Von Political Correctness zur neuen Ethik

Marguerite A. Peeters

Seit den 1990er-Jahren dient der Ausdruck „politisch korrekt“ vor allem unter Konservativen als spielerisch-ironische Verunglimpfung einer unkritischen Anpassung an den Zeitgeist. Es geht um die Anpassung aus der banalen Angst heraus, man könne andere kränken oder vor den Kopf stoßen. Political Correctness (Politische Korrektheit) gilt als Zeichen von Schwäche und Charakterlosigkeit, der Begriff hat herabsetzende Untertöne. Im Gegenzug dazu stünde Political Incorrectness für Kreativität, Zivilcourage und Rechtschaffenheit. Der französische Ausdruck „pensée unique“ beschreibt dasselbe, beschränkt sich aber auf den Bereich der „Ideen“. Political Correctness ist breiter gefasst und bezieht nicht nur das Denken, sondern auch Sprache, Gesinnung, Politik und Lebensstil mit ein.

Ausrichtung der westlichen Mehrheitsmeinung an der Ethik der 1960er-Jahre

Über seinen ironischen oder satirischen Aspekt hinaus verweist der Begriff Political Correctness jedoch auf etwas, das ernsthaft bedacht werden muss: Es ist die massive, zunehmende Anpassung westlich geprägter Menschen – „Linke“ ebenso wie „Rechte“ einschließlich vieler Christen – an das Weltbild einer Minderheit von postmodernen, postjüdisch-christlichen Intellektuellen, die erfolgreich die westliche Kulturrevolution durchgeführt haben. Die Anpassung begann in den 1960er-Jahren. In den 1990ern mündete sie in einen angeblichen Konsens, der praktisch als neuer globaler Normenstandard (globally normative) behandelt wird. Man kann sagen, dass die Political Correctness als westliches Phänomen sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem weltweiten Phänomen einer neuen, normativen Ethik gewandelt hat. Diese Entwicklung beinhaltet eine Veränderung hin zu größerem Formalismus und zur moralisch „maßgeblichen Autorität“ des revolu­tionären Prozesses. Es stellt sich die Frage: Wie sieht der nächste Schritt in diesem [kulturrevolutionären] Prozess aus?

Schon in den 1980er-Jahren zeigte sich, dass die neue Ethik im Westen die Oberhand gewonnen hatte: Kultur und Politik richteten sich an ihrem Wertgefüge und ihren neuen Prioritäten aus. Zu ihren Kernwerten gehören: Inklusion (Dazugehörigkeit von Minderheiten), Wahlfreiheit, Gleichstellung, Frauenrechte, Umweltschutz, „Mitgefühl“, Solidarität, Rechenschaftspflicht und Transparenz, politische Teilhabe „von unten“ (von der Basis), Nichtdiskriminierung, Minderheitenrechte, Toleranz, „Neutralität“, „globale Werte“.1

Die wichtigsten Paradigmen dabei sind Freiheit („zu wählen“) und Gleichheit (für Gruppen, die traditionell als „diskriminiert“ gelten, zum Beispiel Frauen, Kinder, Schwarze, Behinderte, Ureinwohner, sowie Randgruppen wie lesbisch, homosexuell oder bisexuell Lebende oder Menschen mit Transgender-Lebensstilen).

Die neue Ethik dekonstruiert das universal Menschliche

Im Gegenzug erhielten Begriffe wie Autorität, Wahrheit, Nächstenliebe, Sünde, Religionsfreiheit, Gut und Böse, Tradition, die Familie, Keuschheit, Komplementarität, Ewigkeit, Naturgesetz, Schöpfung, Mutterschaft, Vaterschaft, Ehemann, Ehefrau allmählich eine negative Bedeutung. Diese Worte sind heute aus den politischen und kulturellen Debatten des Westens einfach verschwunden. Sie vorwiegend zu gebrauchen – was bei allen gesellschaftlichen und sozialen Übereinkünften eigentlich der Fall sein sollte – gilt als „politisch inkorrekt“, als „gegen den Strom“. Die neue erzwungene Orthodoxie bringt viele dieser Begriffe vielmehr in Verbindung mit Fundamentalismus, Radikalismus, Obskurantismus, Intoleranz und Diskriminierung. Diese Begriffe gelten als Stereotype, die zu „dekonstruieren“, also aufzulösen sind. 

Genau an dem, was die neue Ethik beiseite schieben möchte, macht sie deutlich, was sie dekonstruieren möchte: Eine Offenheit für die Transzendenz – wobei besonders die jüdisch-christliche Tradition im Visier ist. Die neue Ethik ist säkularistisch, d.h. ausschließlich innerweltlich ausgerichtet. Sie nimmt eine Neuinterpretation universaler menschlicher Werte und gegenwärtiger menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte auf der Basis eines neuen, säkularistischen Rahmens vor. Sie verabsolutiert vor allem Freiheit und Gleichheit und löst diese von ihrer natürlichen Bindung an das Gesetz, das jedem Menschen ins Herz geschrieben ist. Freiheit wird zu einem Prozess der „Befreiung“ von diesem Gesetz. Freiheit wird zum Recht, tun zu können, was man will, selbst wenn es gegen das eigene Gewissen ist und gegen das, was dieses als wahr und gut erkannt hat. Gleichheit wird zu einem Prozess der „Dekonstruktion“ aller Unterschiede, die doch in die Lebenswirklichkeit eingeschrieben sind. Gleichheit ist zu einem Prinzip geworden, das in der Praxis vor allem für Minderheiten gilt, die den Freiheitsbegriff missbrauchen und „gleiche Rechte“ fordern und dabei den Unterschied zu Rechten, die sich an Wahrheit und Wirklichkeit orientieren, missachten. Diese Radikalisierung von Freiheit und Gleichheit geschah nicht über Nacht. Es war ein langer geschichtlicher Prozess, der bis zur Französischen Revolution zurückreicht.

Die Werte der postmodernen Ethik sind eine Reaktion auf missbräuchliche Strukturen und Haltungen der Neuzeit. Sie sind eine Reaktion auf Machismo (Männlichkeitswahn), Autoritarismus (autoritäres Verhalten, autoritäre Systeme), Kolonialismus, Hartherzigkeit, Ausgrenzung, Vernachlässigung der Umwelt, Ungleichheit. Doch die neuen Werte sind durch die radikale Agenda, die dahinter steht, schon beschädigt. Sie haben sich durchgesetzt, ohne auf Widerstand zu stoßen, und sich still und heimlich im kulturellen und politischen Mainstream etabliert.

Die neue Ethik als Ersatz für ewiggültige Werte

Begriffe, die heute als „politisch inkorrekt“ gelten, wurden durch neue ersetzt, etwa:
Ehemann und Ehefrau durch Partner,
die (traditionelle) Familie durch „Familie in all ihren Formen“,
Repräsentation (Stellvertretung) durch Partizipation (Teilhabe),
Souveränität (Staatshoheit) durch Global Go­vernance [„Governance“ betont in Ab­­gren­­zung zu „Government“ die Abwesenheit einer formalen Hierarchie und setzt auf eine kollektive Regulierung aller gesellschaftlichen Prozesse unter Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure wie Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen u.a.2]
Komplementarität der Geschlechter durch Geschlechtergleichheit oder Gendergleichheit,
Schöpfung durch „Mutter Erde“ oder „Erde“. 

Mit anderen Worten: Die neue Ethik ist dynamisch. Sie versucht, jene Räume einzunehmen, die in jeder Gesellschaft rechtmäßig für die letzten Fragen – nach dem universal Gültigen, dem Wahren, dem Gutem und dem von Gott Offenbarten – reserviert sind. 

Dass die neue Ethik die frü­­here nicht ergänzt, sondern ersetzt, hängt damit zusam­­men, dass die beiden ethischen Systeme nicht miteinander vereinbar sind. Gemäß der neuen Ethik ist jede Bezugnahme auf die (traditionelle) Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Kindern, eine Beleidigung für homosexuell lebende Paare oder für Patchwork-Familien. Ökonomische und bildungspolitische Richtlinien, die der traditionellen Familie gut täten, würden den Interessen von Paaren, die in LGBT-Lebensstilen leben, entgegenstehen. Das Post-Abortion-Syndrom oder die abtreibende Wirkung von Verhütungsmitteln öffentlich zu thematisieren, würde die vermeintliche „Wahlfreiheit“ der Frau schmähen. Homosexuelle Praxis unter Berufung auf Religions- und Meinungsfreiheit als Sünde zu bezeichnen, würde das Recht des Einzelnen auf freie Wahl seiner sexuellen Orientierung verletzen. An die sozialwirtschaftlichen Kosten einer Scheidung zu erinnern, würde der Logik der Menschenrechte widersprechen. Und für das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder einzutreten, würde im Widerspruch zum Recht der Kinder auf ihre „eigene Meinung“ stehen.

Von der Political Correctness des Westens zu einer weltumspannenden Ethik

Der Kalte Krieg ging zu Ende, als die kulturelle Revolution des Westens einen kritischen Höhepunkt erreicht hatte. Da begann die Globalisierung der postmodernen Ethik. Die zwischen 1990 und 1996 abgehaltenen UNO-Konferenzen fungierten als Wegbereiter dieser weltweiten Ausbreitung. Ziel der UNO war es, einen „neuen globalen Konsens“ über die Normen, Werte und Prioritäten der internationalen Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert aufzubauen. Die UNO wollte ein ethisches Rahmenwerk für die wirtschaftliche Globalisierung bereitstellen, die Ende der 1980er-Jahre in nie da gewesenem Tempo Fahrt aufnahm.

Es wurde eine Reihe „neuer Paradigmen“ übernommen, die in einer neuen globalen Sprache formuliert und in den angeblichen „Konsens“ eingegliedert wurden.
Einige Beispiele:3

  • Good Governance [Good Governance geht über den staatlichen Bereich hinaus. Man versteht darunter eine Gesamtsteuerung der gesellschaftlichen Entwicklung unter Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Siehe auch oben Global Governance.]
  • nachhaltige Entwicklung
  • Konsensbildung
  • Lebensqualität
  • reproduktive Gesundheit
  • peer education [Angehörige einer sozialen Gruppe oder gleichen Alters informieren sich gegenseitig]
  • Geschlechtergleichheit, Gendergleichheit
  • sexuelle Selbstbestimmung
  • Eigenverfügung, sich zu eigen machen (ownership)
  • Internalisierung
  • Wahlfreiheit
  • uneingeschränkter Zugang zu Wahlmöglichkeiten
  • gut informierte, bewusste Entscheidung
  • Kinderrechte
  • Frauenförderung, Teilhabe von Frauen
  • partizipatorische Demokratie
  • zivilgesellschaftliche Organisationen
  • nicht-staatliche Akteure
  • Partnerschaften
  • Nichtdiskriminierung
  • Selbstverwirklichung
  • Kapazitätsaufbau
  • Nullwachstum
  • Feiern von kultureller Vielfalt
  • sexuelle Vielfalt
  • „Rückzug“
  • Lebensqualität für alle
  • Dekonstruktion (Auflösung)
  • körperliche Unversehrtheit
  • bewährte Verfahren
  • Klärung von Werten
  • globale Probleme
  • Inklusion (Einbeziehung von Minderheiten)
  • Zusammenarbeit zwischen privatem und öffentlichem Sektor
  • kultursensible Ansätze.4

Seit Einführung dieser Begriffe auf den UNO-Konferenzen werden in der Global Governance diese neuen Paradigmen als weltweit gültige Normen behandelt, Normen einer neuen Ethik; Norm dessen, was Menschen denken und wie sie handeln müssen; Norm dessen, was politisch korrekt ist.

Was wir das Phänomen einer neuen globalen Sprache, einer weltweiten, politisch korrekten Sprache nennen können, ist geschichtliche Tatsache. Seine „Konstruktion“ durch postmoderne, westliche Intellektuelle – die die westliche Welt von der Moderne (Neuzeit) in die Postmoderne geführt haben – reicht bis in die 1960er zurück und entwickelte sich in den drei Jahrzehnten vor dem Fall der Berliner Mauer weiter. Die westlichen oder verwestlichten „Experten“, die von einem postjüdisch-christlichen, säkularen oder gar säkularistischen Hintergrund kamen, hatten von Beginn an eine internationalistische und globalistische Sicht. Seit den 1960ern schmiedeten sie funktionsfähige Partnerschaften mit speziellen Gremien in internationalen Organisationen. 1990 waren sie dann selbst am Steuerruder der Global Governance. Das erklärt die Leichtigkeit, mit der sich ihre Paradigmen durchsetzten – zu einer Zeit, in der sich der neue globale Konsens gerade im Aufbau befand. Die Regierungen des Westens kamen noch aus der Zeit des Kalten Krieges, ihr Denken folgte noch der alten Mentalität. Ihnen fehlte eine Vision für die neue Ära, an deren Beginn sie nun standen. Im Gegensatz dazu hatten die Ideologen sehr wohl eine Vision; sie ergriffen die Chance und besetzten das Führungsvakuum, das die Regierungen hinterlassen hatten.5 Sie wandelten die westliche Political Correctness in eine globale „Political Correctness“. Die globalen Werte wiederum festigten im Gegenzug die neue Ethik auch im Westen und machten sie verpflichtend. Die neuen globalen Normen haben in gewisser Weise die Idee der „Political Correctness“ ersetzt, die im Schwinden begriffen ist.

Ein horizontales Phänomen

Die horizontale Durchsetzung der neuen, politisch korrekten Sprache vollzog sich mit ungeheurer Geschwindigkeit in nur wenigen Jahren zwischen dem Ende der erwähnten UNO-Konferenzen 1996 und dem Jahr 2000. Seit dieser Zeit ist die politisch korrekte Sprache nicht mehr die Sprache einer Expertenminderheit. Sie ist die Sprache der Kinder und Teenager, der Schul- und Lehrbücher, der Lehrer und Professoren, in allen Stufen der Bildung, überall auf der Welt geworden. Die neue Sprache wird in den Krankenstationen der entlegensten Dörfer im Kongo gesprochen, in Peru und Indien; sie findet sich auf den Werbeplakaten in den Großstädten, in den Jahresberichten und Verhaltensregeln multinationaler Konzerne, in Medien, Filmen, Radiosendungen und in den Richtlinien der Nichtregierungsorganisationen (NROs). 

Die neue Sprache ist nicht mehr die der westlichen „Linken“, bei denen sie ihren Ursprung hat. Seit Ende der 1990er findet sie sich in den Programmen sämtlicher Parteien, nicht nur im Westen, sondern in der ganzen Welt.

Sie ist auch nicht mehr auf die UNO beschränkt. Örtliche Behörden, sämtliche Regierungen und ihre Ministerien, räumlich begrenzte Organisationen wie die EU oder die AU (Afrikanische Union) – alle haben sie sich zu Eigen gemacht. Sie ist nicht mehr auf die politische Domäne beschränkt, sondern hat das kulturelle Leben erobert.
Diese Sprache ist auch kein Alleinstellungsmerkmal des säkularen Bereichs mehr. Man findet sie in Predigten von Imamen und Pfarrern und in den Lehren von Rabbinern. Dadurch trägt sie zur Säkularisierung dieser Lehren von innen heraus bei. Wir wissen: Die neue Sprache hat vor den Toren der Kirche nicht halt gemacht. Ihren Ursprung hat sie jedoch unbestreitbar woanders: sie kommt nicht aus der Kirche und auch nicht aus göttlicher Offenbarung.

Die weltweite Verbreitung der neuen Sprache war ein durchschlagender Erfolg. Horizontal gesehen hat sich die kulturelle Revolution bereits durchgesetzt.

Ein vertikales Phänomen

Die vertikale Durchsetzung der neuen Sprache ist ein komplexeres Phänomen. Sie setzt voraus, dass Personen und Institutionen, die die neue Sprache benutzen, auch die Ethik, für die diese Sprache steht, bewusst verinnerlicht haben. Sie müssen sie sich zu Eigen gemacht und sich für die Realisierung der neuen Normen verpflichtet haben. Erst wenn dieser Prozess der Verinnerlichung der neuen Normen eingesetzt hat, wandeln sich Kulturen nachhaltig (und womöglich unumkehrbar) von innen heraus. Im Westen hat die neue Ethik bereits das gesellschaftliche Gefüge durchdrungen, weil die Mehrheit derjenigen, die Einfluss auf Gesellschaft und Politik nehmen, sich an sie halten.

Dieser Prozess, sich die neue Ethik zu Eigen zu machen, ist aber nicht selbstverständlich. Die Inhalte der neuen Ethik sind ambivalent. Wenn ihr Radikalismus/Totalitarismus zum Vorschein kommt, kann sie Widerstand und Opposition von Seiten der Kulturen und Religionen hervorrufen.

Obgleich ambivalent, ist die neue globale Sprache doch auch verführerisch. Sie nimmt die universalen Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschheit unter Beschlag, insbesondere auf folgenden Gebieten:

  • Frauenförderung und Verbesserung der Lebensumstände von Frauen („Geschlechtergleichheit“ „Frauenrechte“, „Autonomie“ etc.);
  • Selbstbestimmung der Völker („Eigenverfügung“, ownership);
  • größere Achtung vor der Umwelt als es in der Neuzeit war („nachhaltige Entwicklung“)
  • gleichberechtigte Behandlung der Länder der südlichen Hemisphäre („Partnerschaften“);
  • größerer Respekt vor nicht-westlichen Kulturen („kultursensible Ansätze“);
  • umfangreichere politische Beteiligung („partizipatorische Demokratie“) usw.

Die neue Ethik scheint die Antwort auf diese Ziele, Sehnsüchte und Hoffnungen zu sein. Und doch: Eine subtile, aber entscheidende Linie trennt sie von allen Kulturen und Traditionen und von der Soziallehre der Kirche.

Die starke Dynamik der neuen Sprache zieht ihre Benutzer in den Sog der neuen Ethik –, was unmerklich dazu führt, dass jene ihre eigenen Werte nach und nach aufgeben. Auch die passive Nutzung der neuen Sprache, sei es aus Gründen der kulturellen Anpassung oder unter dem unerbittlich scheinenden Druck politischer und kul­tureller Zwänge, bindet. Man tritt in ein [ideologisches] Bezugssystem ein, dessen Zielsetzungen andere festgelegt haben. Ist man in dem Bezugssystem einmal drin, wird man in eine Richtung geführt, in die man gar nicht will.

Der Prozess dieser kulturellen Umformung braucht Zeit. Vertikal gesehen, befindet sich die weltumspannende, kulturelle Revolution noch auf dem Weg.

Grundpfeiler der neuen Sprache: Einige Beispiele

Die neue Sprache bringt eine postmoderne Ethik zum Ausdruck, die, wie der Name sagt, nach jener Ethik kommt, die jahrhundertelang die westliche Neuzeit geprägt hat. Wir leben heute in einer Welt der Koexistenz des Alten und Neuen, der Moderne und Postmoderne. Letztere destabilisiert und dekonstruiert (zwei entscheidende Verben in ihrem Vokabular!) sowohl die Moderne als auch die jüdisch-christliche Tradition. Aber die überwältigende Mehrheit in der ganzen Welt heute unterscheidet nicht zwischen diesen beiden Pfeilern, die noch beide bestehen.
Sie unterscheidet nicht zwischen:

  • Government (Regierung) und Governance
  • nationaler Demokratisierung und Global Governance [Preisgabe von nationalstaatlicher Souveränität zugunsten einer kollektiven Regulierung der gesellschaftlichen Aktivitäten unter Einbeziehung nicht-staatlicher, oft global wirkender Akteure. Siehe auch oben.]
  • Repräsentation und Partizipation
  • Erziehung und Sensibilisierung
  • universalen Werten und neuer globaler Ethik –,

um nur einige Beispiele zu nennen.

Bei jedem einzelnen der neuen Paradigmen ist eine sorgfältige Unterscheidungsarbeit zu leisten. Jedes birgt besondere Herausforderungen, ernsthafte Gefahren (oft unbemerkt), aber möglicherweise auch Chancen für die Christen. Die Hauptgefahr der neuen Ethik, die für alle ihre Paradigmen gilt, liegt darin, dass ihre Anhänger sich in einer rein diesseitigen, immanenten Sicht verschließen und gegenüber jeglichem transzendentalen Bezug, der über ihr System hinausweist, auch verschlossen bleiben. Das macht die neue Ethik intolerant und totalitär.

Dazu sollen hier einige Beispiele angeführt werden.

  1. „Sensibilisierung“ oder „Bewusstseinsbildung“ sind heutzutage gängige Praktiken. Haben wir über den Unterschied zwischen Erziehung und Sensibilisierung nachgedacht? Die öffentliche Meinung heute wird gebildet durch mediengeführte Kampagnen zur Bewusstseinsbildung, beispielsweise im Hinblick auf Umweltschutz oder AIDS-Prävention. Dabei neigt die öffentliche Meinung dazu, passiv die Ansichten der „Experten“ der Global Governance zu übernehmen. Sie passt sich denen an, „die es ja wissen müssen“, und die von sich behaupten, über die fachliche Kompetenz zu verfügen, um den politischen Kurs festzulegen. Echte Erziehung dagegen ermutigt den Einzelnen, sich der eigenen Freiheit, der eigenen Urteilsfindung und des eigenen Gewissens zu bedienen, um selbst das Gute und Wahre herauszufinden und sich den Kriterien von Liebe und Wahrheit zu verpflichten. Die gegenwärtigen Kampagnen zur Bewusstseinsbildung umgehen diesen Prozess der persönlichen Urteilsfindung. Stattdessen nötigen sie die Menschen, sich das Diktat der Experten als eigene Überzeugung anzueignen. Sie setzen damit die individuelle Vernunft und das persönliche Gewissen außer Kraft – eine subtile Form der Diktatur.
  2. Nichtdiskriminierung ist ein absolutes Prinzip der neuen Ethik. Sie ist absolut, weil sie in jedem Fall verpflichtend und in der Theorie bei allen anzuwenden ist, in der Praxis allerdings hauptsächlich und zuerst bei bestimmten Minderheiten wie etwa Menschen mit LGBT6-Lebensstilen oder feministischen Lobbygruppen. Die Verabsolutierung der Nichtdiskriminierung erstickt die Botschaft des Christentums, die besagt, dass man zwar alle Menschen lieben soll, auch seine Feinde, nicht aber, dass man alles unterschiedslos akzeptieren soll, um niemanden und nichts zu „diskriminieren“. [Diskriminieren heißt wörtlich: unterscheiden.]
  3. Nachhaltige Entwicklung ist nicht nur ein politisches Konzept, sondern eine neue Ethik, die sich über die Religionen stellt. Religionen, so heißt es, würden durch ihre Lehren von einem Jenseits die Menschen beeinflussen, sich weniger um das Diesseits und die Schädigung unserer „Mutter Erde“ zu kümmern. Anstatt offen zu sein für die Transzendenz, zieht sich die neue Ethik in das Diesseits zurück und verabsolutiert dies. Wenn wir uns von der Ethik der Nachhaltigkeit verführen lassen, laufen wir Gefahr zu vergessen, dass wir eben nicht zum „Selbsterhalt“ (eine auf reines Überleben ausgerichtete, pessimistische Sicht), sondern für das ewige Leben geschaffen sind. Zudem gehören zum Konzept der nachhaltigen Entwicklung zahlreiche andere Problemthemen, vor allem „Gendergleichheit“ und „reproduktive Gesundheit“.
  4. Ist das Konzept einer „Lebensqualität für alle“ nicht verführerisch? Die Festlegung jedoch, welcher Standard an Leben Qualität hat und welcher nicht, läuft darauf hinaus, dass man sich zum Richter über die Bedingungen aufschwingt, unter denen das Leben lebenswert ist. So führt dieses Konzept zur Abtreibung kranker oder behinderter Kinder, zur Euthanasie am Lebensende und zur Verachtung von alten und schwachen Menschen.
  5. „Reproduktive Gesundheit“ ist das auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 angenommene Ethik-Paradigma. Sie umfasst u. a. den universalen Zugang zur gesamten Palette an Verhütungsmethoden, Zugang zu „sicherer“ Abtreibung und Sterilisation (sofern sie freiwillig geschieht), Zugang zu künstlicher Befruchtung und „sexuelle Freiheit“ (mehrere Partner, unverbindliche Beziehungen). Mit „universal“ meinen die UNO und ihre Partnerorganisationen „für alle“ – unabhängig davon, ob jemand verheiratet ist oder nicht, unabhängig von der körperlichen oder psychischen Gesundheit eines Menschen, unabhängig von der „sexuellen Orientierung“ eines Menschen und für junge Menschen auch „ohne Wissen und Zustimmung der Eltern“.
  6. Zur Geschlechtergleichheit gehört die „reproduktive Gesundheit“. Das Konzept der Geschlechtergleichheit (Gendergleichheit) hat sich in der internationalen Zusammenarbeit als eine alles durchdringende Priorität aggressiv und weltweit durchgesetzt. Es beruht auf der Annahme, die mütterliche, eheliche und erzieherische Berufung der Frau, die anthropologische Komplementarität von Frau und Mann, Heterosexualität und sogar der männliche und weibliche Körper seien stereotype, soziale Konstrukte. Es seien Stereotype, die durch Kultur, Erziehung und neue Gesetze zu dekonstruieren, also aufzulösen seien. Die Frau könne von allen Formen der „Diskriminierung“ „befreit“ und in jeder Hinsicht dem Mann „gleich“ werden. So könne die „Selbstbestimmung“ und Autonomie der Frau gefördert werden. Und so könne jede einzelne Person das Recht genießen, die eigene soziale Rolle und die „sexuelle Orientierung“ frei zu wählen.

Was können wir tun?

Political Correctness ist eine Folge der Passivität der „Mehrheit“. Deren fehlende Beteiligung an der Gestaltung kultureller Umbrüche zu einem Zeitpunkt, da die historischen Umstände dies erforderten (zwischen den 1960er und 1990er Jahren), hinterließ ein politisches Vakuum, das schnell von ideologisch motivierten, zur Machtübernahme bereiten Minderheiten gefüllt wurde. Der Erfolg dieser Minderheiten sucht in der Geschichte seinesgleichen. Denn haben sie es nicht de facto geschafft, ihre Sicht der ganzen Welt aufzudrängen – mit Hilfe der internationalen Organisationen, der neuen Sprache und der neuen Ethik?

Die Passivität der Mehrheit ist dabei möglicherweise ein größeres Hindernis als das Machtstreben ideologisch motivierter Minderheiten. Die Minderheiten könnten nicht so viel Macht ausüben, wenn die Mehrheiten wachsam wären und ihrerseits die Initiative ergreifen würden. Es stellt sich aber die Frage: Gibt es in der momentanen Lage, mit einem „System“, das einseitig, säkularistisch und oftmals intolerant auftritt, überhaupt noch die Möglichkeit, politisch aktiv zu sein und sich zu engagieren? Welcher Weg führt uns aus dieser Lage heraus? Auf diese Frage gibt es keine fertige Antwort, auch keine schnelle Lösung für die Krise. Die Probleme, mit denen wir es zu tun haben, sind komplex. Nachfolgend sind einige Schritte aufgezeigt, die unerlässlich erscheinen, um den Weg der Unterscheidung zu gehen, zurück zur Ausübung unserer eigenen Verantwortung.

  1. Unwissenheit bekämpfen. Wie die französischen Aristokraten zur Zeit der Revolution, die in ihren Schlössern saßen und Tee tranken und dabei Staatsgeschäfte diskutierten, bis sie unter der Guillotine starben, so beobachtete auch die Mehrheit der westlichen Christen die kulturelle Revolution aus der Ferne. Abgrundtief ist ihre Unkenntnis über die historische Entwicklung, die Inhalte, Strategien und Umsetzungs­mechanismen der kulturellen Revolution. Gegen diese Unwissenheit ist vorzugehen, wenn Christen die wirklichen Ursachen des Verfalls der westlichen Kultur erkennen wollen.
  2. Unterscheiden lernen. Nicht alles ist nur schwarz oder weiß an der neuen Ethik. Durch ihren radikalen Anspruch hat die Revolution all jene Änderungen für sich vereinnahmt, die notwendig und unvermeidlich waren, weil sich die Menschen danach sehnten, beispielsweise größere Verantwortung gegenüber der Umwelt, mehr Respekt für die gleichrangige Würde der Frau, mehr echte Teilhabe der Basis an politischer Entscheidungsfindung und – noch wichtiger – mehr Streben nach Liebe. Mehr Streben nach einer Gesellschaft, in der die Liebe wieder eine Rolle spielt, nach einer Gesellschaft, die nicht nur – wie es in der Moderne war – von einem Bündnis aus Macht und Rationalität beherrscht wird. Hier ist es entscheidend, dass wir unterscheiden lernen, um angemessen auf die Herausforderungen der neuen globalen Kultur reagieren zu können. Ein rückwärtsgewandter Ansatz, der das Kind mit dem Bade ausschüttet, wäre verfehlt und kontraproduktiv.
  3. Christen aus dem Geflecht der neuen Ethik lösen. Viele Christen haben sich von den neuen Werten der Revolution verführen lassen und sind der Logik einer rein säkularen Ethik erlegen. Sie haben sich der politisch korrekten Ethik angeglichen, verwenden die neue globale Sprache und verwechseln die neuen Paradigmen mit der Soziallehre der Kirche. Ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht: Wenn sie nicht angemessen unterscheiden, arbeiten sie gegen sich selbst. Hier ist in der Kirche noch eine Menge zu tun.
  4. Die Risse im System erkennen. Die Sozialtechniker haben den Turm zu Babel auf Sand gebaut. Es zeigen sich bereits Risse im Gebäude. Die offenkundigen Widersprüche in der gegenwärtig durchgesetzten Orthodoxie sind umso klarer zu sehen, je stärker wir sie im Lichte der Wirklichkeit und der Wahrheit anschauen. Wie lange noch können die Menschen vor den bitteren anthropologischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Revolution ihre Augen verschließen? Wie lange noch können sie sich weigern, das Leid des Post-Abortion-Syndroms, die durch die Scheidungen verursachten gesellschaftlichen Kosten und die bedrohlichen sozialwirtschaftlichen Folgen des demografischen Niedergangs Europas wahrzunehmen?
  5. Fürchtet euch nicht! Trotz Beeinträchtigung durch innere Widersprüche, das Fehlen von Zusammenhängen und eine daraus resultierende mangelnde Nachhaltigkeit sind die kulturelle Revolution, Political Correctness und ihre neue Ethik beinhart und unnachgiebig. Sie zeigen Zähne. Um gegen den Strom zu schwimmen, den schmalen Pfad zu gehen, für das Wahre, Gute und für die Liebe einzustehen, braucht es Mut.

Anmerkungen

Der Artikel enthält Elemente früherer Veröffentlichungen der Autorin. Genauere Analysen der in diesem Artikel angesprochenen Themen finden Sie unter www.dialoguedynamics.com

Zum besseren Verständnis einiger im Deutschen weniger geläufigen Begriffe wurden im Text Erklärungen in eckigen Klammern hinzugefügt sowie die Fußnoten 2 und 6. Verantwortlich hierfür ist das DIJG.

1 Im englischen Original: Inclusion (of minorities), free choice, equal opportunity, women’s rights, environmentalism, “compassion”, solidarity, accountability and transparency, bottom-up participation, non-discrimination, minority rights, tolerance, “neutrality”, “global” values. Anm. d. Ü.

2 Siehe dazu auch wikipedia.org/wiki/Global_Governance. Dort heißt es u.a. (zum Teil übersetzt): „In Abgrenzung zu ‚Government’ betont der Begriff ‚Governance’ die Abwesenheit einer formalen Hierarchie und hebt im weitesten Sinne auf die kollektive Regulierung von gesellschaftlichen Aktivitäten ab. (…) Je nach Begriffsverständnis der einzelnen Autoren kann ‚Governance’ sowohl komplementär als auch übergeordnet zu ‚Government’ verstanden werden. Diese sehr weitreichende Begriffskonzeption ist ein wesentliches Argument für die kritische Reflexion von Global Governance. Claus Offe bezeichnete den Begriff Global Governance als ‚empty signifier’, als bedeutungsleere Worthülle, die beliebig verwendet würde. (…) Mit Global Governance ist dabei das lösungsorientierte, dezentrale Steuern von Globalisierungsprozessen durch freiwillige Kooperation unter Abwesenheit einer Weltregierung gemeint. (…) Global Governance bezeichnet… die Gesamtheit an Koordinationsprozessen unterschiedlicher Akteure, nicht nur staatlicher, mit denen globale Herausforderungen gemeistert und globale Chancen ergriffen werden können… Kritisch gesehen wird der Steuerungs- und Problem­lösungsgedanke, der dem Projekt Global Governance innewohnt. (…) Problematisch wird … das Auftauchen neuer, insbesondere privater Akteure gesehen. NGOs, Privatunternehmen, Think Tanks oder Expertengruppen sind in der Regel nicht konstitutionell verankert und daher mit einem Legitimationsdefizit behaftet. Problematisch bleibt auch die Zurechenbarkeit von Verantwortung bei Multi-Stakeholder-Ansätzen unter Einbeziehung solcher neuartigen Akteure. Auf diesen Umstand macht… John Bolton aufmerksam, wenn er schreibt: ‘the civil society idea actually suggests a ‘corporativists’ approach to international decision-making that is dramatically troubling for ­democracy ­becau­­se it posits ‘interests’ (whether NGO or businesses) as legitimate actors along with popularly elected governments.’” Martin Shapiro zufolge werden „durch Global Governance ‘Experten und Enthusiasten’ begünstigt…, die ihre jeweiligen Interessen vertreten, doch ‘Erkenntnisse und Leidenschaft bringen Perspektiven hervor, die nicht diejenigen Perspektiven sind, die die übrigen von uns haben.’” Anm. d. Ü.

3 Tatsächlich gibt es Hunderte von Ausdrücken, die zur neuen Sprache gehören. Siehe www.dialoguedynamics.com. – Hier sind im englischen Original folgende Begriffe genannt: Global Governance, sustainable development, consensus-building, quality of life, reproductive health, peer education, gender equality, reproduc­tive and ­sexual rights, ownership, internalization, right to choose, universal access to choice, informed choice, children’s rights, women’s empowerment, participatory democracy, civil society organizations, non-state actors, partnerships, principle of non-discrimination, realization of one’s potential, capacity-building, zero growth, celebration of cultural diversity, sexual diversity, “retreat”, well-being for all, deconstruction, bodily integrity, best practices, values clarification, global problems, inclusion, public-private partnerships, culturally sensitive approaches. Anm. d. Ü.

4 Wir halten fest, dass Benedikt XVI in seiner Sozialenzyklika Caritas in Veritate die neue UNO-Sprache nicht verwendet. Er spricht beispielsweise nicht von nachhaltiger Entwicklung, sondern von ganzheitlicher Entwicklung des Menschen.

5 Die Sichtweise einer Minderheit postmoderner und säkularer Experten der westlichen Welt wurde zum angeblichen „globalen Konsens“. Wenn Demokratie die Herrschaft des Volkes für das Volk ist, so ist der neue Konsens nicht das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, sondern eines Konzepts, das im Frankreich des 18. Jahrhunderts „aufgeklärter Despotismus“ genannt wurde: Herrschaft durch diejenigen, die vom „Licht“ des säkularen Verstandes „erleuchtet“ wurden. Eine solche Herrschaftsform birgt eine Vielzahl von Gefahren. Sie setzt eine neue Form des Gnostizismus in Gang, der die Mehrheit der Bevölkerung zu einer ihrer Seele beraubten, willenlosen Masse (zombies) macht, die von denen manipuliert wird, die über „das Wissen verfügen“.

6 LGBT steht für: lesbisch, gay, bisexuell, transgender. Anm. d. Ü.

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