Nietzsches zweifaches Erbe

René Girard

Wenden wir uns beim Wägen der Seelen nun der Waagschale mit unseren Mißerfolgen, unseren Fehltrit­ten und unserem Scheitern zu. Dass wir von Sündenböcken und opferkultischen Riten befreit sind, bringt uns beträchtliche Vorteile, ist aber auch Ursache für zahllose Formen der Unterdrückung und Verfolgung und nicht zuletzt eine Gefahrenquelle und Vernichtungsdrohung.

Seit Jahrhunderten setzt das Mehr an Justiz, das wir der gesteigerten Sorge um die Opfer verdanken, unsere Energien frei, stärkt unsere Macht, setzt uns aber auch Versuchungen aus, denen wir in den meisten Fällen erliegen: koloniale Eroberungen, Machtmißbrauch, Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts, Plünderung des Planeten Erde usw.

Das prägendste aller Desaster des 20. Jahrhunderts ist in unserer Perspektive die systematische Vernichtung des jüdischen Volkes durch den deutschen Nationalsozialismus. Gewiß, Massaker hat es im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben; doch in der Regel kommt es in der Hitze des Gefechts dazu, es ist unmittelbare Rache, spontane Vergeltung. Sind die Massaker vorbedacht und geplant, gelten sie leicht identifizierbaren Zielen.
Hitlers Genozid ist etwas anderes. Er lässt sich sicherlich mit der langen Geschichte der anti­semitischen Verfolgungen im christlichen Westen in Verbindung bringen, doch die verhängnisvolle Tradition erklärt nicht alles. In diesem minutiös konzipierten und durchgeführten Vernichtungsprojekt entzieht sich etwas den üblichen Kriterien. Weit davon entfernt, den deutschen Kriegszielen dienlich zu sein, lief das ungeheuerliche Massaker  ihnen zuwider.
Hitlers Genozid widerspricht so flagrant der im letzten Kapitel vorgetragenen These, die moderne westliche Welt sei beherrscht von der Sorge um die Opfer, dass ich sie entweder aufgeben oder aus dem mich bedrängenden Widerspruch das Herzstück meiner Interpretation machen muss. Die zweite Lösung scheint mir die richtige. Das „geistige“ Ziel des Hitlertums lag meiner Auffassung nach darin, zuerst Deutschland und dann ganz Europa der ihm aus der religiösen Tradition zugewachsenen Berufung, nämlich der Sorge um die Opfer, zu entreißen.
Aus offensichtlich taktischen Gründen war der Nationalsozialismus während des Krieges bestrebt, den Völkermord zu verschleiern. Hätte er gesiegt, hätte er ihn, meiner Meinung nach, publik gemacht, um zu belegen, dass dank seiner die Sorge um die Opfer nicht mehr der unwiderrufliche Sinn unserer Geschichte ist.
Aber wer wie ich annimmt, die Nationalso­zia­listen hätten in der Sorge um die Opfer den dominanten Wert unserer Welt ausgemacht, überschätzt der nicht das nationalsozialistische Gespür für die geistige Wertordnung? Vermutlich nicht. Sie stützten sich in dieser Hinsicht auf einen Denker, der die Opferberufung des Christentums auf anthropologischer Ebene entdeckt hatte: auf Friedrich Nietzsche.
Der Philosoph hat als erster begriffen, dass die Kollektivgewalt der Mythen und Riten (all das, was er „Dionysos“ nennt) und die Gewalt der Passion zum selben Typus gehören. Der Unterschied liegt nicht in den Fakten, sagt er – es sind in beiden Fällen die gleichen –, sondern in deren Interpretation.
Die Ethnologen waren zu positivistisch, um die Unterscheidung zwischen den Fakten und ihrer Interpretation, ihrer Repräsentation zu begreifen. In unserer Zeit kehren die „Dekonstruktivisten“ den positivistischen Fehler um. In ihren Augen ist alles Interpretation. Sie geben sich nietzscheanischer als Nietzsche. Statt wie die Positivisten die Interpretationsprobleme auszublenden, blenden sie die Fakten aus.

In einigen posthum veröffentlichten Schriften der letzten Periode vermeidet Nietzsche den positivistischen wie den postmodernen Irrtum und entdeckt die Wahrheit, die ich lediglich wiederhole und die das vorliegende Buch dominiert: In der dionysischen Passion und in der Passion Jesu ist dieselbe Kollektivgewalt am Werk, ihre Interpretation aber verläuft gegensätzlich:

Dionysos gegen den „Gekreuzigten“: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung … im anderen Fall gilt das Leiden, der „Gekreuzigte als der Unschuldige“, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung.1

Zwischen Dionysos und Jesus gibt es „nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums“, anders gesagt, die Passionsberichte erzählen denselben Typus Drama wie die Mythen, was anders ist, ist „der Sinn“. Während Dionysos dem Lynchmord am einzigen und alleinigen Opfer zustimmt und ihn organisiert, wird er von Jesus und den Evangelien abgelehnt.
Genau das ist es, was ich immer wiederhole: Die Mythen gründen auf einer einmütigen Verfolgung. Das Judentum und das Christentum zerstören diese Einmütigkeit, um die zu Unrecht verurteilten Opfer zu verteidigen, um die zu Unrecht legitimierten Henker zu verurteilen.

Diese schlichte, aber grundlegende Feststellung hatte, wie unglaublich das auch scheinen mag, vor Nietzsche niemand gemacht, kein Christ hatte sie je gemacht! In diesem spezifischen Punkt ist Nietzsche die ihm gebührende Ehre zu erweisen. Doch über diesen Punkt hinaus deliriert der Philosoph nur noch. Statt in der Verkehrung des mythischen Schemas eine unbestreitbare, allein vom Juden-Christentum verkündete Wahrheit zu erkennen, tut Nietzsche alles, um diese Stellungnahme zugunsten der Opfer zu diskreditieren.
Nietzsche sieht vollkommen richtig, dass es sich in beiden Fällen um dieselbe Gewalt handelt („Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums“), doch er sieht die Ungerechtigkeit dieser Gewalt nicht und will sie nicht sehen. Er sieht nicht oder will sich nicht eingestehen, dass die in den Mythen stets vorhandene Einmütigkeit zwangsläufig auf passiv erlittenen und verkannten mimetischen Ansteckungen beruht, während in den Evangelien die gewalttätige Mimetik erkannt und verurteilt wird, so wie sie bereits in der Josephsgeschichte und in den anderen großen alttestamentlichen Texten verurteilt wird.

Um das Jüdisch-Christliche zu diskreditieren, bemüht sich Nietzsche zu zeigen, dass dessen Stellungnahme zugunsten der Opfer in einem kleinlichen Ressentiment wurzelt. Da die ersten Christen vor allem den unteren Schichten angehörten, beschuldigt er sie, sie würden mit den Opfern sympathisieren, um ihr Ressentiment gegen das aristokratische Heidentum zu befriedigen. Es ist dies die berühmte „Sklavenmoral“.
So versteht Nietzsche also die „Genealogie“ des Christentums! Er glaubt, sich dem Herdeninstinkt zu widersetzen, und erkennt in dessen dionysischem Furor nicht den Ausdruck des Brutalsten und Dümmsten an der Menge.

Wenn das Christentum die Opfer des Opfermechanismus rehabilitiert, wird es nicht von suspekten Hintergedanken geleitet. Es lässt sich nicht von einem mit gesellschaftlichem Ressentiment durchsetzten „Humanitarismus“ verführen. Es berichtigt die Illusion der Mythen, es legt die Lüge der „satanischen Anklage“ offen.
Da Nietzsche in diesem Punkt für die Mimetik und deren Ansteckungen blind ist, sieht er nicht, dass die Stellungnahme der Evangelien keineswegs einem Vorurteil zugunsten der Schwachen und gegen die Starken entspringt, sondern der heroische Widerstand gegen die gewalttätige Ansteckung ist, die Hellsichtigkeit einer kleinen Minderheit, die sich dem ungeheuerlichen Herdeninstinkt des dionysischen Lynchmordes widersetzt.

Um den Folgen der eigenen Entdeckung zu entgehen und weiterhin in der verzweifelten Leugnung der jüdisch-christlichen Wahrheit zu verharren, greift Nietzsche auf eine derart plumpe und seiner besten Analysen derart unwürdige Pointe zurück, dass sein Verstand daran zerbricht.
Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass die explizite Entdec­kung dessen, was Dionysos und dem Gekreuzigten gemeinsam ist und was sie trennt, so kurz vor Nietzsches endgültigem Zusammenbruch erfolgte. Treue Verehrer Nietzsches bemühen sich, diesem Wahnsinn jegliche Bedeutung abzusprechen. Weshalb, ist völlig klar. Der Un-Sinn des Wahnsinns spielt in ihrem Denken dieselbe schützende Rolle wie der Wahnsinn selbst für Nietzsche. Der Philosoph konnte sich in den Ungeheuerlichkeiten, in die das Bedürfnis, die eigene Entdeckung herunterzuspielen, ihn getrieben hatte, nicht häuslich einrichten und floh in den Wahnsinn.
Unerbittlich schreitet die christliche Wahrheit in der Geschichte unserer Welt voran. Paradoxerweise ist dieses Voranschreiten und die scheinbare Schwächung des Christentums ein und dasselbe. Je stärker das Christentum unsere Welt belagert – im selben Sinn, wie es den späten Nietzsche belagerte –, um so schwieriger wird es, ihm mit relativ harmlosen Mitteln, mit „humanistischen“ Kompromissen nach Art unserer guten alten Positivisten zu entgehen.

Um der eigenen Entdeckung auszuweichen und um die mythologische Gewalt zu verteidigen, muss Nietzsche das Menschenopfer rechtfertigen, was er, sich ungeheuerlicher Argumente bedienend, ohne Zögern tut. Er überbietet noch den schlimmsten Sozialdarwinismus. Um der drohenden Degenerierung zu entgehen, gibt er zu bedenken, müssen sich die Gesellschaften ihres wertlosen Menschenballasts entledigen:

Der Einzelne wurde durch das Christhentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt dass man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer. … Die ächte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, daß Niemand geopfert wird …2

Wie schwach und krank Nietzsche auch sein mochte, nie verpasste er eine Gelegenheit, die Sorge um die Schwachen und Kranken zu geißeln. Als wahrer Don Quijote des Todes verurteilte er jede Maßnahme zugunsten der Benachteiligten. In der Sorge um die Opfer attackiert er die Ursache dessen, was er für das vorzeitige Altern unserer Zivilisation, den Beschleuniger unserer Dekadenz hält.
Die These verdient es nicht einmal, widerlegt zu werden. Die westliche Welt altert keineswegs rasch, sondern zeichnet sich, dank der ständigen Erneuerung und Ausweitung ihrer Eliten, vielmehr durch außergewöhnliche Langlebigkeit aus.
Die Verteidigung der Opfer in den Evangelien ist zwar sicherlich humaner als das nietzscheanische Denken, doch sollte man darin keinen Verstoß gegen irgendeine „harte Wahrheit“ sehen. Das Christentum hält die Wahrheit gegen Nietzsches Wahn.

Indem er wahnhaft die wahre Größe unserer Welt verurteilte, hat Nietzsche sich nicht bloß selbst zerstört, sondern auch die grauenvollen Vernichtungen des Nationalsozialismus beschworen und begünstigt. (...)

Weil die Sorge um die Opfer ausschließlich unserer Welt vorbehalten ist, könnte der Gedanke aufkommen, sie würde uns, im Vergleich zur Vergangenheit, marginalisieren, doch damit ist nichts: Sie marginalisiert die Vergangenheit. In allen Tonarten wird uns wiederholt, wir hätten kein Absolutes mehr. Doch dass die Sorge um die Opfer nicht relativierbar ist, zeigt zum einen Nietzsches und Hitlers Unfähigkeit, diese Sorge auszurotten, zum anderen das in unserer Zeit zu beobachtende Ausweichen der Genealogisten. Sie ist unser Absolutes.
Dass die Sorge um die Opfer nicht „aus der Mode“ gerät, liegt daran, dass sie allein (nicht selten im Unterschied zu ihren Modalitäten) nicht von der Mode abhängt. Der Aufstieg des Opfers fällt nicht zufällig mit dem Aufkommen der ersten wirklich globalen Kultur zusammen.
Um eine permanente, unwandelbare Dimension der menschlichen Existenz zu benennen, sprachen die existentialistischen Philosophen von der Sorqe. Ich nehme den Begriff in Anlehnung an diesen Gebrauch wieder auf, nenne aber die Sorge modern, um damit das Paradoxon eines Wertes zu unterstreichen, der erst vor kurzem in der Geschichte aufgetaucht ist und sich dennoch mit der Evidenz des Unwandelbaren und Ewigen durchsetzt.
Jenseits der vor kurzem gestürzten Absolutheiten, Humanismus, Rationalismus, Revolution und sogar Wissenschaft, gibt es die uns einst verheißene Leere des fehlenden Absoluten nicht. Vielmehr gibt es die Sorge um die Opfer, und sie beherrscht, im Guten wie im Schlechten, die globale Monokultur, in der wir leben.
Die Globalisierung ist Ausfluss dieser Sorge und nicht umgekehrt. Bestimmender Faktor in allen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen und sogar religiösen Belangen ist die Sorge um die Opfer, nicht der wissenschaftliche Fortschritt, nicht die Marktwirtschaft und nicht die „Geschichte der Metaphysik“.
Werden die abgestorbenen Ideologien untersucht, dann zeigt sich, dass das, was an ihnen Bestand hatte, bereits die Sorge war, noch umhüllt von philosophischem Ballast. In unserer Zeit klärt sich alles, und die Sorge um die Opfer tritt in ihrer ganzen Reinheit und Unreinheit offen zutage. Im nachhinein zeigt sich, dass nur sie seit Jahrhunderten verdeckt die Entwicklung unserer Welt gesteuert hat.

Die Sorge um die Opfer konnte sichtbar werden, weil sämtliche belangvollen Formen des modernen Denkens erschöpft und diskreditiert sind. Am Ende der ideologischen Kämpfe glaubten die Intellektuellen, sich auf ewig in einem sehr genießbaren Nihilismus ohne Pflichten und ohne Sanktionen einrichten zu können. Da müssen sie heute zurückstecken. Unser Nihilismus ist nur ein Pseudo-Nihilismus. Um an seine Realität zu glauben, wird versucht, aus der Sorge um die Opfer etwas Selbstverständliches zu machen, ein höchst verbreitetes Gefühl, das nicht als Wert gelten kann. In Wirklichkeit ist sie eine offenkundige Ausnahme in unserem Werte-Nichts. Um sie herum ist tatsächlich Wüste, doch das gilt für alle Universen, die ein Absolutes beherrscht.

Was vor einem Jahrhundert nur mit dem Scharfblick eines Nietzsche erkannt werden konnte, das nimmt heute jedes Kind wahr. Die ständige Überbietung verwandelt die Sorge um die Opfer in einen totalitären Imperativ, eine Dauerinquisition. Selbst die Medien merken es und machen sich über die „Viktimologie“ lustig, was sie nicht daran hindert, sie für sich auszubeuten.
Dass unsere Welt, zumindest ihre Eliten, immer antichristlicher gesinnt ist, tut der Sorge um die Opfer keinen Abbruch; sie nimmt sogar allerlei abwegige Formen an.
Die majestätische Inauguration der „nachchristlichen“ Ära ist ein Witz. Wir befinden uns in einem karikaturistischen Ultra-Christentum, das aus der jüdisch-christlichen Umlaufbahn dadurch auszuscheren sucht, dass es die Sorge um die Opfer antichristlich „radikalisiert“.

Die trügerischen Transzendenzen befinden sich unter dem Einfluss der christlichen Offenbarung weltweit in Auflösung. Diese Auflösung führt praktisch überall zum Rückzug des Religiösen, eingeschlossen den des Christentums selbst, das zu lange von „opferkultischen“ Überresten kontaminiert wurde, um nicht für die Angriffe seiner zahlreichen Gegner anfällig zu sein.
Nietzsches Einfluss in unserer Welt ist sehr präsent. Wenden sich die Intellektuellen der hebräischen Bibel und dem Neuen Testament zu, dann riechen sie angeblich noch – mit einem selbstverständlich Nietzsche entlehnten Abscheu – den „scharfen Sündenbock-Beigeschmack“, der, vermutlich in Erinnerung an den ursprünglichen Bock, stets als „ekelerregend“ abqualifiziert wird.
Nie erproben diese sensiblen Spürhunde ihren exquisiten und hochdifferenzierten Geruchssinn an Dionysos und Ödipus. In den Mythen entdeckt niemand je den Gestank schlecht verscharrter Leichen. Niemals geraten die Mythen auch nur unter den leisesten Verdacht.
Seit den Anfängen der Renaissance steht der Heide bei unseren Intellektuellen in dem durch nichts zu erschütternden Ruf der Transparenz, Gesundheit und Heilsamkeit. Er wird stets dem als positiv entgegengestellt, was Judentum und Christentum angeblich an „Ungesundem“ an sich haben.

Bis zum Ende des Nationalsozialismus war das Judentum das bevorzugte Opfer dieses Sündenbocksystems. Das Christentum lag erst an zweiter Stelle. Nach dem Holocaust wagt man dem Judentum nicht mehr die Schuld zuzuschieben, und das Christentum ist zum Hauptsündenbock avanciert. Man begeistert sich für den luftigen und vital-sportlichen Charakter der griechischen Zivilisation, die der muffigen, argwöhnischen, griesgrämigen und repressiven Atmosphäre des jüdischen und christlichen Universums so entgegengesetzt ist. Das ist das Einmaleins der Universität und zugleich die Verbindung zwischen den beiden Formen des Nietzscheanismus des 20. Jahrhunderts, nämlich die gemeinsame Feindseligkeit gegenüber unserer religiösen Tradition.
Um das Christentum wirklich abzuschütteln, müsste unsere Welt die Sorge um die Opfer konsequent aufgeben, und genau das hatten Nietzsche und der Nationalsozialismus begriffen. Sie hofften, das Christentum relativieren, es zu einer Religion wie alle anderen auch machen zu können, die vermutlich durch den Atheismus oder durch eine wahrhaft neue, der Bibel völlig fremde Religion ersetzt werden könnte. Heideg­ger hat die Hoffnung auf eine vollständige Auslöschung des christlichen Einflusses und auf einen vollkommenen Neubeginn, auf einen neuen mimetischen Zyklus nicht aufgegeben. Das ist meiner Auffassung nach der Sinn jenes berühmtesten Satzes aus dem nach dem Tod des Philosophen im Spiegel veröffentlichten Interview, das zugleich Vermächtnis ist: „Nur ein Gott kann uns noch retten.“

Der Versuch, den Nietzsche und Hitler unternahmen, nämlich den Menschen die Sorge um die Opfer auszutreiben, endete in einem zumindest im Augenblick definitiv scheinenden Scheitern. Vom Triumph der Sorge um die Opfer profitiert jedoch nicht das Christentum, sondern das, was wir als den anderen Totalitarismus bezeichnen müssen; er ist der listigere von beiden, der zukunftsträchtigere und offensichtlich auch der gegenwartsmächtigere, derjenige, der sich den jüdisch-christlichen Bestrebungen nicht offen widersetzt, sondern sie für sich reklamiert und die Authentizität der christlichen Sorge um die Opfer bestreitet (nicht ohne einen Anflug von Berechtigung, sieht man das konkrete Handeln, die historische Umsetzung des realen Christentums im Lauf der Geschichte).
Statt sich dem Christentum offen zu widersetzen, schwappt der andere Totalitarismus auf der Linken über.

Die mächtigste mimetische Kraft während des gesamten 20. Jahrhunderts waren nicht der Nationalsozialismus oder die ihm verwandten Ideologien, also jene Ideologien, die sich offen gegen die Sorge um die Opfer stellten oder den jüdisch-christlichen Ursprung dieser Sorge unmittelbar anerkannten. Die mächtigste antichristliche Bewegung ist jene, die sich die Sorge um die Opfer zu eigen macht und sie „radikalisiert“, um sie zu paganisieren. Die Gewalten und Mächte verstehen sich inzwischen als „revolutionär“ und werfen dem Christentum vor, die Opfer nicht eifrig genug zu verteidigen. In der christlichen Vergangenheit sehen sie nichts als Verfolgung, Unterdrückung, Inquisition.

Dieser andere Totalitarismus präsentiert sich als Befreier der Menschheit, und um Christi Platz zu usurpieren, ahmen die Gewalten und Mächte ihn rivalisierend nach und brandmarken die christliche Sorge um die Opfer als eine heuchlerische und blasse Nachahmung des authentischen Kreuzzugs gegen Unterdrückung und Verfolgung, als dessen Speerspitze sie sich sehen.
In der symbolischen Sprache des Neuen Testaments lässt sich das wie folgt ausdrücken: Beim Versuch, seine Stellung erneut zu festigen und wieder zu triumphieren, bedient sich Satan in unserer Welt der Sprache der Opfer. Satan ahmt Christus immer perfekter nach und scheint ihn sogar zu übertreffen. Diese usurpierende Nachahmung kennt die christianisierte Welt schon seit langem, doch verstärkt sie sich in unserer Epoche ungemein. Diesen Prozess erwähnt das Neue Testament in der Sprache des Antichrist. Um diesen Begriff zu verstehen, ist er zunächst zu entdramatisieren, denn er entspricht einer ganz alltäglichen und prosaischen Realität.

Der Antichrist rühmt sich, den Menschen Frieden und Toleranz zu bringen, wie sie vom Christentum stets verheißen, aber niemals eingelöst wurden. Was die Radikalisierung der gegenwärtigen „Viktimologie“ in Wirklichkeit leistet, ist die effektive Rückkehr zu heidnischen Gewohnheiten aller Art: Abtreibung, Euthanasie, sexuelle Entdifferenzierung, Zirkusspiele ohne Ende (aber dank elektronischer Simulation ohne reale Opfer).
Der Neopaganismus will die Zehn Gebote und die gesamte jüdisch-christliche Moral als inakzeptable Gewalt erscheinen lassen, und ihre Abschaffung ist sein erstes Ziel. Die getreue Einhaltung des moralischen Gesetzes wird als Komplizenschaft mit den Verfolgungsmächten verstanden, deren Wesen religiös sei.
Da die christlichen Kirchen sich ihrer Verstöße gegen die caritas und ihres kontinuierlichen Einvernehmens mit der bestehenden „opferkultischen“ Ordnung erst spät bewusst wurden, sind sie besonders anfällig für die ständige Erpressung durch den zeitgenössischen Neopaganismus.
Für diesen Neopaganismus liegt das Glück in der grenzenlosen Erfüllung der Begehren und folglich in der Aufhebung aller Verbote.
Im begrenzten Bereich der Konsumgüter gewinnt die Vorstellung eine gewisse Wahrscheinlichkeit; hier dämpft die vom technischen Fortschritt ermöglichte maßlose Ausweitung des Angebots gewisse mimetische Rivalitäten. Dies wiederum verleiht der These, dass jedes moralische Gesetz ein reines Unterdrückungs- und Verfolgungs­instrument sei, den Anschein von Plausibilität.

Anmerkungen

1   Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Früh­jahr 1888, in: Giorgio Colli – Mazzino Montinari (Hg.): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe 13. Mün­chen – Berlin 1980, 14, 89, S. 266.

2   Ebd. 15, 110, S. 470-471.

Von

  • René Girard, Prof. Dr.

    1923 in Avignon geboren, lebt seit 1947 in den USA. Er lehrte dort an verschiedenen Universitäten, zuletzt als Professor für französische Sprache, Literatur und Kultur an der Stanford Universität, an der er heute noch als Professor Emeritus tätig ist.

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