Gnostischer Liberalismus

Robert P. George

Die Vorstellung, Menschen seien nicht-körperhafte1 Personen, die einen nicht personenbezogenen Körper bewohnen, scheint sich hartnäckig zu halten. Auch wenn der Mainstream des Christen- und Judentums diese Vorstellung vor langer Zeit ablehnte, ist der Glaube, den man als Leib-Seele-Dualismus bezeichnen könnte, mit aller Macht zurück. Und seine Anhänger sind Legion. Ob im Gerichtssaal, auf dem Campus oder an den runden Tischen der Chefetagen; diese Denkfigur verbürgt und formt den ausdrucksstarken Individualismus und Linksliberalismus, wie sie heute im Aufstieg begriffen sind.

Die Ablehnung des Leib-Seele-Dualismus durch das Christentum war eine Antwort der Orthodoxie auf die Herausforderung eines als Gnostizismus bekannten Weltbildes. Der Gnostizismus umfasste eine Vielzahl von Lehren, manche asketisch, andere das genaue Gegenteil. Allen gemeinsam war ein Verständnis vom Menschen – eine Anthropologie –, das strikt das Materielle oder Körperliche auf der einen Seite von dem Geistigen, Mentalen bzw. Affektiven auf der anderen trennte. Bezogen auf die menschliche Person heißt das, dass das Materielle oder Körperliche minderwertig ist und, wenn auch kein Gefängnis, aus dem auszubrechen wäre, so doch gewiss ein Instrument, das mittels der richtigen Handhabe den Zielen der Person als Geist, Seele oder Psyche zu dienen habe. Das Selbst ist eine geistige oder mentale Substanz, der Körper dessen rein materielles Vehikel. Du und Ich als Personen sind vollkommen mit dem Geist, der Seele oder Psyche identifiziert, aber überhaupt nicht (oder nur im äußerst geschwächten Sinn) mit dem Körper, den wir bewohnen (oder der irgendwie mit uns assoziiert ist) und gebrauchen.

Diesem Dualismus setzte die anti-gnostische Position die Auffassung von der menschlichen Person als einer dynamischen Einheit entgegen: ein personaler Leib, ein leibliches Selbst. Diese konkurrierende Sicht durchzieht die hebräische Bibel und die christliche Lehre. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Lehre des Christentums sich der Auffassung verschließt, das Individuum sei eins zu eins identisch mit seiner immateriellen Seele. Christliche Denker sind sich bis heute in der Frage uneins, ob die losgelöste Seele [...] verschieden von der menschlichen Person ist, oder lediglich die Person in radikal verstümmelter Form. In dem wesentlichen Punkt aber stimmen sie überein, dass der Leib kein rein extrinsisches Instrument der Person (oder des Selbst) ist, sondern integraler Bestandteil der personalen Wirklichkeit menschlichen Seins. Christus ist leiblich auferstanden.

Aristoteles, der in diesem Punkt mit seinem Lehrer Platon brach, verteidigt eine Version dieses so genannten Hylomorphismus [von Griechisch: hýlē – Materie, und morphḗ – Form]. Ohne die Existenz der Seele zu leugnen, bekräftigt sie, dass die menschliche Person ein materielles Wesen ist (wiewohl nicht nur materiell). Wir okkupieren oder bewohnen unseren Körper nicht. Der lebendige Leib ist Teil unserer personalen Wirklichkeit und keineswegs nur Trägersubstanz oder äußerliches Instrument. Denn obwohl er nicht von der Seele getrennt existieren kann, ist er doch nicht von minderem Wert. Er hat Anteil an unserer personalen Würde; es ist das Ganze, dessen Form unsere Seele darstellt. Dieses Verständnis von der Seele als der substantiellen Form des Leibes ist die Alternative des orthodoxen Christentums zur häretischen Vorstellung von der Seele als einem „Geist in einer Maschine“. Heuristisch lässt sich der lebendige Leib von der Seele trennen, aber nicht in der Wirklichkeit; wir sind ein Leib-Seele-Kompositum.

Des Weiteren sind wir Lebewesen – vernunftbegabte Tiere – und nicht reiner Geist oder Intellekt. Unsere personale Identität besteht in der Dauer der Zeit durch den Fortbestand unseres animalischen Organismus, der wir sind. Daraus folgt eine entscheidende Behauptung: Die menschliche Person entsteht gleichzeitig mit dem menschlichen Organismus und überlebt – als Person – mindestens so lange, bis der Organismus aufhört zu sein.

Aber wir sind keine vernunftlosen Tiere. Wir sind Tiere mit einem vernunftbegabten Wesen, grundsätzlich organisiert für begriffliches Denken und praktisches Überlegen, für Urteilskraft und Entscheidungsvermögen. Diese geistigen Kräfte lassen sich nicht auf das rein Materielle zurückführen. Geschöpfe, die über sie verfügen, sind – sofern gereift und unter günstigen Umständen – in der Lage, vernünftige (nicht nur verständliche) Merkmale von Handlungsoptionen zu erfassen und aufgrund von solchen Faktoren Entscheidungen zu treffen, die nicht durch vorausgegangene Ereignisse determiniert sind. Das heißt nicht, dass wir willkürlich oder zufällig handeln. Vielmehr fällen wir unsere Entscheidungen aufgrund von Werturteilen, die uns verschiedene Optionen eröffnen, ohne uns zu zwingen. Nach der hylomorphen Auffassung besteht kein Widerspruch zwischen unserem animalischen und unserem rationalen Sein.

Nach gnostischer Auffassung sind Menschen – lebende Vertreter der menschlichen Spezies – nicht notwendigerweise Personen, und manche Menschen sind keine Personen. Jene in den embryonalen, fetalen und frühen Säuglingsstadien sind noch nicht Personen. Jene, die nicht mehr unmittelbar über gewisse geistige Kräfte verfügen – also Opfer von fortgeschrittener Demenz, Langzeit-Koma-Patienten oder jene mit minimalem Bewusstsein – sind keine Personen mehr. Und diejenigen mit angeborenen schweren kognitiven Behinderungen sind jetzt nicht, waren nie und werden niemals Personen sein.

Die moralischen Folgerungen sind klar. Es ist das personale Leben, das wir unverletzt halten und vor Schaden schützen sollen; demgegenüber ist es legitim, andere Geschöpfe für unsere Zwecke zu nutzen. Wer einer gnostischen Anthropologie folgt, die Person und Leib wie oben beschrieben trennt, wird Menschen mit unentwickelten, mangelhaften oder verminderten geistigen Fähigkeiten leichter als Nicht-Personen betrachten. Der wird auch folgende Handlungen leichter rechtfertigen: Abtreibung, Kindstötung und Sterbehilfe für geistig Beeinträchtigte, sowie die Produktion, Verwendung und Zerstörung menschlicher Embryonen für biomedizinische Forschung.

Im gleichen Sinne fördert eine solche Anthropologie auch die linksliberal motivierte Ablehnung der traditionellen Ehe- und Sexualethik mit deren Bestimmung der Ehe als eine Vereinigung von Mann und Frau. Diese Definition ist sinnlos, wenn der Körper ein reines Instrument der Person ist, das verwendet werden kann, um subjektive Ziele zu verfolgen oder wünschenswerte Empfindungen in der Person-als-bewusstem-Subjekt zu erzeugen. Wenn wir nicht unsere Leiber sind, kann die Ehe nicht wesensmäßig die Ein-Fleisch-Vereinigung von Mann und Frau hervorbringen, wie sie es nach dem Dafürhalten jüdischer, christlicher und klassischer Ethik tut. Wenn der Körper nicht Teil der personalen Wirklichkeit des Menschen ist, kann es nichts moralisch oder menschlich Wichtiges an der „rein biologischen“ Vereinigung geben, abgesehen von möglichen psychologischen Wirkungen.

Ausgehend von einem Körper-Selbst-Dualismus wird es schwieriger, die Ehe als ein natürliches (vor-politisches und sogar vor-religiöses) Gut mit einer eigenen objektiven Struktur zu begreifen. Wenn Sexualität nur ein Mittel zu unseren subjektiven Zwecken ist, ist sie dann genau das, was wir möchten, dass sie sein soll? Inwiefern würde sie dann naturgemäß auf Fortpflanzung ausgerichtet sein oder dauerhafte Exklusivität erfordern?

Wir können die Vorstellung von Ehe als einer Ein-Fleisch-Vereinigung nur dann als sinnvoll ansehen, wenn wir den Körper als wahrhaft personal betrachten. Dann können wir die biologische Vereinigung von einem Mann und einer Frau als eine eindeutige Vereinigung von Personen sehen: sie wird – wie bereits die biologische Einheit der Teile innerhalb einer Person – durch die Ausrichtung auf ein einziges leibliches Ziel des Ganzen erreicht. Für das Paar ist dieses Ziel die Fortpflanzung. Dessen Ausrichtung auf familiäres Leben hat also menschliche und moralische, nicht „nur biologische“ Bedeutung. Ehegatten erneuern in ihrem leiblichen Einssein die allumfassende Vereinigung, die ihre Ehe bedeutet. Diese Sichtweise macht das natürliche Verlangen nachvollziehbar, die eigenen Kinder zu erziehen, und die normative Bedeutung der Verpflichtung, dies, wenn irgend möglich und selbst angesichts hoher persönlicher Kosten, auch zu tun. (Eine Mutter möchte unbedingt mit dem Baby nach Hause entlassen werden, das sie selbst zur Welt gebracht hat, und nicht mit einem, das ihr zufällig aus einem Bestand an Neugeborenen zugeteilt wurde, die während ihres Aufenthalts auf der Geburtsstation zur Welt kamen.) Dieser Instinkt bestärkt eine fundierte Sexualethik, die eine treue eheliche und elterliche Liebe fordert; eine Ethik, die den Linksliberalen von heute sinnlos und grausam erscheint.

Letztlich ist für sie nur das von Bedeutung, was sich im Geist oder im Bewusstsein abspielt, und nicht im Körper (oder im Rest des Körpers). Für sie ist wahre personale Einheit, soweit überhaupt möglich, Einheit auf der affektiven, nicht auf der biologischen Ebene. Die Ehe erscheint ihnen als eine sozial konstruierte Institution, die erstrebenswerte romantische Bindungen ermöglicht und die diverse Gefühle und Interessen von Menschen, die solche Bindungen eingehen, schützt und fördert. Das ist gewiss keine konjugale2 Partnerschaft, sondern eher eine Form sexuell-romantischer Gefährtenschaft oder häuslicher Partnerschaft. Fruchtbarkeit und Kinder sind darauf nur im Sinne einer Möglichkeit bezogen. Eine solche Ehe bietet keinen sinnhaften Rahmen, auch keinen indirekten, für eine sich in Kindern fortpflanzende Partnerschaft oder für eine Partnerschaft, deren Struktur und Normen von einer zumindest inhärenten Orientierung der sexuellen Natur des Menschen auf die Fortpflanzung und die Erziehung von Kindern geprägt sind. Das konjugale Verständnis von Ehe3 als Vereinigung, die sich natürlicherweise erfüllt, wenn die Ehegatten gemeinsame Kinder bekommen und großziehen, erscheint dem Neo-Gnostiker unvernünftig und sogar bizarr.

Wie der zeitgenössische Linksliberalismus die Angelegenheit darstellt, ist Sex selbst kein inhärenter Aspekt der Ehe oder Teil ihrer Bedeutung. Die Idee des Vollzugs der Ehe durch Geschlechtsverkehr erscheint ihm ebenfalls bizarr. So wie nach linksliberalem Dafürhalten zwei (oder mehrere) Personen absolut legitimen und wertvollen Sex haben können, ohne miteinander verheiratet zu sein, so können auch zwei (oder mehrere) Personen eine vollkommen gültige und vollständige Ehe ohne Sex haben. Es ist alles eine Frage der subjektiven Präferenzen der Partner. Einvernehmliche sexuelle Aktivität hat nur insofern einen Wert, als sie es den Partnern ermöglicht, gewünschte Gefühle auszudrücken – Zuneigung etwa oder entsprechend auch Beherrschung oder Unterwerfung. Wenn sie jedoch kein Verlangen danach haben, ist Sex, auch in der Ehe, sinnlos. Er ist rein zufällig und daher optional, ähnlich wie der Besitz eines Autos oder das gemeinsam oder getrennt geführte Bankkonto. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Die Essenz der Ehe ist Gefährtenschaft, nicht Sex, von Fortpflanzung ganz zu schweigen.

All das erklärt natürlich, warum die zeitgenössische liberale Ethik die gleichgeschlechtliche Ehe gutheißt. Sie behauptet sogar, dass eine Ehe zwischen drei oder mehr Individuen in polyamourösen sexuellen (oder nicht-sexuellen) Gruppen bestehen kann. Weil Ehe von der Biologie frei schwebend ist und sich durch ihre emotionale Intensität und Qualität auszeichnet, – die wahre „Person“ ist das bewusste und fühlende Selbst –, sind gleichgeschlechtliche und polyamore „Ehen“ auf dieselbe Weise möglich und wertvoll, wie die konjugale Vereinigung von Mann und Frau. Denn auch die Partner in diesen anderen Gruppierungen können Zuneigung füreinander empfinden und sogar glauben, dass die Qualität ihrer romantischen Partnerschaft durch einvernehmliche Sexualakte (oder eben, wie dargelegt, ohne sie) gesteigert wird. Würde sich der Sinn der Ehe tatsächlich darin erschöpfen, wäre es ein Verstoß gegen die „Gleichberechtigung der Ehe“, ihnen diesen Stand zu verweigern.

Und dann gibt es noch Transsexualität und Transgenderismus. Wenn wir eine Körper-Geist- (oder Körper-Seele)-Verbindung sind und keine Geister (oder Seelen), die materielle Körper bewohnen, dann verlangt der Respekt vor der Person auch den Respekt vor dem Körper, der die Verstümmelung und andere unmittelbare Angriffe auf die menschliche Gesundheit ausschließt. Das bedeutet, dass unsere Männlichkeit oder Weiblichkeit an unserem Körper erkennbar wird (von äußerst seltenen Fällen angeborener Deformation, bis hin zur Unbestimmbarkeit der Genitalien einmal abgesehen). Geschlecht wird durch unsere grundlegende biologische Organisation in Bezug auf die Fortpflanzungsfunktion begründet; es ist ein fester Bestandteil dessen, was und wer wir sind. Geschlechtswechsel ist eine metaphysische Unmöglichkeit, weil es eine biologische Unmöglichkeit ist. Oder nahezu unmöglich. Es könnte technisch möglich werden, das Geschlecht eines Menschen in einem sehr frühen Stadium der Embryonalentwicklung zu ändern – entweder durch Veränderung des Genoms oder bei einem männlichen Embryo, wenn beispielsweise sehr früh Androgeninsensitivität induziert würde, damit die gesamte geschlechtliche Entwicklung wie bei einer Frau abläuft. Natürlich wäre es unmoralisch, dies zu tun, da dies einen radikalen körperlichen Eingriff ohne Einwilligung erfordern würde und mit schweren Risiken verbunden wäre. Geschlechtsumwandlungen sind biologisch deswegen nicht möglich, da zur grundlegenden Veränderung der geschlechtlichen Kapazitäten einer Person die bereits erfolgte Ausdifferenzierung der Organe und anderer geschlechtlichen Merkmale rückgängig gemacht werden müsste, sodass man es danach nicht mehr mit demselben Organismus zu tun hätte. (Ich vermute, dieser Punkt ist recht früh im Mutterleib erreicht.) Wie Paul McHugh argumentiert, ist der Wunsch, das Geschlecht zu wechseln, eine Pathologie – ein Wunsch, nicht mehr man selbst zu sein und jemand anderes zu werden. Das heißt, nicht das eigene Wohl zu wollen, sondern die eigene Nicht-Existenz zu wollen als derjenige, der man ist.

Demgegenüber ist aus heutiger liberaler Sicht keine Dimension unserer persönlichen Identität wirklich biologisch festgelegt. Wenn man sich als Frau fühlt, die im Körper eines Mannes eingeschlossen ist, dann ist man genau das: eine („transgender“) Frau. Und obwohl man biologisch männlich ist, kann man sich ganz legitim als Frau bezeichnen und Schritte unternehmen – bis hin zu Amputationen und Hormonbehandlungen –, um ein weibliches Äußeres zu erwerben, insbesondere wenn man meint, man würde sich dadurch vollständiger als Frau „empfinden“.

Doch selbst diese Zuschreibung räumt womöglich mehr ein, als berechtigt ist. Was sagt ein präoperativer „Mann-zu-Frau“ Transgender wirklich, wenn er sagt, dass er „in Wirklichkeit eine Frau“ ist und sich eine Operation wünscht, um diese Tatsache zu bestätigen? Er sagt nicht, dass sein Geschlecht weiblich ist, denn das wäre offensichtlich falsch. Er sagt auch nicht, dass seine Geschlechtsidentität [gender] „Frau“ oder „weiblich“ ist, selbst wenn wir zugestehen, dass Geschlechtsidentität teilweise oder vollständig eine Frage der Selbstdarstellung und des sozialen Auftretens ist. Es ist eindeutig falsch zu sagen, dass dieser biologische Mann bereits als Frau wahrgenommen wird. Er möchte so wahrgenommen werden. Die präoperative Behauptung, er sei „in Wirklichkeit eine Frau“, ist jedoch die Voraussetzung seines Plädoyers für eine Operation. Sie muss also vorherig sein. Worauf bezieht sich diese Aussage dann? Die Antwort kann nicht sein inneres Gefühl sein. Denn das müsste ein Gefühl von etwas sein – aber es scheint kein „etwas“ zu geben, für das es das Gefühl sein könnte.

Für den Neo-Gnostiker ist der Körper jedoch ein Instrument der Lust für das bewusste Selbst, dem er unterworfen ist, und folglich stellen Verstümmelung und andere Verfahren kein inhärentes moralisches Problem dar. Ihre Durchführung steht auch nicht im Konflikt mit der medizinischen Ethik; umgekehrt aber könnte es einem qualifizierten Chirurgen als unethisch ausgelegt werden, die Operation zu verweigern. Gleichzeitig besteht der Neo-Gnostiker darauf, dass es weder chirurgischer noch rein kosmetischer Eingriffe bedarf, damit ein Mann eine Frau (oder eine Frau ein Mann) sein kann. Der Körper und sein Aussehen haben keine, allenfalls eine instrumentelle Bedeutung. Weil der Körper nicht das wahre Selbst ist, braucht das (biologische) Geschlecht und sogar das Aussehen nicht mit der Geschlechtsidentität [gender identity] in Einklang gebracht zu werden. Jeder hat das Recht, so wird uns gesagt, sich so zu präsentieren, wie er sich fühlt.

Und da Gefühle, einschließlich der Gefühle, was oder wer man ist, ein Spektrum umfassen und sogar fließend sind, ist man weder nur auf zwei Möglichkeiten der Geschlechtsidentität beschränkt (sondern möglicherweise „gender non-conforming“), noch dauerhaft an eine bestimmte Geschlechtsidentität gebunden. Auf Facebook stehen ganze 56 oder 58 oder wie viele auch immer zur Auswahl, und die Geschlechtsidentität kann sich im Laufe der Zeit oder abrupt verändern. Möglicherweise ist das Geschlecht auch willkürlich veränderbar. Man kann die Geschlechtsidentität vorübergehend ändern, beispielsweise aus politischen Gründen oder aus Gründen der Solidarität mit anderen. Die meisten dieser Beobachtungen lassen sich freilich auch auf die Geschlechtsidentität und auf das Konzept der „sexuellen Orientierung“ und die Praxis der Selbstidentifizierung bezüglich des sexuellen Verlangens übertragen – ein Konzept und eine Handhabe, die der Sicht vom Menschen als nicht-körperliche Person, die einen nicht-personalen Körper bewohnt, zuarbeitet.

Die anti-dualistische Position, die historisch von Juden und Christen (im Osten wie im Westen, von Protestanten wie von Katholiken) vertreten wird, hat Papst Franziskus mit Nachdruck wiederholt:

„Das Akzeptieren des eigenen Körpers als Gabe Gottes ist notwendig, um die ganze Welt als Geschenk des himmlischen Vaters und als gemeinsames Haus zu empfangen und zu akzeptieren, während eine Logik der Herrschaft über den eigenen Körper sich in eine manchmal subtile Logik der Herrschaft über die Schöpfung verwandelt. Zu lernen, den eigenen Körper anzunehmen, ihn zu pflegen und seine vielschichtige Bedeutung zu respektieren, ist für eine wahrhaftige Humanökologie wesentlich. Ebenso ist die Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit notwendig, um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen. Auf diese Weise ist es möglich, freudig die besondere Gabe des anderen oder der anderen als Werk Gottes des Schöpfers anzunehmen und sich gegenseitig zu bereichern. Eben deswegen ist die Einstellung dessen nicht gesund, der den Anspruch erhebt, ‚den Unterschied zwischen den Geschlechtern auszulöschen, weil er sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen versteht‘.“ Es ist kein müßiges und spekulatives Philosophieren, womit der Papst die Anhänger des Linksliberalismus aufbringt und die Praxis anprangert, Kindern beizubringen, das Geschlecht sei nicht biologisch vorgegeben, sondern zugewiesen. Es ist seine Entgegnung auf eine spezifische, in der Moderne neu auflebende Herausforderung einer philosophischen Anthropologie für die christliche Orthodoxie, mit der es die Kirche schon in ihrem frühen Kampf gegen den Gnostizismus zu tun hatte. Ihm ist bewusst, dass jene Anthropologie nun selbst eine Art Orthodoxie darstellt – die Orthodoxie eines spezifischen liberalen Säkularismus, die ich nach Robert Bellah als „expressiven Individualismus“ bezeichnet habe. Sie hat in den westlichen Kultureliten eine Vormachtstellung erlangt. Sie bereitet die metaphysische Grundlage jener gesellschaftlichen Praktiken und ideologischen Anstürme, denen sich orthodoxe Juden und gläubige Christen (wie auch viele Muslime und andere) heute ausgesetzt sehen: Abtreibung, Kindstötung, Euthanasie, sexuelle Befreiung, die Neudefinition der Ehe und die Gender-Ideologien.

Ist es richtig, Widerstand zu leisten? Was, wenn das dualistische Verständnis vom Menschen schon immer richtig war? Der Mensch ist womöglich nicht sein Körper, sondern bewohnt ihn nur und benutzt ihn als Instrument. Vielleicht ist die wirkliche Person das bewusste und fühlende Selbst, die Psyche; und der Körper ist schlicht Materie, die Maschine, in der sich der Geist befindet. So zu denken bedeutet jedoch, die Tatsache zu ignorieren, dass unsere gesamte Selbsterfahrung die Erfahrung ist, einheitliche Akteure zu sein. Nichts weist darauf hin, dass diese Erfahrung illusorisch wäre. Selbst wenn man einen Körper-Selbst-Dualismus schlüssig begründen könnte, was ich bezweifle, wäre dies nicht schlüssiger als die Annahme, dass wir alles nur träumen oder in der Matrix festsitzen.

Das ist aber nicht alles. Es genügt, die häufigste menschliche Erfahrung zu betrachten: das sinnliche Wahrnehmen (z. B. Hören oder Sehen). Wahrzunehmen ist offensichtlich eine körperliche, von einem Lebewesen ausgeführte Aktivität. Der Akteur, der wahrnimmt, ist ein leibliches Geschöpf, ein Lebewesen. Es ist jedoch klar, dass im Menschen als einem vernunftbegabten Tier ein und derselbe Akteur wahrnimmt und auch versteht, oder (durch geistige Aktivität) zu verstehen sucht, was er oder sie spürt. Der Akteur, der den Akt des Verstehens ausführt, ist folglich eine körperliche Entität und keine nicht-körperliche Substanz, die sich des Körpers als eines quasi-prothetischen Gerätes bedient. Andernfalls wären wir niemals in der Lage, die Kommunikation oder die Verbindung zwischen dem Etwas, das die Wahrnehmung ausführt, und dem davon getrennten Etwas, das das Verständnis leistet, zu erklären.

Um diesen Punkt klarer zu sehen, lade ich Sie einmal ein, zu überlegen, was Sie jetzt gerade tun. Sie sehen Wörter auf einer Seite oder auf einem Bildschirm. Dabei nehmen Sie nicht nur wahr im Sinne eines Empfangens von Eindrücken (einer Art von Daten) durch das visuelle Medium, Sie verstehen zugleich, was Sie wahrnehmen. Erstens verstehen Sie, dass das, was Sie sehen, Wörter sind (und nicht etwa Zahlen, Flecken oder etwas anderes). Zweitens verstehen Sie, was die Wörter bedeuten (als einzelne Wörter und als Sätze aneinandergereiht). Was genau ist nun die Entität, die gleichzeitig wahrnimmt und versteht? Und mehr noch, sind es ein oder zwei Entitäten? Wahrnehmung oder Wahrnehmen ist in der Tat eine körperliche Aktivität, aber ist es nicht derselbe Akteur (nämlich Sie als einheitliches Wesen), der die Wörter sieht und versteht, dass sie Wörter sind und was sie bedeuten? Es ergäbe keinen Sinn, anzunehmen, dass der Körper wahrnimmt und die Seele/der Verstand, als ontologisch getrennte und eigenständige Substanz betrachtet, versteht. Zum einen würde der Versuch, die Beziehung zwischen den jeweils getrennten Substanzen zu erklären, einen endlosen Rekurs von Erklärungen fordern. Wir wären nicht in der Lage, einsichtig zu machen, dass Sie das Verstehen leisten, während nicht Sie als einheitlicher Akteur, sondern ein Instrument, dessen Sie sich bedienen, die Wahrnehmung ausführt.

Oder nehmen Sie den Fall von Feststellung und Gedanke. Sie nähern sich Ihrem Schreibtisch und bestimmen den konkreten Gegenstand, der darauf liegt, als Zeitschrift […]. Dies ist eine einzige Feststellung, und beide Teile (Subjekt und Prädikat) müssen einen einzigen Urheber haben: ein Wesen, das sowohl das Sehen als auch das Denken ausführt, das sowohl den konkreten Gegenstand sieht als auch diesen Gegenstand durch Anwendung eines abstrakten Begriffes (Zeitschrift) deutet. Wie könnte es anders sein? Wie könnte irgendein Wesen beide Teile in einem einzigen Urteil zusammenhalten – dem Sinneseindruck und dem abstrakten Konzept –, wenn er nicht sowohl sinnliche als auch geistige Fähigkeiten hätte?

Ferner muss der Akteur, der etwas Bestimmtes – diesen Gegenstand dort – wahrnimmt, ein Lebewesen sein, ein Körper mit Wahrnehmungsorganen. Und die Feststellung, die mit der Wahrnehmung erfolgt, ist ein personaler Akt; der Akteur, der das universelle Konzept (Zeitschrift) anwendet, muss eine Person sein. (Ein nicht rationales Geschöpf, etwa ein Hund, könnte durchaus wahrnehmen, da ihm aber die besondere Rationalität fehlt, um universelle Konzepte zu bilden, würde er nicht einen konkreten Gegenstand als ein bestimmtes Exemplar eines Universellen einordnen können.) Daraus folgt, dass das Subjekt, das den Akt des Beurteilens vollzieht – der Gegenstand dort ist eine Zeitschrift –, ein Wesen ist, ein personales und ein biologisches zugleich. Wir sind nicht zwei getrennten Entitäten. Ebensowenig kann die Person einfach nur eine Phase im Leben eines menschlichen Lebewesens sein. Wäre sie das, dann wäre der kategorische Unterschied im moralischen Status (Person oder Nicht-Person) lediglich ein gradueller Unterschied (und kein wesenhafter, der in seiner Art begründet ist) – eine Absurdität. Wir sind in jedem Augenblick unseres Daseins als Menschen ein körperliches Selbst und ein personaler Körper.

Es gibt im Bereich des moralischen Denkens und Handelns kaum ein dringlicheres Projekt als die Wiederherstellung des gesunden Menschenverstandes, wonach menschliche Personen tatsächlich dynamische Einheiten sind, Geschöpfe, deren Körper Teil ihres Selbst sind – kein extrinsisches Instrument. Der heutige Linksliberalismus beruht auf einem Irrtum, dem tragischen Fehler, der hinter so vielen Bemühungen steht, Handlungen und Praktiken zu rechtfertigen, – und sogar gegen moralische Kritik zu immunisieren –, die in Wahrheit im Widerspruch zu unserer tiefen, innewohnenden und gleichen Würde stehen.

Robert P. George ist McCormick Professor für Jurisprudenz und Leiter des James Madison Programms für amerikanische Ideale und Institutionen der Princeton University.
Der Artikel ist zuerst in First Things erschienen: https://www.firstthings.com/article/2016/12/gnostic-liberalism

Fußnoten

1 Im Englischen heißt es „non-bodily persons“. In dieser Übersetzung wird bodily entweder mit körperlich oder leiblich übersetzt, body mit Körper oder Leib. Eine Unterscheidung zwischen Körper und Leib, wie in der deutschen Sprache, gibt es im Englischen nicht. Anm. d. Ü.: Entsprechend heißt es body-soul dualism und body-self dualism. Beide Begriffe werden deckungsgleich gebraucht.

2 eheliche

3 Vgl. Girgis, S., George, Robert P., Anderson, Ryan T.: What is Marriage? In: Harvard Journal of Law and Public Policy, 2010, Vol. 34, No. 1, S. 245-287. Zusammengefasst im DIJG Sonderdruck 2015: Was ist Ehe?

4 Papst Franziskus: Enzyklika Laudato si', Nr. 155.

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  • Robert P. George

    Robert P. George ist McCormick Professor für Jurisprudenz und Leiter des James Madison Programms für amerikanische Ideale und Institutionen der Princeton University.

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