Kinder brauchen Wurzeln - Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Hirnentwicklung

Gerald Hüther

Kein anderes Lebewesen kommt mit einem derart offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung formbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch.

Nirgendwo im Tierreich sind die Nachkommen beim Erlernen dessen, was für ihr Überleben wichtig ist, so sehr und über einen vergleichbar langen Zeitraum auf Fürsorge und Schutz, Unterstützung und Lenkung durch die Erwachsenen angewiesen, und bei keiner anderen Art ist die Hirnentwicklung in solch hohem Ausmaß von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz dieser erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie beim Menschen. Da diese Fähigkeiten bei den Erwachsenen, die für die Gestaltung der Entwicklungsbedingungen eines Kindes maßgeblich sind, unterschiedlich gut entwickelt sind, können die genetischen Potenzen zur Ausformung hochkomplexer, vielseitig vernetzter Verschaltungen im Gehirn der betreffenden Kinder nicht immer in vollem Umfang entfaltet werden. Die Auswirkungen suboptimaler Entwicklungsbedingungen werden allerdings meist erst dann sichtbar, wenn die heranwachsenden Kinder Gelegenheit bekommen, ihre emotionale, soziale und intellektuelle Kompetenz unter Beweis zu stellen, z. B. in der Schule.

Sogar bei Ratten ist inzwischen empirisch nachgewiesen worden, daß Defizite in der „Erziehung“ über Generationen weitergegeben werden.1  Der Versuch, diese recht eindeutigen tierexperimentellen Befunde auf den Menschen zu übertragen, stößt gegenwärtig jedoch noch immer auf erhebliche Akzeptanzprobleme. Die Ablehnung kann als Indiz dafür verstanden werden, daß viele die tatsächliche Tragweite der Folgerungen zumindest erahnen, die sich aus derartigen Erkenntnissen ergeben. In der Vergangenheit ließen sich deterministische Vorstellungen einer primär durch genetische Programme gesteuerten Hirnentwicklung wesentlich erfolgreicher verbreiten und im Bewußtsein ganzer Bevölkerungsschichten verankern und sind so zwangsläufig zu tragenden Säulen medizinischer, biologischer, psychologischer und sogar soziologischer Theoriegebäude geworden.2

Auch im Bereich der Erziehungswissenschaften wird nach wie vor von einem erheblichen Einfluß genetisch bedingter „Begabungen“ und „Minderbegabungen“ auf schulische Leistungen ausgegangen. Seinen deutlichen Ausdruck findet diese auch in der Bevölkerung weit verbreitete Auffassung in den Bemühungen um eine frühe Differenzierung der Schüler in weiterführende Schulen mit unterschiedlichen Bildungsangeboten. Für die Schüler bedeutet das, daß die während der Grundschulzeit bestehenden Entwicklungsunterschiede (auch dann, wenn sie keinerlei genetische Ursache haben) noch verstärkt werden. Für die Bildungseinrichtungen bedeutet das, daß sie gezwungen sind, die verschiedenen Schulformen, ihre Lehrinhalte und Lehrmethoden auf die jeweils „mitgebrachten“ Fähigkeiten ihrer Schüler abzustimmen.

Zwangsläufig geraten die Schulen so zunehmend in die Rolle eines Dienstleistungsbetriebs, der bestimmte wissenschaftlich fundierte didaktische und methodische Verfahren einzusetzen und objektiv meßbare und kontrollierbare Leistungen zu erbringen hat.

Für die Eltern hat das die Konsequenz, daß sie immer dann, wenn das „Produkt“ dieser Dienstleistung nicht ihren Erwartungen entspricht, von ihrem „Reklamationsrecht“ Gebrauch machen und die Schule zur Verbesserung ihrer didaktischen und methodischen Verfahren zwingen können.

Was auf diesem Boden optimal gedeihen kann, sind Versorgungsbetriebe für immer neue und immer bessere Unterrichtsmaterialien, sind Verwaltungsbehörden zur Beaufsichtigung und Überwachung der schulischen Dienstleistungsbetriebe, sind Juristen zur Durchsetzung elterlicher Ansprüche gegenüber Schulen und Lehrern und sind nicht zuletzt auch Bildungspolitiker, die alle vier Jahre eine Schulreform beschließen.

Was auf diesem Boden jedoch kaum wachsen kann, sind enge menschliche Beziehungen. Ohne solche Bindungen kann nicht gelingen, was Bildung erreichen will: Die Weitergabe des bisher gesammelten Wissens, der bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Generation – durch dafür besonders ausgebildete und an dieser Aufgabe besonders interessierte Erwachsene – an die jeweils nachfolgende Generation. Wenn Bildung nicht mehr in dieser Weise möglichst allen zugänglich ist, geht der jeweils nachwachsenden Generation auch die Fähigkeit verloren, über ihre „mitgebrachten“ Begrenzungen hinauszuwachsen. Sie bleibt gefangen in den Beschränktheiten der von vorausgegangenen Generationen geschaffenen Verhältnisse und in den Begrenzungen der transgenerational überlieferten Anlagen und Entwicklungsbedingungen.

1. Die nutzungsabhängige Stabilisierung synaptischer Angebote

Keine der Milliarden Nervenzellen „weiß“, wann sie aufhören muß, sich zu teilen, wohin sie anschließend zu migrieren und ihre Fortsätze auszuwachsen hat, mit welchen anderen Nervenzellen sie Verbindung aufnehmen und Synapsen ausbilden soll. Ihr genetisches Programm versetzt sie lediglich in die Lage, sich zu teilen, solange die äußeren Bedingungen (das lokale Mikroenvironment) dafür günstig sind, entlang bestimmter Signalstoffgradienten zu wandern, Fortsätze auszuwachsen, und synaptische Verbindungen herzustellen. Es handelt sich um ein Programm von Optionen, das lediglich festlegt, was unter gewissen Bedingungen möglich ist und was zu geschehen hat, wenn sich diese Gegebenheiten ändern, entweder als zwangsläufige Folge der eigenen Wachstumsdynamik (Gradienten von Nährstoffen, Metaboliten, Signalstoffen, Adhäsionsmolekülen etc.) oder durch äußere Faktoren (sensorische Eingänge, äußere Störungen des inneren Bedingungsgefüges). Jede Veränderung der äußeren Welt, die stark genug ist, um das in der „Innenwelt“ des sich entwickelnden Gehirns herrschende Bedingungsgefüge zu verschieben, kann daher die dort stattfindenden Wachstums- und Differenzierungsprozesse in eine bestimmte (ohne diese Störung nicht oder noch nicht eingeschlagene) Richtung lenken.

Weil das sich entwickelnde Gehirn nicht „weiß“, welche Nervenzellverschaltungen und synaptischen Verbindungen in welcher Weise auszuformen und miteinander zu verknüpfen sind, wird in allen Regionen zunächst ein enormer Überschuß an Nervenzellen, Fortsätzen und Synapsen produziert. Erhalten bleiben im weiteren Verlauf des Reifungsprozesses davon jedoch nur diejenigen Nervenzellen, Fortsätze und Synapsen, die funktionell genutzt, d. h. in größere funktionelle Netzwerke integriert und auf diese Weise stabilisiert werden können.3  Der Rest wird wieder abgebaut (nutzungsabhängige Strukturierung). Dieser Prozeß verläuft in einer charakteristischen zeitlichen Abfolge, wie etwa die Schließung des Neuralrohres von kaudal beginnend (Rückenmark) über Stammhirn, Mittelhirn (Thalamus, Hypothalamus, limbisches System) zum Vorderhirn verläuft. In den älteren Bereichen ist diese nutzungsabhängige Strukturierung zum Zeitpunkt der Geburt weitgehend abgeschlossen, in jüngeren Bereichen sind die wichtigsten Neuronenverbände und Verschaltungsmuster ebenfalls bereits ausgeformt. Die Nervenzellproliferation ist beendet (bis auf ein kleines Areal im Gyrus dentatus des Hippocampus), die entsprechenden Kerngebiete bzw. Zellschichten sind angelegt. In den jüngeren Regionen werden noch lange nach der Geburt intensiv Gliazellen produziert und Myelinscheiden geformt. Vor allem im Cortex sind das Auswachsen von Dendriten und Axonen und die Synapsenbildung noch in vollem Gange. In der jüngsten Hirnregion, dem frontalen Cortex, wird das Maximum der synaptischen Dichte erst im zweiten Lebensjahr erreicht. Wird der sukzessive Ablauf dieser Reifungsprozesse an irgendeiner Stelle gestört, wirkt sich diese Störung auch auf alle nachfolgenden Reifungsschritte in all jenen Regionen aus, die funktionell von dieser Störung affiziert sind.

1.1 Die erfahrungsabhängige Modifikation und Reorganisation synaptischer Verschaltungsmuster

In den jüngeren Bereichen des Gehirns wird der Prozeß der nutzungsabhängigen Strukturierung (Bildung und Elimination überschüssiger synaptischer Verschaltungen) zunehmend durch die individuell vorgefundenen äußeren Nutzungsbedingungen (familiäres und soziales Umfeld, Anregungen, Forderungen, Erziehung und Sozialisation) und den unter diesen Bedingungen jetzt gemachten oder von nahestehenden Bezugspersonen übernommenen Erfahrungen bestimmt. Die strukturelle Verankerung von Erfahrungen ist eng an die Aktivierung emotionaler, limbischer Hirnregionen geknüpft. Zu einer Aktivierung dieser Bereiche kommt es immer dann, wenn etwas Neues, Unerwartetes wahrgenommen wird. Das kann entweder als Bedrohung (Angst) oder als Belohnung (Freude) empfunden werden. Die damit einhergehende Aktivierung limbischer Zentren führt zu einer vermehrten Ausschüttung einer ganzen Reihe von Signalstoffen mit trophischen, neuroplastischen Wirkungen (Transmitter, Mediatoren, Hormone) in den höheren assoziativen kortikalen Regionen. Unter dem Einfluß dieser Signalstoffe (z. B. Katecholamine, Neuropeptide), die die Bildung und Bahnung synaptischer Verschaltungen stimulieren,  kommt es zur Festigung und Stabilisierung insbesondere all jener Nervenzellverschaltungen, die im Verlauf der emotionalen Aktivierung besonders intensiv genutzt werden (strukturelle Verankerung positiver oder negativer Erfahrungen, „emotionales Gedächtnis“ für erfolgreiche oder erfolglose Bewältigungsstrategien4). Offenbar gibt es einen Grad „optimaler“ Stimulation emotionaler Zentren, der die Herausbildung und Stabilisierung hochkomplexer Verschaltungsmuster im Cortex fördert (und dort in der am stärksten vernetzten und durch eigene Erfahrungen am meisten formbare Region, dem präfrontalen und orbifrontalen Cortex der rechten Hemisphäre). Steigt die emotionale Aktivierung weiter an (Angst, Streß), so kommt es zu einer eskalierenden, unspezifischen Erregung in den höheren, assoziativen Bereichen (Verwirrung, Ratlosigkeit). Gebahnt und stabilisiert werden unter diesen Bedingungen die zur Bewältigung dann aktivierten, weniger komplexen, älteren und bereits „bewährten“ Verschaltungen. Wird die Aktivierung der emotionalen Zentren überstark und läßt sie sich nicht durch den Rückgriff auf eine geeignete Bewältigungsstrategie abstellen (langanhaltende, unkontrollierbare Angst- und Stressreaktion), so reagiert das Gehirn mit der Aktivierung einer archaischen, sehr früh angelegten und von tiefer liegenden subcorticalen Bereichen gesteuerten „Notfallreaktion“ (Erstarrung, Hilflosigkeit). Gleichzeitig kommt es zu einer ausgeprägten, langanhaltenden Stimulation der (für die körperliche Bewältigung derartiger Notfälle zuständigen) HPA-Achse. Die damit einhergehende Überflutung des Hirns mit Cortisol begünstigt die Destabilisierung und Regression bereits entstandener und gebahnter neuronaler Verschaltungen in all jenen Bereichen des Gehirns, die eine besonders hohe Dichte an Cortisolrezeptoren aufweisen (Hippocampus, limbischer und präfrontaler Cortex) und die gleichzeitig durch massive exzitatorische Eingänge (Glutamat) überstark erregt werden.5

1.2 Die Bedeutung psychosozialer Entwicklungsbedingungen für die Strukturierung des kindlichen Gehirns

Die notwendige Offenheit des sich entwickelnden Gehirns für strukturierende Einflüsse aus der äußeren Welt hat zwangsläufig zur Folge, daß es auch Einflüssen ausgesetzt werden kann, die die Integrität seiner inneren Struktur und Organisation bedrohen. Die genetischen Programme, die die Ausformung eines  so offenen und daher enorm störbaren Hirns ermöglichen, konnten nur unter der Voraussetzung entstehen und im Genpool des Menschen verankert werden, daß derartige Störungen so gut wie nie vorkamen. Hand in Hand mit der Öffnung der anfangs noch recht starren genetischen Programmierung der Hirnentwicklung mußten im Lauf der Evolution also immer effizientere Mechanismen zum Schutz des sich entwickelnden Hirns vor äußeren Störungen entwickelt werden. Neben den bereits bei den Säugetieren „erfundenen“ Schutz der Nachkommen durch Verlagerung der störanfälligsten Entwicklungsschritte in den Mutterleib, wurden bei den Primaten und insbesondere beim Menschen Sicherheit bietende Bindungen zur entscheidenden Voraussetzung für die Ausbildung lernfähiger, plastischer Gehirne.6

Nichts erzeugt nun soviel unspezifische Erregung im Hirn (und vor allem in den emotionalen Zentren) eines Kleinkindes wie das plötzliche Verschwinden der Mutter. Offenbar ist der Verlust der bis dahin vorhandenen, Sicherheit bietenden Bezugsperson die bedrohlichste und massivste Störung, die das sich entwickelnde Gehirn treffen kann.7 

Wie in Tierversuchen („maternal deprivation“) unnötig oft repliziert, gilt das bereits für Ratten und in noch stärkerem Ausmaß und mit noch nachhaltigeren Folgen für die weitere Hirnentwicklung von Primaten. Das Gehirn dieser bedauernswerten Versuchstiere entwickelt sich unter diesem Mangel an Sicherheit- und Anregung-bietenden Beziehungen nur zu einer notgereiften Kümmerversion dessen, was aus ihm hätte werden können8:

  • Je früher die Trennung erfolgt, desto globaler ist die Retardierung des Gehirns auch noch im erwachsenen Zustand ausgeprägt.

  • Am stärksten wird diejenige Hirnregion betroffen, sie sich zum Zeitpunkt des Verlustes der Mutter in einer sog. „growth spurt“ Phase befindet, in der also besonders komplexe Wachstums- und Differenzierungsprozesse besonders rasch ablaufen.

  • Immer wird nachfolgend auch die Entwicklung derjenigen Strukturen und Subsysteme beeinträchtigt, die sehr spät reifen und deren Komplexitätsgrad vom jeweils erreichten Komplexitätsgrad der bereits entstandenen, älteren Strukturen und Subsysteme abhängig ist (frontaler Cortex, monoaminerge Systeme).

  • Manches läßt sich nach einer solchen Störung später noch aufheben und kompensieren, anderes nicht.

1.3 Die menschliche Entsprechung dieser „maternal deprivation“ ist die frühkindliche Bindungsstörung

Zusammenfassend läßt sich also festhalten: Kinder kommen bereits mit sehr unterschiedlichen Anlagen und Prädispositionen zur Welt. Diese Unterschiede beruhen nur zum Teil auf Unterschieden der genetisch festgeschriebenen Optionen und Potenzen, da diese in Abhängigkeit von den individuell vorgefunden Bedingungen exprimiert werden. Wie groß die von außen getriggerten Unterschiede bereits im Verlauf der pränatalen Phase der Hirnentwicklung sein können, wie unterschiedlich diese frühe Entwicklungsphase selbst bei eineiigen Zwillingen verlaufen kann und welche Folgen diese frühen Unterschiede für die weitere Entwicklung haben können, ist von René Spitz sehr eindringlich am Beispiel der Zwillingsschwestern Cathy und Rosy beschrieben worden.9 Alle weiteren Strukturierungs- und Reifungsprozesse, die nach der Geburt normalerweise stattfinden, sind das Ergebnis der Interaktion zwischen den bis dahin bereits etablierten und stabilisierten Verschaltungen (die die Grundlage der bereits vorhandenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und affektiven Reaktionsmuster bilden) sowie den noch vorhandenen Optionen (den noch mögliche Entwicklungsrichtungen und -geschwindigkeiten) einerseits und den in der äußeren Welt vorgefundenen Nutzungsbedingungen (Anforderungen, Anregungen) andererseits. Diskrepanzen zwischen diesen (inneren) Voraussetzungen und den (äußeren) Erfordernissen führen zur Aktivierung emotionaler Zentren (streß-sensitiver Systeme). Die dabei vermehrt ausgeschütteten neurotrophen Signalstoffe wirken als Trigger für die adaptive Modifikation und Reorganisation der bis dahin bereits etablierten Verschaltungsmuster und ermöglichen so eine Anpassung der inneren Struktur und Organisation des sich entwickelnden Gehirns an die aus Wahrnehmungen aus der Außenwelt abgeleiteten Erfordernisse.10

Das heißt:

  • Ohne Aktivierung dieser emotionalen Zentren können keine neuen Erfahrungen gemacht und hinreichend fest verankert werden.

  • Optimale Bedingungen für die Etablierung und Stabilisierung neuer, komplexerer assoziativer Verschaltungsmuster herrschen immer dann, wenn es zu einer moderaten Aktivierung emotionaler Zentren kommt („Neugier“, „Spiel“).

  • Die stärkere Aktivierung dieser Zentren führt zur präferenziellen Bahnung und Stabilisierung bereits vorhandener, „bewährter“ assoziierter Verschaltungen.

  • Bei überstarker und langanhaltender Aktivierung wächst die Gefahr einer fortschreitenden Destabilisierung und Regression bereits etablierter (aber zur Lösung des Problems ungeeigneter) Verschaltungen.

  • Die wichtigste Ressource zur Bewältigung von Angst und Streß sind Bindungen, die Sicherheit und Orientierung bieten.

2. Die Bedeutung Sicherheit bietender Bindungen für die Hirnentwicklung

Wenn Kinder zur Welt kommen, sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Sie brauchen nicht nur jemanden, der sie wärmt, nährt, sauber hält und sich mit ihnen beschäftigt. Noch wichtiger ist es, daß immer dann, wenn sie Angst haben, jemand da ist, der ihnen beisteht und ihnen zeigt, daß es möglich ist - und später auch, wie es möglich ist -, diese Angst zu überwinden. Wenn ein Kind das Glück hat, jemanden zu finden, der ihm in solchen Situationen regelmäßig hilft und ihm Geborgenheit und Sicherheit bietet, werden alle dabei aktivierten Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt. Auf diese Weise entsteht eine enge Bindung an die primäre(n) Bezugsperson(en).

Viele Eltern wissen das und festigen diese Bindung spielerisch, beispielsweise indem sie sich immer wieder kurzzeitig verstecken, um anschließend, genau dann, wenn das Kind Angst bekommt und nach der Mutter oder dem Vater sucht, wieder aufzutauchen. Wenn Kindern das Gefühl vermittelt wird, daß sie in der Lage sind, die verschwundene Bezugsperson durch eine eigene Reaktion wieder herbeizuholen, wächst ihr Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, bedrohliche Situationen meistern zu können. Auch die dabei aktivierten Verschaltungen werden gebahnt. So entsteht Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigene Kompetenz bei der Bewältigung von Problemen. Im Verlauf der Entwicklung erweitert sich der Kreis Sicherheit bietender Bezugspersonen, und das Kind eignet sich sämtliche Kompetenzen, Grundhaltungen und Verhaltensweisen an, die diese Personen haben und die das Kind als für die Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung und für die Bewältigung von Angst und Streß wichtig bewertet. Je mehr es sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Kompetenzen erweitert und eigene Erfahrungen macht, desto stärker verlieren die frühen Bindungen ihre ursprüngliche Sicherheit bietende Bedeutung. Dramatisch verschärft wird diese Entwicklung während der Pubertät, wenn die dann einsetzende Produktion von Sexualhormonen zu tief greifenden Veränderungen des eigenen Körpers wie auch des bisherigen Denkens, Fühlens und Verhaltens führt. Am Ende dieses Entwicklungsweges ist aus dem anfänglich noch völlig abhängigen Baby ein sich selbst bestimmender, in ein komplexes Netz sozialer Beziehungen eingebundener Mensch geworden.

Leider klappt das nicht immer. Es gibt nicht wenige erwachsene Menschen, denen es nicht gelungen ist oder die nicht genügend Gelegenheit hatten, sich während ihrer Kindheit und Adoleszenz hinreichend viele eigene Kompetenzen anzueignen, vielfältige eigene Erfahrungen zu machen und das für eine autonome Entwicklung erforderliche Selbstvertrauen auszubilden. Sie bleiben entweder in einer abhängigen Beziehung zu ihren primären Bezugspersonen oder suchen sich Partner, mit denen sie diese abhängige Beziehung weiterführen können. Bekommen sie Kinder, so entwickeln sie auch zu diesen eine abhängige und abhängig-machende „Klammerbeziehung”.

Die wichtigste Ursache für die Entstehung früher Bindungsstörungen ist ein Mangel an emotionaler Zuwendung. Es gibt viele Eltern, die noch sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, denen ihre berufliche Karriere ungeheuer wichtig ist, die sich selbst verwirklichen, viel erleben und das Leben genießen wollen. Sie kümmern sich intensiv um ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Wohnungseinrichtung und um die Anschaffung und Zurschaustellung unterschiedlicher Statussymbole. Kinder sind so selbstbezogenen Eltern bei der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele eher hinderlich, und das kindliche Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zuwendung wird ihnen allzu leicht lästig. Meist tun diese Eltern ihre Pflicht, jedenfalls das, was sie für ihre Pflicht halten, und das bisweilen sogar besonders gut. Sie sorgen für eine besonders ausgewogene Ernährung, für Sauberkeit und angemessene hygienische Verhältnisse, ansprechende, modische Kleidung und beschaffen alle möglichen Gerätschaften, von denen sie glauben, sie seien wichtig für ihr Kind. Sie beruhigen ihr (schlechtes) Gewissen, indem sie das Kind nach Kräften verwöhnen. Was ihr Kind aber wirklich braucht, nämlich daß sie ganz und gar da sind, daß sie sich ihm voll und ganz, also emotional, geistig und körperlich zuwenden, wenn es verunsichert ist und Angst hat, das schenken diese Eltern ihren Kinder nicht oder zumindest nicht dann, wenn diese es besonders dringend brauchen. Deshalb sind solche Kinder oft bereits sehr früh gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen.

Bei ihnen ist die emotionale Bindung an primäre Bezugspersonen nur unzureichend entwickelt. Sie sind gezwungen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren. So schaffen sie sich eine eigene, von ihnen selbst bestimmte Lebenswelt und schirmen sich gegenüber fremden Einflüssen und Anregungen ab, die nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. In dieser nur von ihnen selbst bestimmten Welt gibt es keine wirklichen Herausforderungen mehr. Es können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im sich entwickelnden Gehirn verankert werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt.

Für das Lernverhalten der Kinder bedeutet dies einen Rückgang an Motivation, Verstehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine eingeschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten. Ihr Sozialverhalten wird von zunehmendem Rückzug in selbstgeschaffene Welten, Ablehnung fremder Vorstellungen und aggressiver Verteidigung ihrer eigenen Ansichten und Haltungen bestimmt.

Meist handelt es sich hierbei um sehr rigide, einseitige, pseudoautonome Strategien der Angstbewältigung. Die dabei aktivierten neuronalen Verschaltungen werden um so nachhaltiger gebahnt, je früher und je häufiger sie eingesetzt werden. Sie können schließlich das gesamte Fühlen, Denken und Handeln dieser Kinder bestimmen. Die betreffenden Kinder grenzen sich zunehmend von den Vorstellungen anderer, vor allem denen Erwachsener ab. Ihr mangelndes Einfühlungsvermögen behindert sie beim Erwerb vielfältiger sozialer Kompetenzen. Damit fehlt ihnen die Grundvoraussetzung dafür, gemeinsam mit möglichst vielen, unterschiedlichen Menschen nach tragfähigen Lösungen zu suchen und Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können.

Die Auswirkungen früher Bindungsstörungen auf die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sind im späteren Leben nur schwer korrigierbar. Kinder, die keine sicheren Bindungen ausbilden konnten, haben Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe. Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Angst zu überwinden, bleiben sie zeitlebens isoliert, ich-bezogen und bindungsunfähig. Manche haben Glück und finden einen Lehrer oder Erzieher, der sie versteht und ihnen hilft, allmählich wieder Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, das Vertrauen in menschliche Bindungen wiederzuerlangen und sich auf die gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen einzulassen. Manche scheitern irgendwann an den selbstzerstörerischen Folgen ihrer pseudoautonomen Bewältigungsstrategien.11

3. Die Bedeutung Sicherheit bietender Orientierungen für die Hirnentwicklung

Die frühkindlichen Bindungen sind nur der erste Schritt eines langen und komplizierten Sozialisationsprozesses. Im Verlauf dieses Prozesses lernt jedes Kind, sein Gehirn auf eine bestimmte Weise zu benutzen, indem es dazu angehalten, ermutigt oder auch gezwungen wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker zu entwickeln als andere, auf bestimmte Dinge stärker zu achten als auf andere, bestimmte Gefühle eher zuzulassen als andere, also sein Gehirn allmählich so zu einzusetzen, daß es sich damit in der Gemeinschaft zurecht findet, in die es hineinwächst.

Die Hirnregion, in der die dafür zuständigen komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich geformt werden, ist eine, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Es ist diejenige Hirnregion, die in besonderer Weise daran beteiligt ist, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und auf diese Weise von „unten“, aus tiefer liegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozeß strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.

Wie wenig wir über die Bedeutung nutzungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung wissen, wie rasch und wie unerwartet alte, bislang für richtig gehaltene Theorien ins Wanken geraten sind, machen neuere Untersuchungen über die entwicklungsabhängigen strukturellen Veränderungen des menschlichen Gehirns deutlich, die mit bildgebenden Verfahren nachweisbar sind. Bei Kindern von drei bis sechs Jahren kommt es insbesondere in den frontokortikalen Hirnbereichen, die die Planung und Organisation von Handlungen sowie die Konzentrationsfähigkeit auf bestimmte Aufgaben steuern, zu einer deutlichen Volumenzunahme. Bei Jugendlichen von sechs bis zwölf Jahren läßt sich insbesondere eine verstärkte Ausformung und Vergrößerung in solchen kortikalen Regionen nachweisen, die eine besondere Bedeutung für räumliches Vorstellungsvermögen und abstraktes Denken besitzen. Kurz vor der Pubertät kommt es dann zu einer zweiten Phase des Ausbaus neuronaler Verschaltungen im frontalen Kortex, der erneut mit einer meßbaren Volumenzunahme einhergeht. Eine weitere Umstrukturierungsphase beginnt nach der Pubertät. Was während dieser Phase geschieht, wird wesentlich von der Regel „use it, or lose it“ bestimmt.12 

Das alles heißt, daß nicht nur die frühe Kindheit, sondern die gesamte Jugendphase eine entscheidende Entwicklungsperiode darstellt, in der das Gehirn durch die Art seiner Nutzung gewissermaßen „programmiert“ wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängen also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Nutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muß dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden.13

Diese hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tiefer liegenden, sog. subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten werden, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen. Wenn die Eltern alle Probleme beiseite räumen, hindern sie ihre Kinder daran, die Erfahrung machen zu können, daß es möglich ist, Probleme mithilfe anderer (der Eltern) zu lösen. Kinder, denen diese wichtige Erfahrung vorenthalten wird, richten sich nur nach ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Sie bleiben selbstbezogen, trotzig, tyrannisch. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlen ihnen wichtige Ichfunktionen wie Interesse und Aufmerksamkeit an der Lösung solcher Aufgaben. Ihr Selbstbewußtsein ist nur schwach ausgeprägt, ihr Ich ist zu dünnhäutig, überempfindsam und reizoffen. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen sind, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln, sich bestimmten Denkweisen und Handlungsformen anzupassen. Obwohl das Verhalten dieser Kinder äußerlich entwicklungsgerecht erscheinen mag, sind sie oft in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehen geblieben.

In fataler Weise unterstützt wird diese Entwicklung durch alles, was Kinder daran hindert, mit anderen Menschen in eine aktive Interaktion zu treten, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln. So geht es beispielsweise Kindern, die täglich viele Stunden vor einem Fernsehgerät zubringen. Zur Passivität verurteilt, werden sie  mit bunten Bildern, Handlungsfetzen, Aktionsbruchstücken und ständig neuen, emotional erregenden Eindrücken und angstauslösenden Vorstellungen konfrontiert. Auf ihre Fragen bekommen sie keine Antworten, ihre Vorschläge hört niemand, sie können nichts ändern, nichts verhindern und auch nicht helfend eingreifen. Was in ihnen zurückbleibt, ist die Erfahrung, daß es auf ihr eigenes Denken und Handeln nicht ankommt, daß ihre selbständige Suche nach Lösungen nutzlos ist, daß das Geschen abläuft, ohne daß sie selbst darauf Einfluß nehmen können. Solche Kinder können nur schwer das Gefühl eigener Handlungskompetenz, eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Bedeutsamkeit entwickeln. Sie werden allzu leicht zu Konsumenten, die immer nur etwas von anderen haben wollen. Weil sie keine Gelegenheit hatten, sich selbst einzubringen, fehlt ihnen das Gefühl, daß sie anderen etwas geben können. Sie sind und bleiben oft allein, finden keine Freunde, können sich nicht in Beziehungen weiter entwickeln und sind ohne sichere emotionale Bindungen schutzlos ihren Ängsten ausgeliefert.

Unsicherheit und Angst stören die Integration und Organisation komplexer Wahrnehmungen und Reaktionsmuster. Sie zwingen das Kind zu raschen, eindeutigen Entscheidungen und damit zum Rückgriff auf ältere, bereits gebahnte Bewältigungsstrategien. Was unter diesen Bedingungen nicht stattfindet und auch nicht gelingen kann, ist eine über die bereits vorhandenen Möglichkeiten hinausgehende Fortentwicklung der eigenen Fähigkeit zur Integration, Bewertung und Filterung komplexer Wahrnehmungen. Ihre Wahrnehmungen können Kinder nur dann integrieren, wenn diese in einem zusammenhängenden Kontext erlebt werden. Neue Wahrnehmungen müssen an bereits vorhandene Erfahrungen anknüpfbar sein. Ein Zustand, bei dem zu viele Wahrnehmungen ungeordnet auf einen Menschen einprasseln, ist schon für Erwachsene unerträglich, für Kinder erst recht. Er macht Angst und setzt gewissermaßen all das außer Kraft, was normalerweise vom Frontalhirn geleistet werden muß, aber angesichts des dort herrschenden Durcheinanders nicht geleistet werden kann.

Es mag noch mehr Faktoren geben, die dazu beitragen, daß es heute auffällig vielen Kindern nicht gelingt, hinreichend komplexe Verschaltungen in ihrem Frontalhirn auszuformen und zu stabilisieren. Aber all diese Einflüsse zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aus: Sie helfen dem Kind nicht, eine brauchbare Antwort auf die Frage zu finden, worauf es im Leben ankommt. Sie sagen entweder: „Auf alles!“ oder „Auf gar nichts“ oder sie behaupten gar, daß das keine vernünftige Frage sei. Für Kinder und Jugendlichen sind alle drei Antworten gleichermaßen fatal. Sie brauchen so etwas wie ein fernes Ziel, eine Vorstellung oder wenigstens eine Vision davon, weshalb sie auf der Welt sind, wofür es lohnt, sich anzustrengen, eigene Erfahrungen zu sammeln, sich möglichst viel Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Wer keine Ahnung davon hat, wohin die Reise gehen soll, weiß auch nicht, was er sich besorgen und in seinen Koffer packen müßte. Das einzige, was Kinder und vor allem Jugendliche unter diesen Bedingungen tun können, ist, heute dieses und morgen jenes nach ihrem eigenen Gutdünken in den Koffer zu stecken, bis dieses sinnlose Tun sie so sehr „anstinkt“, daß sie den ganzen Koffer angewidert in die Ecke werfen und „Null Bock“ haben.

Die Suche nach Orientierung, nach einer Sinngebung für das eigene Leben ist dann zwangsläufig auch zu Ende. Was erhalten bleibt, ist der (natürliche) Hang zur Bequemlichkeit und zum Konsumieren. Das „Ich“ wird nun zum einzigen Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Wer dort angekommen ist, hat auch keine Lust mehr erwachsen zu werden, geschweige denn, sich Bildung anzueignen.

Damit es Kindern gelingt, sich im heutigem Wirrwarr von Anforderungen, Angeboten und Erwartungen zurechtzufinden, brauchen sie Orientierungshilfen, also äußere Vorbilder und innere Leitbilder, die ihnen Halt bieten und an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene „Vorbilder“ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden. Bildung kann nicht gelingen,

  • wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der die Aneignung von Wissen und Bildung keinen Wert besitzt (Spaßgesellschaft),

  • wenn Kinder keine Gelegenheit bekommen, sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen (passiver Medienkonsum),

  • wenn Kinder keine Freiräume mehr finden, um ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken (Funktionalisierung),

  • wenn Kinder mit Reizen überflutet, verunsichert und verängstigt werden (Überforderung),

  • wenn Kinder daran gehindert werden, eigene Erfahrungen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen zu machen (Verwöhnung),

  • wenn Kinder keine Anregungen erfahren und mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Wünschen nicht wahrgenommen werden (Vernachlässigung).

Das Gehirn, so lautet die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Hirnforscher, lernt immer, und es lernt das am besten, was einem Heranwachsenden hilft, sich in der Welt, in die er hineinwächst, zurecht zu finden und die Probleme zu lösen, die sich dort und dabei ergeben. Das Gehirn ist also nicht zum Auswendiglernen von Sachverhalten, sondern zum Lösen von Problemen optimiert. Und da fast alles, was ein heranwachsender Mensch lernen kann, innerhalb des sozialen Gefüges und des jeweiligen Kulturkreises direkt oder indirekt von anderen Menschen „bezogen wird“ und der Gestaltung der Beziehungen zu anderen Menschen „dient“, wird das Gehirn auch nicht in erster Linie als Denk- sondern als Sozialorgan gebraucht und entsprechend strukturiert. Und wenn das so ist, dann werden die wichtigsten Erkenntnisse und Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben machen kann und die in seinem Gehirn in Form bestimmter neuronaler und synaptischer Verschaltungsmuster verankert werden (und sein weiteres Denken, Fühlen und Handeln, seine Einstellungen und Bewertungen im weiteren Leben bestimmen), eben nicht in der Schule, sondern im Leben, und nicht ab 6 Jahren, sondern vom ersten Tag an gemacht.

Es ist beeindruckend, daß die moderne Hirnforschung inzwischen im Stande ist, all diese Erkenntnisse aus objektiven, jederzeit wiederholbaren und nachprüfbaren Befunden abzuleiten. Sie kann mit Hilfe ihrer neuen Verfahren zeigen, wie regionale Netze aufgebaut und verknüpft werden, wie globalisierende Transmittersysteme die dort ablaufenden Aktivierungsprozesse verbinden und harmonisieren, wie sich Erregungsprozesse ausbreiten und auf tiefer liegende emotionale Zentren übergreifen, welche Botenstoffe dadurch vermehrt ausgeschüttet werden und wie diese Stoffe als Wachstumsfaktoren und als Regulatoren der Genexpression die Stabilisierung und Bahnung neuer Verschaltungsmuster ermöglichen und begünstigen. Und es läßt sich inzwischen auch nachweisen, daß Angst, Streß, Überreizung und Überforderung die Herausformung komplexer Verschaltungen im kindlichen Gehirn ebenso behindern wie Unterforderung, mangelnde Anregungen, Verwöhnung oder Vernachlässigung.

„Frühförderung“ heißt nun also das Zauberwort, mit dem der schiefe Turm von Pisa auf der Grundlage dieser Erkenntnisse der Hirnforscher wieder aufgerichtet werden soll. Aber haben die Hirnforscher in den letzten Jahren tatsächlich etwas als das herausgefunden, was die meisten Eltern und Erzieher eigentlich schon immer wußten: Nie wieder im späteren Leben ist ein Mensch so neugierig und so offen, so lernfähig und so kreativ, ist er ein so großer Entdecker und Nachmacher wie während der Phase seiner frühen Kindheit. Was also soll hier gefördert werden? Geht es nicht vielmehr darum zu verhindern, daß dieser Schatz, den alle kleinen Kinder noch besitzen, all zu schnell verloren geht, daß das kleine Pflänzchen mit all seinem Wissensdurst und seiner Entdeckerfreude verkümmert, bevor es in die Schule kommt? „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, so lautet eine alte Indianerweisheit, und die Erkenntnis, daß ein zartes Pflänzchen nur um so schneller verkümmert, je heftiger man daran zieht, zählt wohl auch schon zum Weltwissen der meisten Siebenjährigen.

Wenn also immer wieder Kinder in die Schule kommen, die ihre Neugierde, ihren Entdeckergeist und ihre Lernfreude bereits verloren haben (oder denen all das im Laufe der ersten Schuljahre verloren geht), so muß nicht etwas gefördert, sondern etwas, was diese Verluste erzeugt, beseitigt werden. Die Gehirne der Kinder - und das ist sicher die wichtigste Erkenntnis der Hirnforscher - sind jedenfalls nicht die Ursache dieses leider allzu häufig auftretenden Phänomens. Und genau hier, bei der Beseitigung dieser Ursachen endet die Kompetenz und die Zuständigkeit der Hirnforscher.

In einer Berghütte am Fuß des Himalaja, in einer Gegend, wohin sich wohl noch nie ein Hirnforscher verlaufen hat und in der die Menschen noch nicht einmal wissen, wozu man Hirnforscher braucht, hängt eine vergilbte Tafel, auf der all das aufgeschrieben ist, worauf es für eine gelingende Hirnentwicklung ankommt:

Auf die Schaffung von Bedingungen, die es Kindern ermöglichen

  • sich selbst zu entdecken und sich selbst zu verwirklichen;

  • Verantwortung zu übernehmen und den Nutzen von Disziplin zu erfahren;

  • Selbstbewusstsein zu entwickeln und Einsatzbereitschaft zeigen zu dürfen;

  • Aufrichtig zu leben, bescheiden zu sein und sich in harter Arbeit erproben zu dürfen;

  • eigenen Initiativen zu folgen, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und sich der Welt, in der sie aufwachsen, zugehörig zu fühlen;

  • Entschlußkraft zu entwickeln, die dazu notwendige Umsicht und Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich schwierigen Aufgaben mit Aufmerksamkeit zu widmen;

  • sich und andere Menschen zu begeistern und mit kreativem Weitblick zu überraschen;

  • Scharfsinnig denken zu lernen, ihre Zeit bewußt einzuteilen und Rechenschaft abzulegen;

  • den Sinn in ihrer Arbeit zu erkennen und Entschlüsse fassen zu können;

  • Werte zu achten und den „Common sense“ zu verstehen;

  • sich selbst und anderen Achtung entgegenzubringen;

  • ein Gespür für Sprache, Musik, Naturwissenschaften, Kunst und Geschichte entfalten zu können;

  • sich in ihrer Körperkraft messen und ihre geistige Wachheit trainieren zu können;

  • ihrer Lust nach Abenteuern nachgeben und nachgehen zu dürfen,

  • sich in Zusammenarbeit zu üben und sich auf ihr Selbst verlassen zu können;

  • die eigene Nation verstehen zu lernen und internationales Bewußtsein auszubilden.

Es ist gut zu wissen, was Kinder brauchen. Entscheidend ist aber, ob dieses Wissen auch genutzt wird, um Kindern das zu bieten, was sie brauchen.

Literatur

1 Vgl. Francis, D. D., and M. J. Meaney, Maternal care and the development of stress responses current opinion, in: Neurobiology, 9, 1999, S. 128-134.

2 Rutter, M., Nature, nurture, and development: from evangelism through science toward policy and practice, in: Child Development, 73, 2002, S. 1-21.

3 Singer, W., Development and plasticity of cortical processing architectures, in: Science, 270, 1995, S. 758-764.

4 Vgl. Hüther, G., The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a trigger for adaptive modifications of brain structure and brain function, in: Progress in Neurobiology, 48, 1996, S. 569-612.

5 Sapolski, R. M., Stress, glucocorticoids and damage to the nervous system: the current state of confusion, in: Stress, 1, 1996, S. 1-19.

6 Hüther, G., Die Evolution der Liebe, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2000.

7 Gunnar, M., Quality of early care and buffering of neuroendocrine stress reactions: Potential effects on the developing human brain, in: Preventative Medicine, 27, 1998, S. 208-211.

8 Übersicht in: Hüther, G., Stress and the adaptive self-organization of neuronal connectivity during early childhood, in: Int. J. Devl. Neurosci, 16, 1998, S. 297-306.

9 Spitz, R., Angeboren oder erworben? Die Zwillinge Cathy und Rosy - eine Naturgeschichte der menschlichen Persönlichkeit und Entwicklung. Vortragsreihe, Köhler, L. (Hrg.), Weinheim/Basel, Beltz 2000.

10 Hüther, G., Stress and the adaptive self-organization of neuronal connectivity during early childhood, in: Int. J. Devl. Neurosci, 16, 1998, S. 297-306.

11 Butzmann, E., Frühkindliche Bindungsstörungen, in: Neue Sammlung, 42, 2002, S. 329-341.

12 Gidd, J. N. et al., Brain development during childhood and adolescence: a longitudinal MRT study, in: Nature Neuroscience, 10, 1999, issue 2, S. 861-863.; Sowell, E. R. et al., Localizing age-relates changes in brain structure between childhood and adolescence using. Statistical parametic mapping, in: Neuro Image, 9, 1999, S. 587-597; Sowell, E. R et al., In vivo brain imaging for pot-adolescent brain maturation in frontal and striatal regions, in: Nature Neuroscience, 2, 1999, S. 859-861.

13 Vgl. Eisenberg, L., The social construction of the hman brain, in: American Journal of Psychiatry, 152, 1995, S. 1563-1575.

Sachbücher zum Thema von Gerald Hüther:

G. Hüther: Biologie der Angst, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1997.

G. Hüther: Die Evolution der Liebe, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1999.

G. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001.

G. Hüther: Die Macht der inneren Bilder, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004.

G. Hüther, H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002.

K. Gebauer, G. Hüther: Kinder brauchen Wurzeln, Walter Verlag Düsseldorf, 2001.

K. Gebauer, G. Hüther: Kinder suchen Orientierung, Walter Verlag Düsseldorf, 2002.

K. Gebauer, G. Hüther: Kinder brauchen Spielräume, Walter Verlag Düsseldorf, 2003.

Von

  • Gerald Hüther

    Prof. Dr., ist Neurobiologe und leitet die Abt. f. Neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Schwerpunkte seiner gegenwärtigen Tätigkeit: Einfluß psychosozialer Faktoren und psychopharmakologischer Behandlungen auf die Hirnentwicklung, Auswirkungen von Angst und Streß und Bedeutung emotionaler Bindungen. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und populärwissenschaftliche Darstellungen (Sachbuchautor). Mitbegründer von Win-future.de (Netzwerk Erziehung und Sozialisation) und Mitorganisator der „Göttinger Kinderkongresse“.

    Alle Artikel von Gerald Hüther

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