Die mächtigste antichristliche Bewegung ist jene, die sich die Sorge um die Opfer zu eigen macht und sie radikalisiert, um sie zu paganisieren.“
Was meint Girard damit?
Im Christentum ist die Passion Jesu Inbegriff des zu Unrecht leidenden Unschuldigen; Jesus Christus ist das einzigartige, absolute Opfer, das in keiner Weise von der Schuld der Täter infiziert ist. Seine Integrität hält allen Menschen einen strengen aber heilsamen Spiegel vor. Dagegen gilt im Paganismus unserer Tage: Das absolute Opfer ist der Mensch. Weil er sein Glück in der „grenzenlosen Erfüllung aller Begehren“ sieht, fühlt er sich durch jede gegebene, objektive Norm „unterdrückt“. Durch eine (heimliche) Umdeutung des Gewalt- und Opferbegriffs und weil jede Unterscheidungsfähigkeit verlorengegangen ist, wird der biblische Maßstab von Integrität (die Zehn Gebote) als unzumutbare Einschränkung, als „Gewalt“  gegen das autonome und „freie“ Individuum angesehen: „Der Neopaganismus will die Zehn Gebote und die gesamte jüdisch-christliche Moral als inakzeptable Gewalt erscheinen lassen, und ihre Abschaffung ist sein erstes Ziel.“ Doch wozu führt das: „Was die Radikalisierung der gegenwärtigen ‚Viktimologie’ in Wirklichkeit leistet, ist die effektive Rückkehr zu heidnischen Gewohnheiten aller Art: Abtreibung, Euthanasie, sexuelle Entdifferenzierung…“

Ausblick

Damit sind wir in der Gegenwart angelangt: Die Gendertheorien lehnen die Begrenzung des Menschen auf nur ein Geschlecht, nur Frau oder Mann, ab. Geschlecht soll frei wählbar und jederzeit wechselbar sein, alles andere wird als unzumutbare Einschränkung angesehen. Weil der Staat die Eintragung als „männlich“ oder „weiblich“ in den Geburtsregistern verlangt, gilt er als repressiv.

An Ehe und Familie als Leitkultur festzuhalten und daran, dass Ehe nur die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau ist und Familie nur die aus solcher Ehe folgende Gemeinschaft, gilt dem sich als absolut autonom verstehenden Individuum ebenfalls als unzumutbare Einschränkung. Sämtliche sexuelle Lebensformen sollen rechtlich gleichgestellt werden. Die „Grüne Jugend“, Nachwuchsorganisation von Bündnis 90/Die Grünen, hat 2007 beschlossen: „Der Begriff ‚Familie‘ wird bei uns in erneuerter Definition verwendet: Wir verstehen darunter sowohl das klassische Vater-Mutter-Kind-Bild, als auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit oder ohne Kind, polygame Lebensgemeinschaften… Auch Geschwister, die sich lieben, sollen Familienverträge abschließen und Kinder bekommen können.“3  

Unterscheiden wird heute schnell mit „diskriminieren“ gleichgesetzt. Doch wer nicht das Rechte vom Unrechten, das Angemessene vom Unangemessenen, den rechten Gebrauch eines Wortes vom falschen unterscheidet, verliert zuletzt jede Unterscheidungsfähigkeit. Wo Worte wie Opfer, Täter und zahlreiche andere heimlich umgedeutet werden, wird Sprache eingesetzt, um zu verwirren und blind zu machen. Die Umdeutung von Gut und Böse, so C. S. Lewis, zeigt sich zuerst in der Umdeutung der Sprache.
Die Wiedergewinnung der Unterscheidungsfähigkeit ist notwendig.

Wie immer freuen wir uns über Ihre Rückmeldung!

Mit herzlichen Grüßen
Ihre

Dr. Christl Ruth Vonholdt
mit

Ralph Pechmann
und dem ganzen DIJG-Team

(abgeschlossen am 26.11.2009)

Dr. med. Christl Ruth Vonholdt

Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Leiterin des Deutschen Instituts für Jugend und Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Identität, Identitätsentwicklung, Bindungstheorien, Sexualität, Auseinandersetzung mit den Gender-Theorien, christliche Anthropologie.

Anmerkungen

1  Bartky, Sandra L., Femininity and Domination: Study in the Phenomenology of Oppression, New York 1990, S. 15, zit. nach Hoff  Sommers, Christina, Who Stole Feminism, New York 1994,  S. 42.

www.uni-marburg.de/aktuelles/news/2009b/1123a Zugriff 26.11.2009.

3  „gemeinsam frei leben“, Beschluss von „Grüne Jugend“ über den Leitantrag zum Thema Gesellschaft und Familie, Würzburg 19.11.2007, www.gruene-jugend.de/beschluesse/verband/395818.html, Zugriff 26.11.2009).

Von

  • Christl Ruth Vonholdt

    Dr. med., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, frühere Leiterin des Deutschen Instituts für Jugend und Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Identität, Identitätsentwicklung, Bindungstheorien, Sexualität, Auseinandersetzung mit den Gender-Theorien und christliche Anthropologie.

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