Die paganistische Revolution

Jeffrey Satinover, M.D.

Eine zentrale Frage blieb bisher unbeantwortet: Wie konnte es kommen, daß unsere Kultur die von uns allen so lange geteilte Überzeugung, homosexuelles Verhalten sei nicht erstrebenswert, aufgegeben hat? Die veränderte Sicht bezüglich Homosexualität ist allerdings nur Teil einer umfassenderen Veränderung, die unser grundlegendes Verständnis von Sexualität und Familie betrifft. Und das wiederum ist nur Teil von noch einschneidenderen Veränderungen in unserem Menschen- und Weltbild.
Es scheint, als habe dieser grundlegende Wandel in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren stattgefunden. Doch das ist eine Illusion. Tiefgreifende Veränderungen sind in der westlichen Gesellschaft seit deutlich mehr als nur drei Jahrzehnten am Keimen und Aufgehen gewesen. Durch die 1968er Revolution, in deren Zentrum eine radikal veränderte Sicht von Sexualität stand, drangen die Veränderungen nur zum ersten Mal ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit. Wir können die dramatischen Veränderungen in bezug auf unsere Haltung zur  Sexualität nur verstehen, wenn wir den gesamthistorischen Zusammenhang begreifen. Es hat schon vor Jahrhunderten begonnen. Anders gesagt: Die Veränderungen in unserer Einstellung zur Sexualität sind nur ein Symptom für viel bedeutsamere Veränderungen auf einer geistlichen Ebene, die alle Bereiche unseres Lebens betreffen.
Genauer gesagt: Vier Jahrhunderte eines wachsenden Religionsskeptizismus an den Hochschulen und eines enormen technischen Fortschritts, die den jüdisch-christlichen Glauben als irrelevant erscheinen ließen, haben unsere Kultur für alternative Spiritualitäten empfänglich gemacht. Eine Zeitlang sah es aus, als ob ein materialistisches Weltbild siegen würde. Während wir uns auf dem Kissen des Wohlstands ausruhten und sicher fühlten, schien es, als könnten wir unser Verlangen nach dem Geist, nach Sinn und Bedeutung des menschlichen Lebens als wehmütigen Traum einer kollektiven Kindheit, abtun.

In Wirklichkeit folgte auf die geistliche Dürre kein Gefühl reifen Wohlseins,  sondern ein heftiger, neuer Durst nach Spiritualität – nach irgendeinem Geist, der den Durst löschen könnte. Der daraus hervorbrechende heutige Zeitgeist ist deshalb nicht der Skeptizismus, der alle Religion verunglimpft, sondern ein immer schon dagewesener religiöser Geist, der aber dem ethischen Monotheismus des christlichen und orthodox-jüdischen Glaubens diametral entgegensteht. Die Glaubenssätze dieser neuen Religion, seien sie nun bewußt formuliert oder nur still im Hintergrund wirksam, bestimmen mehr und mehr unsere öffentliche Moral und unsere Moralvorstellungen. Dabei ist die Religion nicht wirklich neu, auch ihre Lehre ist nicht neu. Vielmehr geht es um das Wiederaufleben von Paganismus [Heidentum] und ihre Lehre heißt Gnostizismus. Worum es bei diesen alten Begriffen geht, möchte ich in diesem Aufsatz erläutern.

Der Neopaganismus ist nicht einfach ein Herabsetzen von Religion. Er ist auch nicht einfach die Religion des wissenschaftlich-ideologischen Humanismus, obwohl der Humanismus ein sichtbarer und wichtiger Aspekt dabei ist. Ihre Anhänger sehen im Neo-Paganismus auch nicht nur eine sinnvolle Antwort auf die Sinnkrise, die das materialistische, naturwissenschaftlich ausgerichtete Weltbild ausgelöst hat, sondern eine bessere als die jüdische oder christliche Antwort. Die neopaganistische Spiritualität erscheint attraktiver, weil sie nur geringe moralische Anforderungen an den Einzelnen stellt. Sie ist „toleranter“ gegenüber menschlichen Unterschieden, offener für „Vielfalt“ und „alternative Lebensformen“. (Mit den Worten von Joseph Campbell: „Tu, was dich glücklich macht.“) Die Kehrseite ist: Paganistische Spiritualität  hat nur eine mangelhafte Vorstellung vom Wesen des Bösen. Sie kann deshalb nicht unterscheiden zwischen zielgerichtetem Willen und Getriebensein oder Zwang, zwischen einem bewußt gewählten Ziel und einem unbewußten, instinktiven Antrieb.

Im Gegensatz dazu steht im Mittelpunkt der jüdisch-christlichen Lehre vom Leiden der Menschen der Begriff der Sünde. Nach dieser Lehre ist der Mensch absolut auf Gott angewiesen. Doch sich abzuwenden von rein naturwissenschaftlichen und humanistischen Prinzipien einerseits sowie von der „New Age“-Vielfalt moralischer und kultureller Maßstäbe andererseits, um sich stattdessen einem einheitlichen biblischen Maßstab zuzuwenden, würde den meisten modernen Menschen wie ein Rückschritt vorkommen. Und das, obwohl weder die Wissenschaft noch der wissenschaftlich-ideologische Humanismus uns dem näher bringen können, wonach wir uns am meisten sehnen: Sinn, Bedeutung, Frieden, Liebe.

Die vereinfachte Antwort auf die Frage, wie es soweit kommen konnte, heißt deshalb: „Durch den Fortschritt.“ Dieser Fortschritt ist technisch-naturwissenschaftlicher Art, hat aber Auswirkungen auf Moral und Ethik. Beide, die technische Sicht vom Menschen und die daraus folgenden Auswirkungen auf Ethik und Moral, sind ineinander verwoben und bestimmen das moderne Menschen- und Weltbild. Der Anspruch der wissenschaftlichen Analyse, den Menschen deuten zu können, und die „New Age“-Spiritualität widersprechen sich dabei nur scheinbar. In Wirklichkeit verstärken sie sich gegenseitig und machen die Verwirrung nur größer.

Es war ein einziges Volk, die Juden, die das, was man den ethischen oder radikalen Monotheismus nennt, inmitten der alten heidnischen Kulturen im Vorderen Orient einführten. Der spröde Begriff „ethischer Monotheismus“ beinhaltet zwei wesentliche Aussagen über die jüdische Religion. Erstens: Es gibt nur einen Gott; und weil es nur einen Gott gibt, ist er der Gott für alle Menschen. Zweitens: Worum es Gott, und damit auch seinem Volk, zentral zu tun ist, ist die Frage nach dem Guten und die nach einer absoluten Ethik. Für das jüdische Denken liegt das herausragende Wesen Gottes nicht in Gottes philosophischen Gedanken, sondern in seiner Heiligkeit. Deshalb lesen wir in der Bibel, daß der lebendige Gott so „absolut transzendent“ ist, daß schon ein Blick auf seine Herrlichkeit und sein Gutsein den unmittelbaren Tod bedeuten würde.

Der ethische Monotheismus gewann dann durch Christen, nicht durch Juden, seinen entscheidenden Einfluß in der heidnischen Welt. Vielleicht sollten wir lieber sagen, durch den christlichen Glauben als einer Variante des Judentums. Der bedeutende jüdische Schriftsteller Franz Rosenzweig hat es so formuliert: „Das Christentum ist das Judentum für die Heiden.“ Als der ethische Monotheismus sich mit erstaunlicher Kraft und Geschwindigkeit ausbreitete, fielen viele paganistische Herrschaftsgebiete in sich zusammen. Der ethische Monotheismus errichtete eine moralische Ordnung, die bis zur Renaissance vorherrschte.

Paganismus und Neopaganismus

Was ist nun das Wesen des heidnischen Geistes, der in der Geschichte zunächst durch den ethischen Monotheismus ersetzt wurde, heute aber wieder mit diesem konkurriert?

  1. Paganismus ist polytheistisch. Jeder Einzelne und jede Gruppe hat seinen/ihren eigenen Gott oder Göttin. Das führt dazu, daß die unterschiedlichen Wertvorstellungen, Maßstäbe, Ziele und Gesetze der einzelnen Götter das jeweilige Leben ihrer Anhänger bestimmen.
  2. Vom Paganismus bestimmte Gesellschaften sind polyvalent, haben also viele Werte. Es gibt nicht einen einzigen und denselben ethischen Anspruch an alle Menschen. Kein Gott und deshalb auch kein Wert ist einem anderen Wert überlegen, es sei denn, er wird mit Gewalt durchgesetzt.  
  3. Vom Paganismus bestimmte Gesellschaften sind tendenziell nicht-egalitär. Unterschiedliche Maßstäbe für unterschiedliche Gruppen führen zu Zersplitterung und Konkurrenz. Mit der Zeit wird der Wille zur Macht die einzige Regel. Wer herrscht, bestimmt, was Recht ist. Die Macht bestimmt das Gesetz und tritt an seine Stelle. Zeus regiert einzig und allein deshalb, weil er der Stärkste ist. Er ist sicher nicht der Klügste oder Weiseste, und Fairness kennt er auch nicht.
  4. Vom Paganismus bestimmte Gesellschaften und Kulturen sind pan­theistisch oder animistisch. Götter und Göttinnen bevölkern die natürliche Welt und sind eins mit ihr. Die Natur ist Teil des Göttlichen und wird deshalb als göttlich angebetet. Es gibt keine wirkliche Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung, Schöpfer und Geschöpf. Das führt wiederum dazu, daß der Mensch nicht nur die Natur „draußen“ verehrt, sondern auch die eigene Natur „drinnen“, d.h.  seine natürlichen Instinkte wie Hunger, Sexualität, Aggression oder Lust allgemein. Mit anderen Worten: Der Mensch betet sich selbst an.
  5. Da die natürlichen Neigungen und Instinkte spiritualisiert werden, neigt paganistischer „Gottesdienst“ von sich aus zum Gewalttätigen, Hedonistischen und Orgiastischen. Paganistische Rituale erregen die Instinkte und Antriebe, insbesondere Sexualität und Aggression, im höchsten Grad.
    Indem die Instinkte befriedigt werden, wird höchstmögliche Lust und damit auch höchste religiöse Ekstase erreicht. Drogenrausch, Tempelprostitution, rituelles Töten der Feinde, Selbstbeschädigung und sogar Kinderopfer: Aus der Sicht des paganistischen Weltbildes ist das alles nicht pathologisch, sondern das vorhersehbare Ergebnis einer entfesselten menschlichen Natur. Gab es solche Praktiken nur in den alten heidnischen Kulturen und sind sie uns völlig fremd? Wir brauchen nur den Fernseher anzuschalten oder an gewaltverherrlichende Schriften zu denken oder noch nicht so lange zurück an den Holocaust, an den schnellen Anstieg von Gewaltkriminalität oder daran, wie einfach es heute ist, ungewollte Kinder loszuwerden, bevor sie geboren sind. Dann sehen wir, daß diese Praktiken alles andere als „Ausnahmen“ sind. Das traurige Nachtleben in der Homosexuellenszene, der  sogenannte „walk on the wild side“ (der Rockstar dieses Songs wird für seine „Androgynität“ umjubelt), wird von unserer Popkultur gefeiert. All dies sind nur Zeichen für die Transformation der westlichen Gesellschaft in Richtung Neopaganismus.  
  6. In all dem zeigt sich: Paganismus ist nicht Gottesdienst, sondern Götzendienst. Der paganistisch gesinnte Mensch nimmt das, was er in seiner menschlichen Natur vorfindet, zum Maßstab für das, was gut ist. Er macht seine eigene menschliche Natur zum Gott, eben zum Abgott. Der Mensch ist das Maß aller Dinge. – Ist das nicht ein wenig unfair gegenüber dem Humanismus? Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die schlimmsten Menschenmorde in der Geschichte in Ländern mit humanistischen Überzeugungen geschehen sind: in Frankreich, Rußland, Deutschland und China1. Die zunächst befremdlich wirkende Nebeneinanderstellung von modernem Humanismus und antikem Paganismus wird nachvollziehbar, wenn wir bedenken, daß der wissenschaftliche Humanismus mit seinem Anliegen, den Menschen allein wissenschaftlich zu erklären und zu deuten, zur Abschaffung des Menschen führt, weil er den Menschen zur Maschine reduziert.

Der jüdisch-christliche Monotheismus

Der jüdisch-christliche ethische Monotheismus steht allen diesen Inhalten, Lehren und Praktiken diametral entgegen. Anders als die Lehren des Paganismus sind die Lehren des ethischen Monotheismus radikal nicht-natürlich.
Sein Aufkommen vor über viertausend Jahren und seine Blüte in einer durch und durch paganistischen Welt können nicht einfach mit geschichtlicher Entwicklung erklärt werden. Friedrich der Große quälte sich mit seiner Unfähigkeit zu glauben. Einmal forderte er seinen Hauskaplan auf, ihm zu zeigen, wo er Gott finden könne. Der Bischof antwortete, daß er das mit einem Wort tun könne. „Und welches einzige Wort könnte die Bürde solcher Erleuchtung tragen?“ fragte der Preußenkönig. Der Kaplan antwortete: „Die Juden“.

Um die Unterschiede noch einmal deutlich zu machen:

  1. Der jüdisch-christliche Monotheismus ist monotheistisch. Es gibt nur einen Gott, und es gibt keinen Gott außer Gott. Jeder Einzelne und jede Gruppe, wie unterschiedlich sie von Natur aus auch sein mögen, wie unterschiedlich in ihren Neigungen, Begabungen oder Begrenzungen, jeder und jede ist diesem einen Gott gegenüber verantwortlich.
  2. Eine vom Monotheismus geprägte Gesellschaft ist univalent, d.h. einwertig. Das bedeutet, daß alle Menschen sich vor einem einzigen Wertesystem, denselben Zielen und Geboten zu verantworten haben. Vor diesem Gott, der das einheitliche Gesetz für alle schuf, sind alle Menschen gleich – unabhängig davon, ob ihnen das unmittelbar ein Vorteil zu sein scheint oder ob sie es als Nachteil sehen.
  3. Monotheistische Gesellschaften sind tendenziell egalitär, nicht im Ergebnis, aber auf dem Weg dorthin. Der monotheistische Gott kennt kein Ansehen der Person, kein Ansehen von Rängen oder Ämtern.
  4. Der Monotheismus ist theistisch. Es gibt also einen wesentlichen Unterschied zwischen Schöpfer und Schöpfung, Schöpfer und Geschöpf, also auch zwischen Schöpfer und Mensch. Der Mensch als Mensch, nicht als biomolekulare Maschine, trägt eine zutiefst nicht-natürliche Fähigkeit der Öffnung für den Geist in sich. Dieser Geist ist nicht von dieser Welt, aber er wirkt in ihr. Das bedeutet, daß der Mensch ein duales Geschöpf ist. Er läßt sich nicht allein mit den Begriffen von Ursache und Wirkung erklären. Und seine ethischen Entscheidungen stehen in einem gewissem Maß im Gegensatz zu seinen instinktiven, natürlichen Neigungen und Impulsen. Monotheisten wissen sehr wohl um den Wert von natürlichen Neigungen; aber jeder Impuls, der auf unmittelbare Befriedigung aus ist, muß einem einzigen übergeordneten Ziel untergeordnet werden. Der natürliche Antrieb muß geheiligt, d.h. moduliert, abgewandelt und eingeschränkt werden, und manchmal muß ­seiner Befriedigung völlig entsagt werden.
  5. Jüdischer und christlicher, monotheistischer Gottesdienst führt vom Gewalttätigen, Hedonistischen und Orgiastischen weg. Menschliche Neigungen sind kreatürlich, nicht göttlich. Sie dürfen deshalb nicht die letztgültigen Maßstäbe sein dafür, was gut oder nicht gut ist, weder für den Einzelnen noch in einer Gesellschaft. Mit anderen Worten: Natürliche Neigungen werden nicht angebetet. Die Geschichte des Alten Israel, wie sie im Alten Testament überliefert ist, ist zu großen Teilen der zweitausend Jahre währende Kampf um die Anbetung des Einen Gottes anstelle der Anbetung der natürlichen Neigungen und Instinkte, wie er in den heidnischen Kulturen des Alten Orient verbreitet war. Zutiefst geht es um die Geschichte vom Kampf des Gottes Israels gegen den Götzen Baal, der für die Anbetung der Sexualität steht – sei sie heterosexuell, homosexuell oder mit Tieren. Es ist auch der Kampf Gottes gegen die Baals-Gattin  Anath/Astarte/Astaroth, die Göttin, die jungfräuliche Hure, die kopuliert und empfängt, aber nicht gebiert. Und es ist der Kampf gegen den Götzen Moloch, den Gott, dem die ungewollten Kinder dieser sexuellen Praktiken geopfert ­werden.
  6. Schließlich wendet sich der jüdisch-christliche Monotheismus dagegen, Geschaffenes zu vergöttlichen, und damit wendet er sich gegen den Humanismus. Aus der Treuebeziehung zu dem einen, wahren Gott unterläßt er es, irgendetwas anderes als „göttlich“ anzusehen, mögen das Abgötter aus Holz oder Stein sein oder mögen sie dem menschlichen Denken entspringen oder Elemente der menschlichen Natur sein.

Die Anhänger dieses Monotheismus wissen, daß die Befriedigung instinktiver Antriebe Lust bringt, aber sie wissen auch, daß sie nicht wirkliche Freude bringt. Sie wissen, daß wir aufgrund unserer dualen Natur so geschaffen sind, daß wir etwas brauchen, das über einfache Befriedigung hinausgeht. Das Streben nach Lust unabhängig von Gott führt unweigerlich in die Leere und Verzweiflung; die Verabsolutierung und „Anbetung“ der Lust bringen zuletzt Hoffnungslosigkeit und damit den Tod.

So betrachtet weist alles menschliche Verlangen nach unmittelbarer Befriedigung der Instinkte über sich selbst hinaus auf etwas anderes oder jemand anderen hin, auf etwas, das eben gerade nicht im Menschen allein gefunden und auch nicht auf das Menschliche reduziert werden kann. Dieses Verlangen ist außerordentlich stark. Wenn es uns nicht gelingt, es an seinem angemessenen, ewigen Objekt festzumachen, und wir es stattdessen an eine instinktgebundene Befriedigung heften, wird das Streben nach Befriedigung dieses Verlangens zum Zwang, zur Sucht und letztlich zerstörerisch. Der Drogenabhängige in den Drogen, der Alkoholiker im Alkohol, der Schürzenjäger im Sex, der Spielsüchtige im Spiel, der Eßsüchtige im Essen, sie alle suchen den einen Gott, auch wenn sie es nicht wissen. Und sie alle beten deshalb ihre „Abgötter“ an. 

Der unaufhörliche Widerstand des Gottes Israels und seiner Propheten gegen Abgöttisches und paganistischen Götzendienst muß dem modernen Menschen bestenfalls als eine seltsame, archaische Obsession und schlimmstenfalls als eine abstoßende Manifestation von Nationalismus und Chauvinismus erscheinen, auf die er gut verzichten kann. Unter den sterilen Bedingungen der Moderne erscheint es nur zu sinnvoll, eine solche Monomanie in Kirchen und Synagogen durch einen sich immer wieder neu anpassenden Synkretismus zu ersetzen, der als „Spiritualität“ angesehen wird.

Die Lehre des Paganismus: Gnostizismus

Der Konflikt zwischen jüdisch-christlichem Monotheismus und Paganismus ist weder neu noch einfach nur natürlich: Er ist der uralte, immer wiederkehrende Kampf um die Seele des Menschen. Geschichtlich zieht sich ein roter Faden von den heidnischen Kulten des Antiken Orients (das Land Kanaan eingeschlossen) durch den vor- und frühchristlichen Gnostizismus, den Manichäismus des Römischen Reiches und anderer arischer Imperien über bestimmte Schulen der mittelalterlichen Kabbala und Alchemie bis hin zum Neoplatonismus der Renaissance mit seinem Schwerpunkt auf Magie, Humanismus und Wissenschaft. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur modernen Reduzierung des menschlichen Geistes auf die Psyche – und dies war die Voraussetzung für das heutige Wiederaufleben des Paganismus.

Auch wenn C. G. Jung sich seiner eigenen Rolle in dieser Entwicklung nicht bewußt war, hat er doch klar erkannt, was in der paganistischen Revolution kommen würde. In einem Kommentar über den dekadenten Lebensstil nach dem Ersten Weltkrieg schrieb er 1918:
„Je mehr die unbedingte Autorität der christlichen Weltanschauung sich verliert, desto vernehmlicher wird sich die ‘blonde Bestie‘ in ihrem unterirdischen Gefängnis umdrehen und uns mit einem Ausbruch mit verheerenden Folgen bedrohen. Diese Erscheinung findet als psychologische Revolution beim Einzelnen statt, wie sie auch als soziales Phänomen auftreten kann.“2

C. G. Jung sah die paganistische Umgestaltung Deutschlands apokalyptisch voraus. Doch hatte der deutsch-jüdische Dichter ­Heinrich Heine, der zum Christentum übergetreten war, eine größere prophetische Schau. Heine warnte bereits im 19. Jahrhundert:
„Das Christentum, und das ist sein schönstes Verdienst, hat jene germanische brutale Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome... Lächelt nicht über meinen Rat, über den Rat eines Träumers, der euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner... Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.“3

Die Lehre des Paganismus ist der Gnostizismus. Für den Gnostiker ist Erlösung weder ein unverdientes Geschenk von Gott (wie überwiegend im Christentum) noch die Frucht beständigen moralischen Strebens (wie überwiegend im Judentum). Sie ist eher eine Art faustischen Gewinns durch „geheimes Wissen“ (die Übersetzung des Wortes „gnosis“ aus dem Griechischen). Der Gnostiker erlangt dieses geheime Wissen durch die Beziehung zu einem der vielen Götter oder Halbgötter oder in einer intellektualisierten Version in der paganistischen „Anbetung“ des eigenen Denkens und der Vorstellungskraft.

Das Wesen des Gnostizismus ist spiritualisiert und asketisch zugleich, deshalb fühlten sich besonders die Intellektuellen des Römischen Reichs durch ihn angesprochen. Aber die ihm innewohnende Vergöttlichung der natürlichen Neigungen und Instinkte führte bald zu einer Relativierung von Gut und Böse und damit zu einer heftigen Gegnerschaft gegenüber dem jüdischen, monotheistischen Ethos, das sich durch den christlichen Glauben verbreitete. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß der asketische Lebensstil der frühen gnostischen Gruppierungen so schnell zu einem zügellosen Lebenswandel degenerierte. Im Grunde war diese Entwicklung vorhersehbar, sie ist bei allen gnostischen Gruppierungen in der Geschichte bis heute zu finden.

Durch die Jahrhunderte hindurch hat der Gnostizismus als eine beständige spirituelle Gegenkultur eine heimliche Untergrundexistenz geführt. Dann und wann kam er an die Oberfläche. Immer aber war er das auf Heimlichkeit zielende, auf die Psyche und den natürlichen Menschen zentrierte, polytheistische, und damit Moral und Ethik relativierende Gegenstück zu dem auf den Einen Gott zentrierten ethischen Monotheismus der jüdisch-christlichen Tradition.
Das gnostische Gedankengut, auch wenn es in vielerlei Form auftritt, hat immer wiederkehrende Themen, insbesondere:

  • Die Überzeugung, daß durch die Gnosis, also durch geheimes Wissen, das nur den Eingeweihten zur Verfügung steht, der Mensch aus sich selbst heraus in der Lage sei, seine Probleme zu lösen – insbesondere die Fragen nach dem menschlichen Leid und den menschlichen bösen Neigungen. Der Mensch wird dadurch gottgleich. 
  • Die Überzeugung, daß die entscheidenden Ereignisse der jüdisch-christlichen Tradition, insbesondere die Inkarnation, keine materielle Wirklichkeit haben, sondern allenfalls als spirituelle (oder symbolisch oder rein psychologisch oder innerpsychisch zu verstehende) Ereignisse anzusehen seien.
  • Aus diesen Gründen wird das Sühneopfer als notwendiges Opfer für die „geistige und geistliche Gesundung“, d.h. für die Erlösung, abgelehnt. Denn wenn die Götter nur Manifestationen des eigenen Denkens sind, gibt es keine absolute Grundlage für Schuld oder Sünde. 
  • Aus all dem folgt, daß auch Gut und Böse keine wirkliche Bedeutung haben oder aber, und das läuft auf dasselbe hinaus, nur von symbolischer Bedeutung sind. Sie sind ohne Bezug zu den ethisch-moralischen Anforderungen und Entscheidungen des Alltags. In jedem Fall sind sie gleichgewichtige Gegenstücke.

Der letzte Punkt entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn der Gnostizismus neigt seit jeher dazu, sich ausführlich mit dem Bösen zu befassen. In der manichäischen Variante des Gnostizismus wurde diese Tendenz, das Böse überzubewerten und zu vergöttlichen, ausdrücklich formuliert und Gut und Böse zu den zwei ewigen Prinzipien der Wirklichkeit erklärt.

Das erinnert an C. S. Lewis’ Mahnung: „Es gibt zwei Irrtümer über die Teufel, in die das Menschengeschlecht leicht verfällt. Sie widersprechen einander und haben doch dieselbe Auswirkung. Der eine ist, ihre Existenz überhaupt zu leugnen. Der andere besteht darin, an sie zu glauben und sich in übermäßiger und ungesunder Weise mit ihnen zu beschäftigen. Die Teufel selbst freuen sich über beide Irrtümer gleichermaßen. Sie begrüßen den Materialisten wie den Anhänger der schwarzen Magie mit demselben Vergnügen.“4

Wenn Gut und Böse auf gleicher Ebene, dualistisch, einander gegenübergestellt werden, folgt daraus unweigerlich Zweierlei. Erstens: Auf der theologischen Ebene erliegen wir der gefährlichen Vorstellung, daß Gut und Böse in einer höheren Einheit verbunden sind. Zweitens: Auf der Ebene der Psychologie und des Verhaltens tendieren wir dazu, Gut und Böse zu relativieren und verstärken damit unsere Neigung, das Böse zu wählen. Wir halten das Böse für das Gute, weil es sich oft so gut anfühlt.

Auf der intellektuellen Ebene moderner gnostischer Philosophien wie der von C. G. Jung wird der erste Punkt betont und damit gleichzeitig mehr oder weniger unbeabsichtigt der zweite gefördert. Auf der mehr populären Ebene sprechen okkulte Philosophien den zweiten Punkt klar aus. Beides führt zu einer Theologie des moralisch-ethischen Relativismus. Besonders durch die Lehren von C. G. Jung hat die gnostische Philosophie und Moral großen Einfluß auf Kirchen und Synagogen erhalten. Deshalb soll an dieser Stelle noch genauer auf C. G. Jung eingegangen werden. Der moralisch-ethische Relativismus, der die sexuelle Revolution erst ermöglicht hat, wurzelt in einer Haltung, deren herausragendster moderner Vertreter C. G. Jung ist.

C. G. Jung: selbsternannter Prophet des Gnostizismus

Die moderne Tiefenpsychologie sowohl der Freudschen wie der Jungschen Schule hat in einer modernen, materialistischen, von natürlichen Neigungen und Instinkten gesteuerten Kultur dieselbe Aufgabe übernommen, die der Gnostizismus früher in einer paganistischen Gesellschaft hatte. In beiden Fällen sind der natürliche Mensch und seine Instinkte und Antriebe deckungsgleich mit dem Sinn und Ziel menschlichen Lebens. Und genau damit bieten sie die philosophische Grundlage für eine amoralische Sicht vom Leben. Man könnte sogar sagen, daß es der eigentliche Sinn der gnostischen Theologie ist, einem ungezügelten sexuellen Verhalten die Aura des Ehrbaren zu verleihen. Das gilt für die alten Zeiten wie für heute, geschehe es nun bewußt oder unabsichtlich.

Gerade Jung hat einen psychologischen Reduktionismus mit gnostischer Spiritualität verknüpft und so eine moderne Variante des mystischen paganistischen Polytheismus geschaffen, bei dem die verschiedenen „Imagines der natürlichen Antriebe“, (die von Jung so genannten „Archetypen“) als Götter angebetet werden. Seine scheinbar wissenschaftlichen Theorien hat C. G. Jung als eine moderne und verbesserte Version des Christentums vorgestellt, in der der christliche Glaube und die Anbetung der natürlichen Neigungen und Instinkte zu einer höheren Einheit verbunden sind. Und immer stärker werden seine Theorien auch genauso verstanden.

Jung verstand sich als Prophet einer neuen weltumspannenden Religion. Max Zeller, Schüler von Jung und Therapeut in Los Angeles, erzählte Jung von seinem Traum, in dem Menschen aus der ganzen Welt an einem Tempel bauten, darunter auch er selbst. Jung antwortete darauf: „’...das ist der Tempel, an dem wir alle mitbauen... und in der ganzen Welt am Bauen sind. Das ist die neue Religion. Wissen Sie, wie lange es dauert, bis sie errichtet sein wird?’ Ich sagte: ’Wie sollte ich das wissen? Wissen Sie es?’ Er sagte: ’Ja, ich weiß es.’ Ich fragte ihn, wie lang es dauern würde. Er antwortete: ’Ungefähr sechshundert Jahre.’ – ’Woher wissen Sie das?’ fragte ich ihn. Er sagte: ’Aus den Träumen anderer Menschen und aus meinen eigenen. Soviel wir wissen, wird diese neue Religion zustande kommen’.“5

Der Jungsche Analytiker Murray Stein kommentiert das in seinem Buch „Leiden an Gottvater, C. G. Jungs Therapiekonzept für das Christentum“ so: „Aus diesem Bericht geht nicht klar hervor, ob Jung diese neue Religion als eine gewandelte Form des Christentums oder als eine völlig neue Weltreligion sah, die alle anderen Religionen umschließen oder ersetzen würde. Da... er sich... denn auch als Parzival und als denjenigen betrachtete, der der ­Christenheit den Heiligen Gral wieder zurückbringen würde, muß er wohl gehofft haben, daß die neue Religion... ein gewandeltes Christentum verkörpern würde, und zwar teils als ’Kind’ des Christentums und teils als etwas recht anderes, nämlich als eigenständige und einzigartige religiöse Tradition.“6

Der direkte und indirekte Einfluß, den Jung auf die breite Christenheit und damit auf die westliche Kultur gehabt hat und bis heute hat, kann gar nicht überschätzt werden. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die theologischen Positionen in den meisten großen Kirchen,  sowohl was ihre Seelsorge anbelangt als auch ihre Doktrinen und Liturgie, mehr oder weniger völlig mit der Jungschen psychologischen und symbolischen Theologie [in der Wirklichkeiten auf innerpsychische Symbole reduziert werden, Anm. d. Ü.] übereinstimmen.

Gegen Ende seines Lebens beharrte Jung darauf, daß eine Einigung zwischen „Materie“ und „Geist“ erzielt werden könne; daß die „dunkle Seite“ der menschlichen Natur in eine einzige, alles überspannende „Ganzheit“ integriert werden müsse, um so zu einer weniger strengen und weniger schwierigen Definition vom Guten zu gelangen. Die wahre Erleuchtung strahle nicht von dem einem heiligen Gott her in eine verdunkelte Welt; vielmehr sei es der kluge und brillante „Luzifer“, der die wahre Quelle der Weisheit sei, Quelle und Ursprung des höheren Wissens, nämlich der „gnosis“.

Für Jung sind Gut und Böse zwei gleichwertige, einander gegenüberstehende kosmische Prinzipien, die in einer größeren Synthese zusammengehören. Diese „Aussöhnung“ zwischen Gut und Böse und damit ihre Relativierung ist seit jeher der zentrale Punkt der alten gnostischen Lehren. Dazu gehört, daß auch das Göttliche und damit Ethik und Moral im Menschen selbst liegen. Daher kommt der Gedanke von der „Einswerdung der Gegensätze“. Was der Schriftsteller William Blake als „Hochzeit von Himmel und Hölle“ bezeichnete, nennt Jung „das Selbst“, mit großem Anfangsbuchstaben, um so auf die „Göttlichkeit“ dieses Selbst hinzuweisen.

Jung hat die Tiefenpsychologie, insbesondere seine eigene Schule, ausdrücklich als Erbin der gnostischen Tradition bezeichnet. Besonders gilt dies im Blick auf Jungs „überlegenen Umgang“ mit dem Problem des Bösen. Jung behauptete: „Im Altertum haben sich die Gnostiker, deren Argumentation durch psychische Erfahrung schon bedeutend beeinflußt ist, mit dem Problem des Bösen umfänglicher als die Väter auseinandergesetzt.“7
In Wirklichkeit aber verfielen die Gnostiker nur zu schnell dem Bösen, das richtig zu handhaben sie sich so sicher waren. Das ist unweigerlich die Konsequenz einer Haltung, die Gut und Böse in einer höheren Einheit zu vereinen sucht. Solch fehlende „höhere Einheit“ bemängelt Jung im Christentum: „Trotz alledem ermangelt das Symbol Christi der Ganzheit im modernen Sinne, indem es die Nachtseite der Dinge expressis verbis nicht mit ein-, sondern als luziferischen Gegenspieler ausschließt.“8

Wer sich aber solch „ganzheitlichem“ Gottesbild [das Gut und Böse einschließt] öffnet, wird moralisch blind. Obwohl Jung einerseits um die Problematik einer gnostischen Weltsicht wußte9, hat er doch, trotz all seiner Brillanz und prophetischen Einsicht, die schrecklichen Folgen des wiedererwachenden Paganismus, der ja der Nährboden für den Nationalsozialismus war, nicht gesehen. Jung sprach sich erst viel später als zahlreiche andere, weniger begabte Zeitgenossen gegen Hitler aus, erst, als die Nazis schon Menschen mordeten.
Es überrascht daher nicht, daß der Jungianismus, eben weil ihm eine gnostische Lehre zugrundeliegt, innerhalb nur einer Generation die sexuellen Revolutionäre jeder couleur integrieren konnte. Obwohl C. G. Jung der Gnostik eine Ethik zugeschrieben hat, führte er selbst jahrelang mit einer Patientin eine außereheliche Beziehung. Das vorherrschende Ziel dieser gnostischen Lehren ist es, jede Grenzziehung gegenüber sexuellem Verhalten  aufzuheben und – durch den Gebrauch einer religiösen Sprache – jedwede Art von sexuellem Verhalten zu rechtfertigen. Die Aura der „Spiritualität“ verschleiert die dahinterstehende Grundtendenz  zu Hedonismus und Amoral.
Es ist merkwürdig, daß so viele christliche Denker und Autoren tonangebend bei der Verbreitung Jungscher Ideen in der Kirche sind. Pastor Morton Kelsey z.B. hat diesen Weg eingeschlagen und damit Karriere gemacht. Es überrascht nicht, daß Kelseys jüngste Veröffentlichung „The Sacrament of Sexuality“, [dt. erschienen als „Sünde, Tabu oder Geschenk“, wörtlicher Titel: „Das Sakrament der Sexualität“, Anm. d. Ü.] sich ausdrücklich aus einer pluralistischen Sicht mit der Homosexualität befaßt.10 Kelsey befürwortet die Entscheidung der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft von 1973, Homosexualität als normal anzusehen. Fragen nach der Veränderbarkeit der homosexuellen Orientierung weicht er aus und behauptet einfach, daß solche Veränderung „sehr selten“ sei.11

Das Gedankengut von C. G. Jung, wie es ­Kelsey übernimmt und das auch im englischen Originaltitel zum Ausdruck kommt, ist nicht nur in Bezug auf Homosexualität wichtig, sondern in Bezug  auf alle Formen von Sexualität außerhalb der Ehe. Aus jüdisch-christlicher Sicht kann Sexualität – sie ist Teil der menschlichen Natur –  nicht in sich selbst „sakramental“ sein. Sie hat Teil an der sakramentalen Wirklichkeit, indem sie im Kontext des „Sakramentes der Ehe“ geheiligt wird. Sakramentale Sexualität als solche ist aber Wesen und Inbegriff von paganistischer Religiosität.

Thomas Moore, Priester der Anglikanischen Kirche in den USA und Jungscher Analytiker, der bei Ratsuchenden in der jungen Generation außerordentlich beliebt ist, wurde von der weitverbreiteten Zeitschrift „NetGuide“ befragt. Die Frage nach seiner persönlichen Definition von „Seele“ beantwortete er u. a. mit dem Hinweis, daß William Blake „deren eloquentester Fürsprecher sei“. Dann wurde er gebeten, zu der Tatsache Stellung zu nehmen, daß „das Internet voller Pornographie ist. Es gibt ­Chatrooms für Sadomasochisten genauso wie für Sodomisten, man findet, was immer man will... Ist das gut, ist das schlecht, schadet es uns oder nicht?“ Moores Antwort lautete: „Können wir nicht endlich aufhören, Sexualität zu kategorisieren und darüber zu moralisieren...? Können wir nicht fragen, ob Sex, jede Art von Sex, zutiefst befriedigend ist? Wird er von ganzem Herzen genossen...? Vergessen Sie richtig und falsch, das gilt nicht mehr.“12

Heute sind sogar offen ausgedrückte paganistische Ideologien und Theologien überall zu finden. An den theologischen Fakultäten treten sie an die Stelle von bibeltreuen, orthodoxen Theologien. Fernsehsendungen mit diesen Lehren sind beliebt; Kirchen und Gemeinden schreiben ihre Liturgie um, um diese Ideologien integrieren zu können; Bücher, die eine paganistische Spiritualität proklamieren, sind Bestseller. Als ich diesen Text zu schreiben begann, fanden sich zwei solcher Bücher, von Jungschen Analytikern verfaßt, auf der Bestsellerliste der New York Times. Ein weiteres Buch trägt den Titel: „The Sacrament of Abortion“ („Das Sakrament der Abtreibung“) und ist der Göttin Artemis gewidmet. Die Autorin Ginette Paris ist Jungsche Analytikerin. In ihrem Buch stellt sie eine ausdrückliche Verbindung zwischen der modernen Moral und der Götterwelt des Altertums her: „Es wird Zeit, daß wir uns an Artemis erinnern, die Ungezügelte, die trotz ihrer Schönheit sich weigert zu heiraten und beschließt, nur sich selbst zu gehören... Wenn wir uns immer nur anderen zuwenden, einer Person, einer Gruppe, Verwandten, Kollegen und Freunden, wieviel Zeit, Raum und Energie bleibt dann... für uns selbst?... Wenn Artemis in unser Leben tritt, erleben wir uns nicht länger nur als Teil einer Gruppe, eines Paares, einer Familie; Artemis steht für eine Entwicklung weg von... der Fusion mit anderen, deren extremstes Beispiel die Verbindung einer Mutter zu ihren kleinen Kindern ist. Artemis... lädt zum Rückzug ein, zur Autonomie.“
In ihrem Kapitel „Die Heilung der Schuld“ fährt die Autorin fort: „Unsere Kultur braucht neue Rituale und Gesetze, um der Abtreibung ihre sakramentale Dimension wiederzugeben... Ich habe von Frauen gehört, die ihre Leibesfrucht direkt ansprechen... und ihr erklären, warum es nötig ist, daß sich ihre Wege jetzt trennen. Andere schreiben einen Abschiedsbrief und lesen diesen dem Partner, einem Freund oder der ganzen Familie vor. Manche entwickeln ihr eigenes Abschiedsritual und lassen sich dabei von den Ritualen anderer Kulturen inspirieren, indem sie zum Beispiel eine kleine Puppe als Symbol des abgetriebenen Fötus einer Gottheit opfern.
... Abtreibungsgegner verstehen die spirituelle Dimension, begrenzen sie aber auf die orthodoxe Lehre, als ob andere Formen der Spiritualität nicht existieren würden. Was, wenn meine religiösen Überzeugungen paganistisch sind?“13

Diese befremdlich klingenden Ideen sind nicht so weit weg, wie wir vielleicht glauben mögen. Indem sie sich bewußt auf alte heidnische Gedankenwelten mit ihrem Verständnis von Moral und Verhalten zurückziehen, führen sie den Untergang des Menschen herbei. Sie beschreiben die dunklen Praktiken, denen der Mensch unweigerlich verfällt, wenn er sich selbst überlassen bleibt.

Welcher Geist?

Bibelleser wissen sehr wohl, daß es andere „Götter“ und andere Spiritualitäten gibt. Im Alten Testament kann man nachlesen, wie oft Israel im Kampf gegen die Verführungskraft dieser anderen Spiritualitäten, die es seit Jahrtausenden gibt, erlag. Für Menschen, die nicht in einer gefühlsarmen, säkularen Welt leben möchten, sieht jede Form der Spiritualität zunächst wie etwas Gutes aus, weil sie ihnen Sinn anbietet und die Angst abwehrt, ihr Leben sei nur das Leben einer Maschine. Aber die entscheidende Frage lautet nicht: „Gibt es einen Geist?“, sondern: „Welcher Geist?“.

Am Berührungspunkt zwischen Mensch und Gott, zwischen dem Menschen und Gottes geoffenbartem Recht, zwischen Zeit und Ewigkeit, steht für jeden Einzelnen unablässig die unnatürliche Frage nach der moralisch-ethischen Entscheidung.14 Und in jedem Augenblick unserer Existenz zielt mit der Intensität eines Lasers die Frage „welcher Geist?“ auf die unsichtbare Spitze unseres Seins. Nur indem wir immer wieder, unser Leben lang, diese Frage beantworten, in unserem Denken, Reden, Tun und Handeln, entdecken wir, wer wir in Wahrheit sind; und nur in diesem Sinn sind wir Mitschöpfer Gottes.
Die Bibel sagt, daß die geistliche Dimension der Wirklichkeit letztlich nichts mit sogenannter „Magie“ zu tun hat, mit veränderten Bewußtseinszuständen, einer vitalen Ichentwicklung, mit Göttinnen, mit Archetypen oder den Instinkten, die zu Göttern gemacht werden. Die Bibel sagt vielmehr, daß das alles überragende Prinzip dessen, was besteht, das Wesen Gottes ist und daß dieses in seinem geoffenbarten Recht, seinem Gesetz über Gut und Böse, aufscheint.
Die Spiritualität, die sich in der Vergangenheit unter gnostischem Einfluß entwickelt hat und heute wieder neu aufgelegt wird, zeichnet sich dadurch aus, daß sie den Glauben an das Primat der moralisch-ethischen Dimension, wie sie die jüdisch-christliche Tradition postuliert, ablehnt. Wenn diese moralische Dimension aber hinweggetan, relativiert oder auf eine kosmische Ebene übertragen wird, geht die intensive Spiritualität des Gnostizismus schnell in einen eindeutig amoralischen Materialismus über. Dabei geht die Anbetung der vielen „Götter“ in der endlosen Suche nach Lust auf – ungeachtet der Kosten.

Der  Apostel Paulus sprach in Rom zu allen, die es hören wollten. Er forderte sie auf, die „Anbetung“ der Sexualität in ihren vielen Götterformen aufzugeben und stattdessen dem Einen Heiligen Gott Israels nachzufolgen. Die „Götter“ sind nur multikulturelle Varianten der ewiggleichen Baal, Astarte und Moloch. Gegen ihre Anbetung hatten schon die Propheten Israels gekämpft und dabei den Zusammenhang zwischen Götzendienst und ungezügelter Sexualität deutlich gemacht.
Im Alten Testament (3. Mose 18,22 und 20,13) werden homosexuelle Beziehungen als „toevah“, als „Greuel“ bezeichnet. Das hebräische Wort „toevah“ wird [außer im Zusammenhang mit verschiedensten sexuellen Verfehlungen] meist gebraucht, um rituelle Prostitution, Magie, Wahrsagerei und Götzendienst zu verurteilen und außerdem da, wo es um die Verletzung spezieller jüdischer Vorschriften geht wie der Entweihung des Sabbat.
Paulus bringt im Neuen Testament in Römer 1,22–27 dieselbe unpopuläre Botschaft und zieht dieselbe Verbindung zwischen Götzendienst und ungezähmter Sexualität:
„Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere. Darum hat Gott sie in den Begierden ihrer Herzen dahingegeben in die Unreinheit, so daß ihre Leiber durch sie selbst geschändet werden, sie, die Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient haben statt dem Schöpfer, der gelobt ist in Ewigkeit. Amen. Darum hat Gott sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein mußte, an sich selbst empfangen.“ (Römer 1, 22-2715)

Die heutigen Veränderungen in der Auffassung darüber, was Homosexualität ist,  kommen im Gewand des wissenschaftlichen Fortschritts einher – obwohl in Wirklichkeit die Wissenschaft diese neuen Auffassungen eher untergräbt als stützt. Tatsächlich findet eine grundlegende Veränderung der öffentlichen Moralvorstellungen statt, verbunden mit einer weitverbreiteten Absage an die jüdisch-christliche Ethik, auf der doch unsere westliche Zivilisation fußt. Was als „Fortschritt“ gefeiert wird, ist in Wirklichkeit eine Rückkehr zu alten paganistischen Praktiken, unterstützt durch die moderne Wiederaufnahme eines gnostischen moralischen Relativismus.

Für den einzelnen homosexuell Empfindenden ebenso wie für jeden von uns in seinen eigenen seelischen Verletzungen und für unsere Kultur als Ganzes liegen die Optionen so klar vor Augen wie für die jüdische Nation tausende von Jahren zurück inmitten ihrer paganistischen Umwelt: „Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch auf: das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch: So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen, indem du den Herrn deinen Gott, liebst und seiner Stimme gehorchst und ihm anhängst!  Denn das ist dein Leben und die Dauer deiner Tage, daß du in dem Land wohnst, das der Herr deinen Vätern geschworen hat, ihnen zu geben.“  (aus 5. Mose 30, 19–2016)

Anmerkungen

1 Die ausgesprochen antireligiösen Regierungen von Deutschland, Rußland und China haben zwischen 1920 und 1960 jeweils 12, 30 bzw. 50 Millionen Unschuldige getötet.

2 Jung, C. G., Zivilisation im Übergang, Gesammelte Werke Bd. 10, Walter, Olten 1974, S. 25.

3 Heine, Heinrich, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Drittes Buch, 1834.

4 Lewis, C. S., Dienstanweisung für einen Unterteufel, 4. A., Herder, Freiburg 1959, S. 7.

5 Zeller, M., The Task of the Analyst, Psychological Perspectives 6, no. 1, 1975, p. 74–78, zitiert in: Stein, M., Leiden an Gott Vater, C. G. Jungs Therapiekonzept für das Christentum, Kreuz, Stuttgart 1988, S. 264–265.

6 Stein, M., Leiden an Gott Vater, C. G. Jungs Therapiekonzept für das Christentum, aus dem Amerikan. von Odette A. Brändli und Evi Glauser, Kreuz, Stuttgart 1988, S. 265.

7 Jung, C. G., Gesammelte Werke, Bd. 9/II, S. 51.

8 Im englischen Original lautet hier das ganze Zitat von Jung, das Satinover angibt: „Die ursprüngliche christliche Anschauung der imago Dei, verkörpert in Christus, bedeutet zweifellos eine allumfassende Ganzheit, welche sogar die animalische Seite des Menschen (pecus!) in sich begreift. Trotz alledem ermangelt das Symbol Christi der Ganzheit im modernen Sinne, indem es die Nachtseite der Dinge expressis verbis nicht mit ein- sondern als luziferischen Gegenspieler ausschließt.“ Ebd.

9 Jung, C.G., Psychological Types, Collected Works, vol. 6, Princeton University Press, Princeton 1920, S. 17.

10 Kelsey, M. T. und B. Kelsey, Sünde, Tabu oder Geschenk, Sexualität und ihre psychologischen und spirituellen Aspekte, Claudius, München 1994.

11 Ebd.

12 Berger, B., „The Soul and the Machine“, NetGuide, Februar 1995.

13 Paris, G., The Sacrament of Abortion, Spring Publications, Dallas 1992. [Von Ginette Paris ist in deutscher Sprache das Buch erschienen: Aphrodites Wiedergeburt – Plädoyer für eine lustvolle Spiritualität, Spiegel Verlag, Zürich 1990. Anm. d. Ü.]

14 Da Satinover sich hier im Original auf Kapitel 8 seines Buches und auf bestimmte Begriffe aus diesem Kapitel bezieht, wurde die deutsche Übersetzung so geändert, daß der Satz verständlich erscheint. Siehe dazu die Originalversion in diesem Heft. Anm. d. Ü.

15 Nach der Übersetzung M. Luthers.

16 Elberfelder Übersetzung.

Textnachweis

Satinover, J., The Pagan Revolution, aus: Homosexuality and the Politics of Truth, von Jeffrey Satinover, 1996, Kapitel 16, Baker Book House, USA.

Von

  • Jeffrey Burke Satinover, M. D.

    Psychoanalytiker und jüdischer Autor, Ausbildung am C. G. Jung Institut, Zürich, ehemaliger Präsident der C. G. Jung Foundation, New York. Medizinischer Direktor am Temenos Institute in Connecticut, USA. Setzt sich in mehreren Veröffentlichungen kritisch mit C. G. Jung auseinander.

    Alle Artikel von Jeffrey Burke Satinover, M. D.

Kostenfreies Abonnement

Die Texte dieser Website sind fast alle in unserer Zeitschrift: „Bulletin. Nachrichten aus dem Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft“ erschienen. Das Magazin schicken wir Ihnen gerne im kostenfreien Abonnement zu. Das Bulletin erscheint in der Regel ein- bis zweimal im Jahr.

Hier können Sie das Bulletin abonnieren »

Spenden

Unsere Dienste finanzieren sich fast ausschließlich durch Spenden. Mit Ihrem Beitrag helfen Sie uns, unseren Auftrag in Kirche und Gesellschaft auch weiterhin wahrzunehmen. Herzlichen Dank, dass Sie mit uns teilen!

Mit PayPal spenden »
Zur Bankverbindung »