Reformation, Glaubenskriege und Grundrechte

Zusammenfassung eines Textes von Wolfgang Fikentscher
Ralph Pechmann

Einführung ins Thema

Zwei historische Stränge christlicher Staatslehre haben zur Entstehung der Grundrechtsdemokratie beigetragen: Die augustinisch-lutherische Zwei-Reiche-Lehre und die Zwei-Werte-Lehre1, die vor allem von Richard Hooker formuliert wurde. Beide haben sie nach den Evangelien (Lk. 22,24-27; Mt. 20, 25-28; Mk. 10,42-45) den Dienst am Nächsten als politische Lebensweise (nicht nur) für Christen geprägt. Denn die Kehrseite des Dienstes ist die politische Anerkennung der menschlichen Würde eines jeden als Ebenbild Gottes. Dieser politische Standard zeigt sich heute maßgeblich im „Geltenlassen der Meinungen anderer dienstbereiter Menschen und in der Ablehnung nichtverantwortbarer Macht über Menschen“2. Dass wir das heute so leben können, beruht auf einer Wert-Dichotomie3, die im politischen Ordnungssystem ethische Wertungsgrundlagen und politische Wertsetzungen verankert hat. Letztere setzen die ersteren voraus.

  • Wertungsgrundlagen manifestieren den politischen Sinn des Dienstes am Nächsten aus der Gleichheit aller Menschen vor Gott und durch das vorgelebte Beispiel des Menschensohnes. Bekannt als Grundwerte sind sie dem politischen Alltagsgeschäft vorgeordnet und bilden die Voraussetzung für den bürgerlichen Dienst und Dialog der „Gleichberechtigten und Gleichverpflichteten“4. Wertungsgrund­­la­gen sind dem Wandel entzogen.
  • Die politischen Wertsetzungen im Vollzug dieses Dienstes sind dagegen inhaltlich offene Akte. In der Geschichte wurden sie auch als Tageswerte bezeichnet, was ihre situativ rechtliche Gestalt hervorhebt. Im gesellschaftlichen Wandel und bei politischen Entscheidungen werden sie normativ wirksam (als ausführende Bestimmungen). Sie sind dem gesellschaftlichen Wandel zugeordnet und sollen ihn rechtlich regeln und widerspiegeln5.

Dem ersten Anschein nach ähnelt die Beschreibung dieser Dichotomie der augustinisch-lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. Diese unterschied eine heile Welt des Gottesreiches zur Rechten von einer unheilen, heilungsbedürftigen Welt der Menschen zur Linken. Martin Luthers Lehre der Zwei Reiche spiegelt bis auf den Tag den ambivalenten Charakter ihrer augustinischen Herkunft wider6, was hier jedoch nicht vertieft werden kann. Einerseits fördere sie eine unreflektierte Unterwerfung unter staatlich, politische Obrigkeiten (dem Reich zur Linken) und gleichsam in der Gegenreaktion die grundsätzliche Infragestellung derselben (unter Berufung auf das Reich zur Rechten). Der Mangel einer ekklesiologischen Grundlegung ließ die Frage, wie die konkrete gesellschaftliche Verantwortung des Christen aussehen kann, der auch Bürger des Reiches zur Linken ist, theologisch unbeantwortet und man konzentrierte sich geschichtlich auf ein Reich zur Rechten als dem „eigentlichen“ Ort christlicher Existenz. Daher „haftet der Zwei-Reiche-Lehre der gnostische Ruch der Abwertung des Diesseits an.“7 Die Bedeutungen des „in der Welt, aber nicht von der Welt“-Seins, ebenso wie Christi wiederholter Hinweis an die Jünger, den Dienst am Menschen ganz diesseitig, aber als Vorletztes, zu verstehen, blieben in ihrer Ambivalenz theologisch ungeklärt (siehe: Joh. 17,11 und 15). Der Verantwortungsrahmen des Bürgers im Reich zur Linken kam historisch viel eher in einer Zwei-Werte-Lehre (anglikanischen Ursprungs) zum Tragen, die sich auf Lk 22,24ff und andere Schriftquellen stützt.8 Die Entstehung der Grund- und Menschenrechte in Europa ist ohne das Konzept der Zwei-Werte-Lehre nicht zu verstehen. Es ist also eine enorm verkürzende historische Sicht, ausschließlich die Französische Revolution als Quelle der politischen Aufklärung anzusehen.

Wertgewinnung

Rechtsprechung ist mehr als ein formaler, methodischer Akt oder Diskurs. Alle juristischen Entscheidungen gründen auf einer werthaltigen Rechtsphilosophie. Sie unterrichtet über die Herkunft der Werte und diese geben Auskunft über die verbindlichen Normen, die im Rechtshandeln zum Tragen kommen. Dieses inhaltliche Geschehen können wir als Wertgewinnung bezeichnen.
Aber woher kommen Werte? Entstehen sie durch Diskussionen oder werden sie (von außen) einfach festgelegt? Werte seien eine Frage der mehrheitlichen Meinung und die Gesetze haben diese zu übernehmen und sich daran zu orientieren, lautet heute die schnelle Antwort. Die Athener Demokratie war die erste Polis, die nach diesem Prinzip der Mehrheitsmeinung funktionierte. Allerdings gab es implizit grundlegende Rechte, wie das Recht zur Versammlung aller griechischen Stände, der Isegoria, wie Herodot es nannte. Das könnte man als Vorform des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit begreifen. Unentziehbare Menschenrechte kannte die attische Demokratie nicht.
Die heutige Demokratie gründet sich aber nicht nur auf die Mehrheitsregel, sondern ebenso auf einen Grundrechtskatalog. Beide stehen in einer widersprüchlichen Spannung zueinander, denn einerseits „gilt, was die Mehrheit sagt, und die Minderheit verliert; aber die Minderheit der einzelnen und die jeweils kleinere Einheit haben (andererseits) unentziehbare Rechte, über die auch die Mehrheit nicht verfügen kann.“9 Solche Minderheitenrechte waren im Rechtswesen der attischen Polis nicht vorgesehen.

Zur Geschichte der Grundrechte – ein kurzer Überblick

Es muss einen Grund gegeben haben, dass dem attischen Mehrheitsprinzip der Gedanke unentziehbarer Rechte und Werte entgegengestellt wurde, sodass wir heute ein gegenläufiges Denken von „Mehrheitsprinzip einerseits und … Grundwertedenken andererseits“ als normal voraussetzen. Es ist wichtig, genau hinzuschauen, wenn wir die Herkunft dieser Denkart herleiten wollen. Entgegen landläufiger Vorstellungen haben die Reformatoren keine nennenswerten Impulse zur Entwicklung der Grundwerte beigetragen. Auch nicht die Magna Charta von 1215, die grundlegende Privilegien der Freien gegenüber der Krone einfordert und somit den Parlamentarismus in England begründet. Wohl hat sich der Jurist Edward Coke 1628 in Kommentaren darauf bezogen und gewisse Rechte allen Engländern zuerkennen wollen, was 1679 zur Habeas-Corpus-Akte10 und 1689 wiederum zu den Bill of Rights führte. Was Coke jedoch maßgeblich inspiriert hatte, war schon „zwischen 1572 und 1593 in den Niederlanden und in England gedanklich entwickelt worden“11. Die Herleitung der Grundwerte und Menschenrechte war primär kein rechtsphilosophisches Geschehen, sondern eine in akuter Bedrohung pragmatisch umgesetzte Grunderfahrung von Christen, die ihren konfessionellen Bekenntnissen verpflichtet waren.

In Kürze lässt sich dieser Prozess folgendermaßen beschreiben: Aus­­gangspunkt war der Freiheitskampf der Niederlande 1572 gegen den Herrschaftsanspruch der spanischen Krone. Das katholische Königshaus der Oranier und die protestantischen Stände der Niederlande formulierten zur Einigung gegen die spanische Krone die Erklärung, „dass jedermann das Recht zur freien Religionsausübung erhielt“, was in den Beschlüssen von Dordrecht am 15.7.1572 niedergelegt wurde und als „die politische Geburt des modernen Grundrechtsbegriffs“12 anzusehen ist. Der zweite und verstärkende Impuls kam 1592 in England aus der Feder des Kirchenjuristen Richard Hooker. Er legte im Auftrag der anglikanischen Kirche eine Rechtstheorie vor, in der er sich ausdrücklich auf die niederländischen Vorgänge bezog. Darin begründete er die juristische Unterscheidung zwischen den Rechten der „täglichen Dinge“ und den „unentziehbaren Rechten“, wobei die täglichen Dinge durch Mehrheitsentscheidungen zu regeln waren, die unentziehbaren Rechte dagegen der Mehrheitsregelung entzogen sein sollten. Das Recht der Minoritäten auf Versammlungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit wurde damit als unentziehbares Freiheitsrecht begründet.
Im Grunde schob der Kirchenjurist Hooker die Theorie zur politischen Praxis, die in den Niederlanden ab 1572 Geltung erlangt hatte, nach.13 „Erfunden haben (die) Grundrechte die Niederländer am Beispiel der Religionsfreiheit, der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit; die Theorie lieferte Richard Hooker.“14 Die Anerkennung der Religions-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch für Glaubende einer anderen Konfession, legte – damals noch nicht im Horizont – den Grundstein der Toleranz für eine säkulare gesellschaftliche Entwicklung. Der christliche Gedankengang dieser Anfänge mag heute nur noch bedingt nachvollziehbar sein, ihre heutige säkulare Erscheinungsform dagegen schon eher.

Säkularisierung

Säkularisierung kann man als eine Folge­erscheinung von religiösen Neuaufbrüchen und Lebensneuordnungen verstehen, sofern diese eine anhaltende und tiefgehende Wandlung gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht haben. Im Sinne des Ausschlags eines Pendels ist die säkulare Entwicklung der jeweils (notwendige) Gegenschwung, durch welchen ursprünglich religiöse Inhalte in den nicht-religiösen Kontext der Gesellschaften transformiert und erweitert werden. Die Schubkräfte dieser Neuerung eignen sich auch die Nicht-Glaubenden oder Andersgläubigen gesellschaftlich an, um sie sozial und politisch integrierend fruchtbar zu machen, was aber nicht ohne Transformation vonstatten geht.
Daraus wird aus säkularer Sicht ihre Rechtfertigung abgeleitet und die Legitimität dieses paradigmatischen Wandels gemessen, wofür man den Begriff der „säkularisierenden Nachkonstruktion“15 prägte. Die neu entstandene religiöse Lebensordnung wird aus ihrer religiösen, psychologischen und rituellen Rahmung herausgelöst und zur Erhaltung der Legitimation in einen zunehmend nichtreligiösen „rationalen“ Begründungszusammenhang gehoben. „Das neue ‚Nichtreligiöse’ wird dann gern mit dem – an sich wenig aussagekräftigen – Ausdruck der ‚Rationalisierung’ belegt, nicht, weil der Verstand jetzt das leistet, was vorher die religiöse Bindung zu leisten imstande war, sondern nur als Bezeichnung für den (angeblichen) Mangel an religiöser Bedingtheit. Die Phase der Säkularisierung erweitert nun solange in systematischer Weise die Kenntnisse und Nutzungsmöglichkeiten der neuen Lebensordnung, bis sich säkulares Denken und Leben gegen seine religiösen Wurzeln wendet. Wo sich profane und religiöse Welten gegeneinander wenden, tritt zutage, dass ohne die religiöse Verankerung die neue Ordnung ins Gleiten und Wanken gerät. (…) Säkularisierung ist also… eine verdeckte Mission und zwar zugunsten jener Lebensordnung entwerfenden religiösen Bewegung, die durch Säkularisierung ‚rationalisiert’ werden soll.
Der gegenwärtige Export der grundrechtsdemokratischen Verfassung ist in diesem Sinne vermutlich die größte Missionsbewegung seit der paulinischen und islamischen Mission, nur dass man das wegen der Säkularisierungsphase, in der man sich befindet, kaum bemerkt. Denn mit der Annahme einer grundrechtsdemokratischen Verfassung legt sich ein Land auch jenen Bestand an religiösen Voraussetzungen zu, die der Grundrechtsdemokratie historisch anhaften.“16
Die religiösen Wurzeln der „rational“ säkularisierten Lebensentwürfe werden momentan wieder erhöht auf ihre Sinnhaftigkeit und Legitimität für die säkulare Gesellschaft hin überprüft. Ein Wanken im säkularen Selbstverständnis zeigt sich gegenwärtig im Ringen um die rechtsphilosophische Interpretation der Menschenwürde. Die Konvergenz ihrer christlichen und aufgeklärten Ursprünge wird im Kontext postmoderner Genderideologie in Zweifel gezogen und dagegen ein vergesellschaftetes Alleinstellungsmerkmal behauptet. Säkularisation kommt letztlich nicht ohne ihre religiösen Wurzeln aus.17 So kleidet der zeitgenössische Philosoph Charles Taylor dies Thema in die Frage: „Warum fällt es zumindest in vielen Milieus des modernen Westens so schwer, an Gott zu glauben, während es um 1500 praktisch unmöglich war, nicht an ihn zu glauben?“18 Nach Okko Behrends ist „das religiös bedingte Entwerfen neuer Lebensordnungen und danach ihre zugleich verbreiternde, vulgarisierende und aushöhlende Säkularisierung“ als Bewegung von „Systole und Diastole im Herzen eines lebendigen Organismus“ zu verstehen.19 Unter diesen Voraussetzungen ist es angebracht, die nichtsäkulare, religiös motivierte Entstehung der Grundrechte historisch eingehender zu betrachten.

Zur nichtsäkularen Entstehung der Grundrechte

Viel ist über die Entstehung und die Entwicklung der Menschenrechte geschrie­­ben worden, meist in dem Tenor, als hätten die Menschen plötzlich angefangen, nach Grundwerten oder Grundrechten zu fragen. Das gibt diesen Schriften oft einen abstrakten Charakter. In Wirklichkeit bildeten sich die Grund- oder Menschenrechte (im Folgenden synonym verwendet) über längere Zeiträume als Antwort auf konkrete notvolle Fragen heraus. Obwohl viele Schriften sich in ihren Quellen auf Vorläufer der Grundrechte beziehen, münden die meisten in die Entwicklung der Volkssouveränität des 17. und 18. Jahrhunderts ein und richteten ihren Fokus fälschlicherweise nur auf die Französische Revolution. Es lohnt sich deshalb, den oben skizzierten geschichtlichen Überblick nochmals im Detail anzuschauen.

Die Dordrechter Beschlüsse – Entstehung der unabhängigen Niederlande
Es waren nicht zuerst die Gedanken, die ein derart wichtiges Thema wie die Grundrechte zum allgemeinen Diskussionsgegenstand erhoben. Vielmehr gaben die dramatischen und blutigen Religionskämpfe der Konfessionen im 16., 17. und 18. Jahrhundert diesem Verlangen den nötigen Zündstoff. Verfolgen wir die Geschichte rückwärts, so lässt sich unschwer belegen, dass sich „die Französische Revolution auf die Enzyklopädisten, diese auf die Founding Fathers, die Founding Fathers auf John Locke, John Locke auf Edward Coke und beide auf Richard Hooker“20 stützten. Hooker wiederum entwickelte seine Grundrechtsgedanken in der Auseinandersetzung mit den Dokumenten der niederländischen Revolution, die bereits 1566 ihren Anfang nahm und in der verbrieften Zubilligung gegenseitiger Religions- und Versammlungsfreiheit „auf der … Dordrechter Ständeversammlung vom 15./16. Juli 1572“21 einen öffentlichen, rechtlichen und politischen Charakter bekam. Das war die Geburtsstunde der niederländischen Republik. 

Wilhelm der Schweiger
Im Vorfeld der Dordrechter Beschlüsse hatte es einschneidende Umbrüche gegeben. Das Konzil zu Trient endete 1563 und brachte keine befriedigenden Ergebnisse nach den Umbrüchen durch die lutherische und calvinistische Reformation, was zur Folge hatte, dass unter dem spanischen Herzog Alba 1566 die Inquisition auf die calvinistischen Niederlande ausgeweitet werden sollte. Zugleich hatte man sich im Gebiet der Niederlande gewehrt, eine von Spanien verhängte Umsatzsteuer einzuführen. Der calvinistische Aufstand 1572 unter der Führung von Ludwig, dem Bruder von Wilhelm von Oranien, führte zwar zur Unabhängigkeit holländischer Gebiete von der spanischen Krone, konnte deren Macht aber nicht brechen. Im Gegenteil: Herzog Alba führte Massentötungen als „Strafaktion“ durch, den „Blutzug 1572“. Dies trieb auch die katholischen Bürger auf die Seite der Aufständischen. 

Am 15.7.1572 entschieden sich die Staten (Ständevertreter) von Holland-Westfriesland und Seeland für die Trennung von Spanien und erklärten Wilhelm von Oranien zu ihrem „Statthalter“, was ein politischer Affront gegen die spanische Krone war. (Wilhelm I., genannt „der Schweiger“, wurde trotz seiner lutherischen Herkunft aus dem Hause Nassau-Dillenburg als künftiger Herrscher der Niederlande im katholischen Glauben an der Seite Karls V. erzogen. Auf diese Weise nahm er als Vertrauter Karls V. an vielen Treffen mit ausländischen Gesandten teil und erhielt so Einblick in die politisch-religiösen Umbrüche im Römischen Reich Deutscher Nation.) Wilhelm forderte vom spanischen König Phillip II. die Abschaffung der Inquisition und versagte ihm die Umsetzung der Beschlüsse von Trient. Als Wilhelms Vertreter in Dordrecht fungierte der calvinistische Jurist Marnix de St. Aldegonde, der die Spielregeln des Gesellschaftsvertrages aushandelte, wonach allen Konfessionen die gleichen Rechte zustanden. Nach der Zustimmung der Staten-Vertreter trat Wilhelm I. sein Amt als „Statthalter“ der Niederlande am 21.10.1572 an. Die zielstrebige Stringenz dieser demokratisierenden Ereignisse ist erstaunlich, zumal kurz zuvor in Frankreich das Blut vieler Hugenotten in der Bartholomäus-Nacht (23/24.8.1572) geflossen war.
Allerdings beugte sich Wilhelm bereits 1573 einem neuen Statenbeschluss, wonach die calvinistische Kirche „die Vorhand genießen müsse und die anderen, insbesondere die katholischen und lutherischen Bekenntnisse, nur gewisse Schutzpositionen zugebilligt“ bekamen. Dieses Recht währte bis 1795. Dennoch war es der Geist von Dordrecht, der über Jahrhunderte dafür sorgte, dass in den Niederlanden Menschen unterschiedlichster Bekenntnisse unbehelligt nebeneinander leben konnten.

Das Grundrechtsdenken – in der christlichen Religion begründet
Das verbriefte Recht der Religionsfreiheit, insbesondere der Katholiken und der Protestanten, war die Bedingung von Wilhelm I. gewesen, bevor er seine Zusage als Statthalter in die Praxis umsetzte. Was hatte ihn dazu bewogen? In verschiedenen Dokumenten, die aus seiner Feder flossen,22 lassen sich seine Argumente gut nachvollziehen. In der Defensio schrieb er von der Unterdrückung der Glaubensfreiheit in Spanien und den eroberten südamerikanischen Gebieten. Ebenso erwähnte er einen warnenden Hinweis des französischen Königs (sehr wahrscheinlich Heinrich III. von Valois), der sich auf die mutmaßlichen Greueltaten der spanischen Conquista in der leyenda negra von Las Casas bezog. Unter dem Eindruck dieser Nachrichten glaubte Wilhelm I, dass in den Niederlanden das gleiche Blutbad gegen alle Ketzer folgen würde. Herzog Albas „Blutzug von 1572“ schien diese Annahme zu bestätigen und Wilhelms Politik war darauf gerichtet, das „grausame Töten“, wie er schrieb, „den Niederländern zu ersparen.“
Dabei unterstützte ihn die katholische Minderheit der Niederlande, wie auch die calvinistische Mehrheit es tat. „1572 und öfter noch danach drang Wilhelm auf Verbriefung und Gewährung religiöser Bekenntnisfreiheit und den dazugehörigen Freiheiten, sich zu versammeln…, seine Meinung frei zu äußern. Er glaubte dies seiner christlichen Überzeugung schuldig zu sein.“23

Wie ist nun der Übergang vom Toleranzgedanken gegenüber verschiedenen Glaubensüberzeugungen zum Gedanken unentziehbarer Grundrechte zu verstehen? Das kann hier nur kurz wiedergegeben werden.
„Seinen Anfang nahm… das Grundrechtsdenken in der Religion. Der durch Luther, Zwingli, Calvin u. a. reformierte, d.h. versuchsweise auf seinen ursprünglichen Inhalt zurückgeführte Glaube besagt im wesentlichen: Der Mensch muss hinsichtlich seines Schicksals und der Beurteilung seines Handelns voll auf seinen Gott vertrauen. Er kann sich weder im Diesseits noch im Jenseits durch Einsatz noch so großer Kräfte geistliche Vorteile verdienen.“ Der Toleranzgedanke entsprang der Wiederentdeckung eines leistungsfreien Glaubens, gänzlich auf Gottes Wohlwollen angewiesen zu sein und dem Vertragsgedanken, politische Herrschaft nicht mehr mit einer (konfessionellen) Glaubensleistung zu begründen („So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ [Mt 22,21; Lk 20,25]) „… Der darin liegende Widerspruch – angewiesen sein auf Gottes Wohlwollen und dennoch Versprechen der Einhaltung von Rechtsregeln – kann nur durch ein diesem Gott entgegengebrachtes persönliches Vertrauen überbrückt werden. Hierbei bedingen absolute Souveränität Gottes und Vertrauen einander. Anders ausgedrückt: Vertrauensbegriff, Rechtfertigung durch den Glauben statt durch Werke, christliche Vergebung und freies Handeln in der Zeit sind vier Aspekte der gleichen Sache.“24 Daraus ergeben sich vier existentielle Orientierungen, welche den Rahmen der Grundrechtsentwicklung bildeten (und deren knappe Erläuterung ich hier einfüge, R.P.): 

  • Vertrauen als lebenspraktischer Vollzug christlichen Glaubens machte diese Haltung zum Kern rechtlicher Gegenseitigkeit. Vertrauen ist die Haltung, die Gewissheiten und Zweifeln Raum gibt. Glaubensgewissheiten als Inhalte der Rechtsformulierung wurden der Person zugewiesen, aber der Gedanke der Gegenseitigkeit wurde in die Verträge aufgenommen. Die Kehrseite der Gewiss­heiten war der begründete Zweifel. Damit wurde im Sinne des Evangeliums das prüfende „Kommt und seht“ (Joh. 1,39) der christlichen Verkündigung als legitim anerkannt. Noch eindringlicher betont Paulus diese prüfende Haltung, wenn er schreibt: „Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet“ (1.Thess. 5,19-21). Diesem Zweifel war ein rechtlicher, rationaler Rahmen zu geben (was René Descartes ca. 70 Jahre später als Erkenntnismethode begründen sollte). Der Zweifel selbst setzte also Gewissheiten voraus, deren Legitimität er wieder befragte.
  • Mit der politischen Umsetzung der Rechtfertigung des Sünders durch Glauben statt durch Werke wurde der menschlichen Existenz unabhängig von ihren Leistungen ein Daseinsrecht zugesprochen, was in die Formulierung der Grundrechte einfloss und zugleich den Zweck des Menschen um seiner selbst willen bestärkte.
  • Die prinzipielle Möglichkeit eines Neubeginns aus der Praxis der Vergebung vermittelte eine Zukunftsoffenheit des Lebens durch begangene Irrtümer hindurch. Mit der gegenseitigen Anerkennung der Irrtumsmöglichkeit nahm der Toleranz­gedanke Konturen an, dass der Andersglaubende auch Wahrheit reden kann. Aus diesem Aspekt der christlichen Sicht vom Menschen fasste der Theologe Reinhold Niebuhr am Ende des zweiten Weltkriegs den Sinn der Demokratie in die Worte: „Die Fähigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, die Neigung des Menschen zum Unrecht macht sie notwendig.“25
  • Die Freiheit des Handelns erweiterte sich mit der reformatorischen Überwindung eines verkürzten aristotelisch-scholastischen Naturrechts als einzigem Begründungsrahmen für sinnvolles (zweckorientiertes Handeln) durch die Rückbesinnung des Glaubens auf seine Wurzeln und Quellen (ad fontes). Gesellschaftspolitische Entscheidungen wurden zunehmend als Bewährungsfelder der Freiheit eines Christmenschen angesehen.

Leistungsfreies Vertrauen in Gott, Gewissheit und sinnvoller Zweifel, die Grenzen eigenen Erkennens und die Wahrheitsfähigkeit des anderen, sowie die Wiederentdeckung der paulinischen Freiheit des Christseins hatten ihre Perspektive in einer unverfügbaren personalen Wahrheit und zukünftigen Gerechtigkeit. Das ist wesentliches Erbe des christlichen Glaubens, Vorbedingungen für die Entwicklung des Toleranzgedankens und der Grundrechte. 

Die gegenseitige Anerkennung des Rechts auf freie Religionsausübung nahm damit ihren Anfang. „Diese Umsetzung des christlichen Zweifels in Organisation heißt Grundrechtsdemokratie.“26 Es war die Errungenschaft des Kreises um Wilhelm den Schweiger, der „damit allen politischen Durchsetzungsversuchen inhaltlicher Gewissheiten“ eine Absage erteilte. Vielmehr setzte sich der „sokratische Zweifel an der Trennbarkeit von Unkraut und Weizen durch“27 und „die geforderte Religionsfreiheit erzwang eine liberale Haltung gegenüber der menschlichen Meinung überhaupt, und damit eine demokratische Regierungsform … Bei Richard Hooker wird der Zweifel zu einer vollständigen Rechts- und Staatstheorie ausgebaut (1586-1592), die sich über John Locke Weltgeltung als ‚Demokratie’ verschaffte.“28

Zwischenergebnis
Zur eingrenzenden Konkretion seien noch zwei Einzelheiten erwähnt: Zum einen sei darauf hingewiesen, dass auch nach Einführung zuerkannter persönlicher Religionsfreiheit unter Wilhelm I. von Oranien weiterhin die im Feudalismus legitimierte Herrschaft des Menschen über den Menschen Bestand hatte, wenn auch in reformatorischer Neudeutung. Die Volkssouveränität war in Wilhelms Vermaninghe29 festgelegt worden. Daran schlossen sich der Gesellschafts- und der Herrschaftsvertrag, die Intentie an, welcher durch den zusätzlichen Beschluss der Verbürgung der Religionsfreiheit ergänzt war. Die Freiheit war jedoch noch nicht im modernen Sinne unentziehbar verbürgt, wie die Ereignisse von 1573 deutlich machen. Ihre theologischen und politischen „Versprechen“ wirkten zukunftsweisend. Selbst in der Utrechter Union vom 23. Januar 1579 wurden ihre Grundsätze wiederholt. „Die geforderte Religionsfreiheit erzwang eine liberale Haltung gegenüber der menschlichen Meinung überhaupt, und damit eine demokratische Regierungsform.“30
Volkssouveränität und individuelle Selbstbestimmung wurden zwar noch durch feudale Vertrauensstrukturen umgesetzt und nicht in einem unmittelbaren Wahlrecht des Bürgers. Dennoch waren sie hier, durch die politische Reform der Niederlande, zukunftsweisend postuliert worden und konnten sich langfristig sogar gegenüber der absolutistischen und personalisierten Herrschaftsidee der Aufklärung behaupten, die sich, begünstigt durch militärische Notwendigkeiten und offensichtliche Modernisierungsversäumnisse des Trienter Konzils bald europaweit durchzusetzen begann.
Zum anderen ist bemerkenswert, dass die Unabhängigkeitserklärung der Niederlande vom spanischen Reich am 26.7.1581 in ihren Gedanken und Begründungen über weite Bereiche in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4.7.1776 wiederzufinden ist. In der Unabhängigkeitserklärung der Niederlande vom 26.7.1581 zeigt sich das „Bild des in religiösen Dingen und daher auch im politischen Bereich selbstverantwortlich entscheidenden Menschen, der das göttliche und natürliche Recht hat, sich gegen Gewissenszwang zu verteidigen und sich zu diesem Zwecke zu organisieren, und der dabei auf die abweichenden Überzeugungen der anderen Menschen Rücksicht zu nehmen hat.“31

Richard Hooker

In seinem Werk Of the Laws of Ecclesiastical Polity nahm der anglikanische Kirchen­jurist Richard Hooker die Entwicklungen der niederländischen Rechtsformen auf und entwickelte sie im Blick auf England theoretisch weiter. Er arbeitete seit 1586 daran und legte die ersten Teile 1592 vor. Wesentlicher Fortschritt darin war seine Unterscheidung der täglichen Dinge von den unentziehbaren Rechten. Die täglichen Dinge, bei Hooker in den Ausdrücken “things indifferent“, “matters to be judged in the light of nature”, “matters of common discretion” verwendet, meinten ausführende Rechtsbestimmungen. Sie standen den fundamentalen Werten, den “main parts of Christian truth”, “things ne­cessary”, “foundation of faith” gegenüber. In seiner Rechtstheorie nahm er verschiedene Gedankenquellen zum Recht auf Widerstand gegen den gottlosen Fürsten auf32, u. a. diejenigen des Kreises um Wilhelm I. von Oranien. Er präzisierte das Recht auf Widerstand, indem er seine Gründe bestimmte und seine Grenzen formulierte: Einerseits gründete Hooker es auf das Entscheidungsprinzip der Mehrheitsdemokratie im Sinne der attischen Tradition, sodass die Willensbildung des Einzelnen an die Willensäußerung der Mehrheit gebunden war. In dieser Frage wurde die Willensäußerung der Minderheit der Hürde der Mehrheitsregelung unterworfen. Andererseits sollte die durchaus fehlbare Mehrheitsentscheidung ihre Grenze an „unaufgebbaren, majoritäts-, kirchen-, und obrigkeitsfesten Grund- und Basiswerten“33 finden, wie sie Hooker in der Gewissensfreiheit des Einzelnen begründet sah. Sich auf sein Gewissen zu berufen, galt bisher als seelsorgerliche aber nicht als rechtlich verbriefte Freiheit. Sie sollte nicht länger als individuelle Notlösung samt ihren negativen Folgen für den Einzelnen der staatlichen und kirchlichen Mehrheit ausgeliefert sein (erinnert sei hier an Luther in Worms, samt seiner Folgen). Thomas von Aquin hatte im 13. Jh. den individuellen Gewissensentscheid als einen seelsorgerlichen Ausweg für den Einzelnen in strittigen Fragen anerkannt, ihn aber als Notlösung angesehen und nicht zum Recht des Glaubenden erhoben. „Das Gewissen als politische Instanz – und nicht nur das Gewissen der pastoralen Notlösung – ist für Hooker maßgeblicher als das Naturgemäße; jedenfalls [hat]… die englische und amerikanische Demokratietheorie… ihn so verstanden. Totalitäre Regierungsformen und Philosophien haben das Gewissen immer bekämpft oder für den Ausdruck eines falschen gesellschaftlichen Bewusstseins erklärt.“34 Die Berufung auf das Gewissen wurde von Hooker nun zu einer Grundrechtstheorie ausgestaltet, sodass die Äußerung der persönlichen Überzeugung gegen die Obrigkeit durchgesetzt werden konnte und zugleich gegen die Macht der Mehrheit durch Rechtswerte und Gesetze gesichert war. Diese Entwicklungen berechtigen zu der Behauptung, dass die Grundrechte mit der Rechtstheorie Richard Hookers Gestalt annahmen und „christlichen Ursprungs sind.“35

Die historische Aufnahme und Bedeutung von Hookers Rechtstheorie widerlegt die gängige Behauptung, die Grundrechtsdemokratie entstamme der griechischen Klassik oder dem Humanismus. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit, begründet in der Gewissensfreiheit, nahm durch Hookers Entwurf Gestalt an und rückte die katholische Ansicht zurecht, „wonach die Bibel für das, was der Mensch glauben soll, unzureichend ist. Denn das verleite dazu, dass Menschen anderen Menschen vorschreiben, was sie glauben sollen.“ Ebenso wurde dadurch der puritanische Standpunkt korrigiert, „wonach alles und jedes, was der Mensch tun und lassen soll, in biblischen Geboten und Verboten vorgezeichnet ist. Denn das hindert den Menschen, seiner eigenen gottgegebenen Vernunft und Überzeugung zu folgen, wo dies nötig ist …“36
Die rechtliche Ausgestaltung unverfügbarer Grundwahrheiten beantwortete drei Problemstellungen: „Weltliche Parlamente, königliche Gewalt und – über das Toleranzgebot – kirchliche Gewalt haben die Grundwahrheiten zu achten. Es geht dabei um den Schutz des einzelnen und der Minderheit.“37 Mit der Unterscheidung von täglichen Dingen und Grundrechten wurde von Richard Hooker zum ersten Mal der duale Charakter der „mehrheitsdemokratischen Beschlussfassung und unentziehbarer Glaubenspositionen auf eine theoretische Formel gebracht“38 – und das zwanzig Jahre nach den Versammlungen in Dordrecht (1572). 

Zusammenfassend lässt sich sagen: „So wie sich die Vorstellung von rechtlich geschützten und staatlicherseits zu gewährenden unentziehbaren Werten des Menschen im 16. Jahrhundert entwickelt hat, vor allem im Kreis um Wilhelm den Schweiger, und, vermittelt über die Dutch Colony in England, Richard Hooker, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Menschenrechte, so wie wir sie heute verstehen, christlichen Ursprungs sind, unbeschadet ihrer – politisch labilen – tragischen Vorformen in Polis und Genossenschaft wie Asylrecht, Isegoria, Aidos, Bürgerrechten und fränkisch-feudaler Partizipation.“39

Richard Hooker und Martin Luther

In Grundzügen lässt sich eine Übereinstimmung zwischen Luthers Zwei-Reiche-Lehre und Hookers Zwei-Werte-Lehre erkennen, indem Luther ein begrenztes Widerstandsrecht gegen den Fürsten (tyrannus particularis) von einem umfassenden Widerstandsrecht gegen den Großtyrannen (tyrannus universalis) unterschied. Der Großtyrann sei an seinem Anspruch, beide Reiche seinem Willen zu unterwerfen, erkennbar. Er setze nicht Gewalt gegen Recht, sondern maße sich an, selber die Verkörperung des Rechts zu sein. Dadurch deutete Luther indirekt an, dass es einen Kern unentziehbarer Glaubensdinge gebe, die nicht dem rechtsetzenden Herrscherwillen unterworfen sein dürfen und für deren Freiheit man zu kämpfen habe. Dennoch nahm bei Luther das Verhältnis der Zwei Reiche zueinander keine wirkliche Gestalt an. Der theologische Gedanke einer Gewaltenteilung im Sinne der Zwei-Schwerter Theorie (das Verhältnis geistlicher und weltlicher Herrschaftsbereiche nach Mt 22,21 und Lk 20,25) blieb bestehen, aber eine politische Mitverantwortung innerhalb der weltlich politischen Strukturen konnte nicht gedacht werden.
Hooker sah die Christen in der Verantwortung sowohl für die unaufgebbaren Grundwahrheiten, die nicht parlamentarisch zu entscheiden waren, als auch für die täglichen Dinge, die zu entscheiden waren. Auch die täglichen Dinge oblagen für ihn der Verantwortung, die der Christ mit seiner gottgegebenen Vernunft beantworten sollte. Hooker spricht nicht vom „Gesetz“, sondern vom „Recht“: „Nach Hooker gibt sich das Volk das ‚Recht‘ selbst, in den ‚Parlamenten und Räten‘, in Anwendung gottgegebener menschlicher Vernunft: Die Menschen ‚erziehen‘ sich also selbst, im ‚Reich zur Rechten‘ (in Luthers Denkweise).“40
Der Gebrauch der Begriffe „Gesetz“ bei Luther und „Recht“ bei Hooker verdeutlicht die unterschiedlichen Ansichten. Luther sah im weltlichen Gesetz des Reiches zur Linken „den Zuchtmeister auf Christus hin“ und darin den Willen der Obrigkeit, verkörpert im Herrscher, solange dieser sich auf seinen diesseitigen Zuständigkeitsbereich beschränkte.41 Ob Richard Hooker, Calvins Erben oder Martin Luther den Gedanken das erste Mal formulierten, ist letztlich unerheblich. Bedeutsam ist vielmehr die Tatsache, „dass sich die Menschen in den täglich zu erledigenden Dingen zusammensetzen sollen, um sich Regeln zu geben, nach denen sie in gegenseitiger Achtung, einer als des anderen Diener, auf der Basis von Grundwerten leben wollen. Wichtig ist dagegen zu erkennen, dass die rechtliche Lebensform, genannt Grundrechtsdemokratie, das profanisierte ‚Laienpriestertum‘ der Reformation ist. … Grundrechte und Volkssouveränität bildeten nach der Reformation eine gedankliche Einheit.“42

Anmerkungen

Es handelt sich um den Text von Wolfgang Fikentscher: Zwei Wertebenen, nicht zwei Reiche: Gedanken zu einer christlich-säkularen Wertontologie, in: Fikentscher, Heitmann, Isensee, Kriele, Lobkowicz, Scholz (Hrsg.), Wertewandel – Rechtswandel, Resch-Verlag, Gräfelfing 1997, S. 121-166.
Wolfgang Fikentscher, Prof. em. Dr. jur. Dr. jur. h.c., ist Jurist und Rechtsanthropologe. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Deutsches, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der LMU in München inne. Zusätzlich lehrt er an der University of California School of Law in Berkeley, Kalifornien.

1 Wolfgang Fikentscher gebraucht den Begriff „Zwei-Werte-Lehre“, um das Konzept von Richard Hooker u.a. zu beschreiben, ein in Deutschland wenig geläufiger Begriff.

2 Fikentscher, Wolfgang: Zwei Wertebenen, nicht zwei Reiche: Gedanken zu einer christlich-säkularen Wertontologie, a.a.O., S. 121.

3 Zweiteilung

4 Ebd., S. 121.

5 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausführungen Fikentschers, ohne die Voraussetzungen des „Wertgedankens“ zu thematisieren. Hierzu sei verwiesen auf die Essays von Carl Schmitt, Eberhard Jüngel, Sepp Schelz: Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979.

6 Siehe Fikentscher, Anm. 2; Heckel, Martin: Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: Listl, Joseph; Pirson, Dietrisch (Hrsg): Handbuch des Staatskirchenrechts der BRD, 1. Bd. M. Heckel schreibt (185): „Es gehört zur Tragik der evangelischen Theologie und Kirchenbildung, dass die reformatorischen Grundpositionen zur Zwei-Reiche-Lehre und Ekklesiologie sich schon im 16. Jahrhundert nicht institutionell entfalten konnten… Bis ins 20. Jahrhundert ist der evangelischen Kirche nicht die Entwicklung einer theologisch begründeten Kirchenverfassung und Kirchenverfassungstheorie gelungen.“

7 Fikentscher, a.a.O., S. 122; Zur Klärung der Gnosis im hier gemeinten Sinne siehe: Fikentscher: Modes of Thought, Tübingen 1995; S. 159, S. 162f.

8 Siehe Anm. 2; Richard Hooker erhielt im 16. Jahrhundert von der jungen anglikanischen Kirche den Auftrag, eine Kirchenverfassungstheorie zu entwerfen (1592). Durch John Locke aufgegriffen wurde sie für die englische und nordamerikanische Demokratie grundlegend.

9 Fikentscher, a.a.O., S. 123.

10 Die willkürlichen Verhaftungen in England, mit denen Karl I. und Karl II. in Finanznöten Geld erpressten, wurden 1679 durch einen Beschluss des Parlaments drastisch eingeschränkt, indem Karl II., politisch geschwächt, gezwungen wurde, den Habeas Corpus Amendment Act zu unterzeichnen. Dieses Gesetz wird heute als politische Grundlegung der Freiheitsrechte gegen staatliche Willkür angesehen.

11 Fikentscher, a.a.O., S. 124-125.

12 Ebd., S. 125.

13 Edward Coke hat sehr wahrscheinlich, durch Hooker angeregt, die Magna Charta als englische Begründung dieser Rechte nachgeschoben. Es liegen bisher nur einzelne Forschungen über das Verhältnis von Richard Hooker und Edward Coke vor. Die Erkenntnis, dass Hooker und Coke über sechs Jahre als Mitglieder der Rechtsanwaltschaft des Inner Temple gemeinsam zu Mittag aßen, mag ein erster Hinweis sein (Fikentscher, S. 125).

14 Fikentscher, a.a.O., S. 125; siehe auch Fikentscher (Fußnote 4, S. 165): „Als Alternative wird auf die in Deutschland noch immer nicht hinreichend gewürdigte Zwei-Werte-Lehre… Richard Hookers (1546 – 1600) hingewiesen. Zeitlich und gedanklich bildet Hooker die Schaltstelle zwischen der spanisch-spätscholastischen und schweizerisch-französisch-niederländischen Irenik und Monarchomachie einerseits und den englischen und amerikanischen Verfassungsdenkern des 17. und 18. Jahrhunderts (insbes. John Locke) andererseits.“

15 In: Dilcher, Staff: Christentum und modernes Recht, Beiträge zum Problem der Säkularisierung, Frankfurt 1984. S. 282.

16 Fikentscher, a.a.O., S. 126 und 127.

17 U.a. Stein, Tine: Die irdischen Quellen des Himmlischen Rechts, Frankfurt 2007; Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2009; Klein, Rebekka (Hrsg.): Sozialität als Conditio Humana, Göttingen 2010; Winkler, August: Wo fängt der Westen an, wo hört der Osten auf? Interview, Frankfurter Allg. Sonntagszeitung, 25.12.11, S. 20.

18 Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2009, S. 899.

19 Fikentscher, a.a.O., S. 126.

20 Ebd, S. 128.

21 Ebd., S. 129.

22 Insbesondere seine Schriften: Vermaninghe (1572), Intentie (1572), Defensio (1580/81), Plakaat van Verlatinghe (1581) seien hier erwähnt. W. Fikentscher, S. 131.

23 Ebd., S. 132.

24 Ebd., S. 133.

25 Niebuhr, Reinhold: The Children of Light and the Children of Darkness, 1945, in Stott, John: Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit, Bd. I, Marburg 1987, S. 65.

26 Fikentscher, a.a.O., S. 133.

27 Ebd., S. 134.

28 Ebd., S. 134.

29 Ebd., S. 134 ; siehe auch Anm. 21.

30 Ebd., S. 135.

31 Ebd., S. 136.

32 Dazu gehörten die Bestrebungen der Basler und Genfer Calvin-Kritiker, der Kreis um Wilhelm von Oranien, die Ireniker und die Monarchomachen, ebd., S. 137.

33 Fikentscher, a.a.O., S. 137.

34 Fikentscher, a.a.O., S. 137-138.

35 Fikentscher, a.a.O., S. 148.

36 Fikentscher, a.a.O., S. 138.

37 Fikentscher, a.a.O., S. 140.

38 Fikentscher, a.a.O., S. 140.

39 Fikentscher, a.a.O., S. 148.

40 Fikentscher, a.a.O., S. 143.

41 Luthers Hang zur dualistischen Einteilung lässt sich in verschiedenen theologischen Schriften wiederfinden. Seine Begründung der Rechtfertigung allein aus Gnaden – „sola gratia“ diente als Kennzeichen des neuen Bundes im Unterschied zum Gesetz im alten Bund. Luthers Wiederentdeckung der Glaubensgerechtigkeit, in Abgrenzung zur katholischen und jüdischen Werkgerechtigkeit, weist polarisierende Tendenzen auf. Denn die Rechtfertigung allein aus Gnade war im Grunde genommen die Wiederentdeckung bereits jüdischer und katholischer Glaubens- und Lehrtradition. Luther hatte diese für sich neu entdeckt, wo er sie in der katholischen Glaubens- und Lehrpraxis seiner Zeit für verloren ansah. Für eine eingehende Darstellung dieser Fragestellung sei verwiesen auf: Wengst, Klaus: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk“, Stuttgart 2008, insbesondere S. 13-67, S. 189-287.

42 Fikentscher, a.a.O., S. 145.

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