Die Decke unserer Zivilisation ist dünn

Über die Grundlagen unserer Demokratie

Andreas Püttmann


I. Benjamin Franklin wurde nach dem Verfassungskonvent von Philadelphia von einer Frau gefragt, ob sie nun eine Demokratie hätten. „Ja, liebe Dame, antwortete Frank­lin, wir haben sie, wenn Sie sie halten können.“ Als Rudolf Wassermann, langjähriger Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen, diese Begebenheit 1989 in Erinnerung rief und erläuterte: „In einem Staat kann es nur so viel Recht geben, wie es rechtlich denkende Menschen gibt“1, hatten die Bürger der westdeutschen Bundesrepublik – unterstützt durch die freien Völker Westeuropas und Nordamerikas – ihre Demokratie vier Jahrzehnte hindurch gegen die militärische Bedrohung und ideologische Infiltration aus den angrenzenden Diktaturen im Osten „halten können“. Bei den 40-Jahr-Feiern zum Bestehen der Republik und ihres Grundgesetzes ahnte kaum jemand, dass sich schon wenig später Konrad Adenauers „Magnettheorie“ bewahrheiten sollte, wonach von einer prosperierenden Gemeinschaft freier, demokratisch verfasster Völker eine so große Anziehungskraft ausgehen werde, dass es schließlich möglich sei, „nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhangs in Frieden zu befreien.“2 Im folgenden Jahr bestätigte sich durch den Modus der Wiedervereinigung Deutschlands – Beitritt nach Artikel 23 GG a. F. – der treuhänderische Anspruch in der Präambel des Bonner Grundgesetzes, man habe „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“. Die Menschen in der DDR verstanden die Rede vom „Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“3 auf ihre Weise und schlossen sich dem Erfolgsunternehmen „Leben unter dem Grundgesetz“ lieber an, statt in „gleichberechtigte“ Verhandlungen über eine gemeinsame neue Verfassung gemäß Artikel 146 einzutreten, wie dies Bundespräsident Richard von Weizsäcker und ein großer Teil der deutschen Linken zunächst präferiert hatten. So erlebte am 3. Oktober 1990 das Grundgesetz der zunächst nur „provisorisch“ organisierten „Bonner Republik“ seine denkbar eindrucksvollste Bestätigung. Eine Verfassung in der Stunde ihres größten Glanzes.

II. Deutschland also „in bester Verfassung“? Die Autoren dieses Buches, angesehene Wissenschaftler und Praktiker aus Jurisprudenz, Politik und Philosophie, äußern Zweifel. Josef Isensee, Martin Kriele und Rupert Scholz zeigen – etwa am Beispiel von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Ehrenschutz und Lebensschutz – Widersprüche zwischen Verfassungstext, Verfassungsverständnis und Verfassungswirklichkeit auf und sorgen sich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wertewandels um eine Erosion des Rechtsbewusstseins in der Bevölkerung wie in den Amtseliten. Wenn es in einem Staat tatsächlich „nur so viel Recht geben kann, wie es rechtlich denkende Menschen gibt“, ist allerdings auch aus der Sicht der Bevölkerung selbst Grund zur Skepsis gegeben. 70 Prozent der Bundesbürger haben den Eindruck, „dass das Gefühl für Recht und Unrecht in unserem Land zurückgeht“4. Kriminalitätsstatistik und demoskopische Untersuchungen zum Rechtsbewusstsein scheinen dies zu bestätigen. „Dass alle die Gesetze achten“, gehört – bei kontinuierlichem Rückgang seit den siebziger Jahren – gerade noch für jeden zweiten Bundesbürger und nur noch für eine Minderheit der jungen Deutschen „unbedingt zur Demokratie“5. Die erklärte Bereitschaft zur öffentlichen „Regelverletzung“, auch zur Beteiligung an gewalttätigen Demonstrationen ist nach einschlägigen Umfragen6 ebenso deutlich gestiegen wie die Permissivität gegenüber den diversen Formen der sogenannten Alltagskriminalität: Steuerhinterziehung, Missbrauch von Sozialleistungen, Mitnahme von Büromaterial zu privaten Zwecken, Versicherungsbetrug, Schwarzfahren.
Zugleich anerkennt nur noch eine schrumpfende Minderheit der Bevölkerung „klare Maßstäbe für gut und böse“7; die große Mehrheit nimmt Zuflucht zu einer Art situativer Ethik, nach der alles immer „von den gegebenen Umständen“ abhängt. Folglich hat sich die Bandbreite des Zulässigen – oder jedenfalls nicht unbedingt Verbotenen –, die Zahl der unter den Augen der Gesellschaft wählbaren Optionen, scheinbar unaufhörlich erweitert. „Die meisten Normen stehen noch, jedoch wie bröckelndes Mauerwerk, durch die wachsende Bereitschaft zur Tolerierung von Normverstößen“8, welche – das sei nebenbei vermerkt – die Aufmerksamkeitsschwelle der Medien leichter überschreiten als das regelgetreue Verhalten. So hat eine friedliche Demonstration („Latsch-Demo“) von tausend Bürgern weniger Chancen ins Fernsehen zu kommen, als eine Sitzblockade von zwanzig wahrheitsmonopolistischen „Widerstands“-Aktivisten. Die Verfassungsväter waren 1949 – so Carlo Schmid – noch „der Meinung, dass mit dem Begriff des Rechtsstaates von vornherein die Verpflichtung aller Bürger gegeben ist, die Gesetze dieses Staates zu befolgen und jenen Anordnungen Folge zu leisten, die kraft dieser Gesetze von den von ihnen für zuständig erklärten Stellen erlassen werden.“9. Damit entsprachen sie dem Vermächtnis der Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Unrechtsdiktatur, das Eugen Gerstenmaier angesichts des „zeit-verrückten“ Widerstandspathos westdeutscher Protestbewegungen in die Worte fasste: „Wir wollten Recht. Geordnet gehandhabtes und vollzogenes Recht. ( ... ) Wir waren entschlossen, an den fundamentalen Grundsätzen des Rechtsstaates festzuhalten, richtiger: sie wieder auf den Leuchter zu stellen.“10

III. Das Normensystem des freiheitlichen Rechtsstaates, wie es in den Verfassungsartikeln 1 bis 20 zugrunde gelegt ist, verkörpert nach der zum Gemeingut politischer Bildung und Rhetorik gewordenen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auch eine „objektive Wertordnung“11. Schon deshalb ist Rechtsbruch unter Berufung auf dem Recht überlegene Werte in der Demokratie des Grundgesetzes widersinnig. Doch nicht allein die Diskreditierung des Gesetzesgehorsams gefährdet die Stabilität der Rechtsordnung. Die „objektiven“ Grundwerte des Grundgesetzes können langfristig nicht vom Wandel der subjektiven Wertvorstellungen in der Gesellschaft unbeeinflusst bleiben. Zwar verändern sich Gesetze, Sitten und Konventionen langsamer als die moralischen Normen der Individuen, es besteht hier also immer ein „time lag“. Wenn sich aber die Normen der einzelnen Menschen verändern, dann verändern sich auch die Gesetze, Sitten und Konventionen unausweichlich. Zeitgeist und Recht12 stehen besonders bei der Verfassungsauslegung in einer Wechselbeziehung. Staatszielbestimmungen und Grundrechte lassen nun einmal einen weiteren Interpretationsspielraum als die Straßenverkehrsordnung, und der Regelungsgegenstand des Politischen macht es dem Interpreten schwer, sich dem Sog der Zeitströmungen, der konkurrierenden Ideen und Interessen zu entziehen. Durch ihr Verständnis und ihre Auslegung „arbeitet“ die Verfassung gleichsam wie Holz. „Wenn die Interpretationsfolie wechselt, ändert sich, ohne Änderung des Verfassungstextes, die Verfassungssubstanz. Ein Philologe, der seinen Text falsch auslegt, verfehlt sein Objekt; der Jurist, der seinen Text falsch auslegt, verändert sein Objekt und schafft substantiell neues Recht, jedenfalls wenn sich seine Auslegung durchsetzt.“13 Die Verwirrung etwa um die höchstrichterliche Bewertung von Sitzblockaden zeigt einmal mehr: Gerichte existieren nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum, auch „Richter sind Kinder ihrer Zeit, und in ihrer Einstellung spiegelt sich das Meinungsklima der Gesellschaft wider“14. Dies gilt nicht zuletzt für das Bundesverfassungsgericht, das „in den Vorstellungen eines dem Verfassungsgesetz unterstellten und seine Innehaltung mit den Mitteln herkömmlicher Rechtsauslegungskunst sichernden Gerichts nicht mehr begriffen werden kann“15.
Für jeden Bürger, dem am Bestand unseres Rechtsstaats und seiner Wertordnung gelegen ist, steht damit die eigene Teilnahme am Wettbewerb der Verfassungsauslegung offen. Diese ist weder ein Monopol von Verfassungsrichtern noch von politischen Amtsträgern und fachlich geschulten Juristen. „Man mag das allgemeine Verfassungsinterpretentum (ein quasi lutheranisches Element) beklagen und kritisieren, dass nunmehr alle Zutritt hätten: die Theologen, Philosophen, Soziologen, Politologen und Journalisten ( ... ). Man kann die ‚offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten’ feiern16 oder die Verfassungsauslegung als neuartigen ‚Volkssport’ ironisieren. Aber man kann das Faktum nicht ignorieren, mag auch der Staatsrechtslehrer aus Berufshochmut dazu neigen. Und man kommt nicht umhin, es zu akzeptieren als demokratische Normalität.“17

IV. Dies bedeutet freilich nicht, dass gewissermaßen alles Recht mittel- bis langfristig zur Disposition wechselnder Mehrheitsströmungen stünde. Zwar mag das Bewusstsein (von Werten) letzten Endes tatsächlich alles Sein (von Recht) bestimmen, weil – umgekehrt – die bewusstseinsbildende Kraft des positiven Rechts weniger wirkungsmächtig zu sein scheint (§ 218!). Doch, wie Staatsminister Steffen Heitmann betont, „darf sich der Staat nicht in die Rolle eines ‚Abwicklers’ zurückziehen, darf er [sich] nicht zum Sklaven sich wandelnder gesellschaftlicher Entwicklungen machen“18. Und ganz generell darf eine humane Gesellschaft niemals die Überzeugung aufgeben, dass ein dem Wandel unterworfener Bereich von Wertvorstellungen und Rechtssätzen seine Begrenzung findet in einem menschlicher Verfügung entzogenen Kernbestand „ewiger“ Werte und Rechte, „die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst“ (Schiller). Entsprechend unterscheiden auch Wolfgang Fikentscher und Nikolaus Lobkowicz „zwei Wertebenen“, deren eine überzeitlich, unwandelbar und (scheinbar) innerweltlich evident, doch letztlich nur transzendent begründbar ist.19 Wo diese transzendente Wurzel unserer Imperative unbedingten Sollens oder Unterlassens abgeschnitten wird, mögen Stamm und Äste menschlicher Lebensordnung noch eine Weile grüne Blätter tragen, doch ihr Absterben ist gewiss.
Diese Gewissheit dämmert heute auch wieder jenen, die früher nicht gerade zu den Verfechtern, manchmal gar zu den Verächtern einer religiös bestimmten Ethik und der sie lehrenden Institutionen gehörten. Unter dem Schock einer Welle von ausländerfeindlichen Brandanschlägen fragte die GRÜNEN-Abgeordnete im Nordrheinwestfälischen Landtag, Beate Scheffler, im Rückblick auf die Erziehungsreformziele der 68er-Bewegung, wie es kommen konnte, dass „statt der mündigen, sozial und ökologisch engagierten, politisch hochmotivierten Jugend unsere Erziehung eine Spezies hervorgebracht hat, die zum überwiegenden Teil egozentrisch, konsumorientiert und, im schlimmsten Fall, sogar gewalttätig und fremdenfeindlich ist“20. Eine mögliche Antwort konnte sie zu diesem Zeitpunkt bereits in Joschka Fischers Programmschrift „Die Linke nach dem Sozialismus“ nachlesen: „Eine Ethik, die sich nicht auf die tiefer reichende, normative Kraft einer verbindlichen Religion (...) stützen kann, wird es schwer haben, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und von Dauer zu sein. (...) Das offene Glaubensproblem der Moderne wird sich nicht durch eine handlungsorientierte Verantwortungsethik auflösen lassen, wie sie Hans Jonas versucht hat, denn ihre gesellschaftliche Wirkung könnte sie erst auf dem Hintergrund neuer und akzeptierter religiöser Tabus und davon abgeleiteter Normierungen entfalten. Eine Verantwortungsethik ohne religiöse Fundierung scheint (...) in der Moderne einfach nicht zu funktionieren.“21
Die Begründung fällt nicht schwer: Erst die Annahme einer überweltlichen Rechtfertigungspflicht und eines transzendenten Ausgleichs von Sittlichkeit und „pursuit of happiness“ für die unsterbliche Seele stellt die Versicherungsinstanz dafür dar, dass ethische Maßstäbe unverbrüchlich gelten, dass sogar der Zustand, selbst als einziger sittlich zu handeln und dabei – innerweltlich betrachtet – hoffnungslos unterzugehen, immer noch jenem Zustand vorzuziehen wäre, in dem gar keiner sittlich handelte22: Die letzte Konsequenz einer Auflösung dieser religiösen Ethikverankerung hat Dostojewski (Schuld und Sühne) in dem drastischen Satz zugespitzt: „Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt.“

V. Tatsächlich deuten zahlreiche empirische Befunde für die Bundesrepublik Deutschland auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Verfall der religiösen Kultur und einer Schwächung des Rechtsbewusstseins hin: Sowohl illegale Protestformen als auch die obengenannten Delikte der Alltagskriminalität werden mit wachsender Nähe zur Kirche entschiedener abgelehnt. Der Vorsprung praktizierender Christen gegenüber konfessionslosen Bürgern beträgt hier zwischen 10 und 30 Prozent23. Ähnlich drastische Unterschiede ergeben sich in der Unterstützung von Handlungsmaximen wie „immer die Wahrheit sagen“, „bescheiden sein“, „höflich zu anderen sein“, „Dankbarkeit zeigen“, „auch mal verzichten können, „anderen vergeben“: kirchlich gebundene Jugendliche machen sich diese Grundsätze um durchschnittlich 16 Prozentpunkte häufiger zu eigen als Gleichaltrige ohne Kirchenbindung24. Auch in der Ablehnung radikaler politischer Parteien von links und rechts, in der Bejahung der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und in der Bereitschaft zu sozialem Engagement (Ehrenamt, Armenhilfe, Spendenbereitschaft) erweisen sich die Christen durchaus als eine demokratische „Werte-Elite“. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass ein Mensch ohne Gottesglauben kein rechtschaffener und vorbildlicher Bürger sein könnte. Demoskopie macht Aussagen über alle, nicht über jeden. Fraglich ist jedoch, wohin eine ganze Gesellschaft25 driftet, wenn sie den Anker lichtet, den das Grundgesetz in seiner Präambel mit der „Verantwortung vor Gott“ geworfen hat. Die Beispiele der antichristlichen, totalitären Staaten unseres ausgehenden Jahrhunderts mahnen. So erklärte der Dresdener Bischof Joachim Reinelt 1993: „Wer Gott aus den Herzen der Menschen reißt, weckt die wölfischen Instinkte. Wer einmal miterlebt hat, was die Idee bewirken kann, dass am Anfang nicht der Logos, sondern die Materie steht, hat keine Lust, die Konsequenzen aus diesem Irrtum noch einmal zu tragen.“
In einer Allensbacher Umfrage unterstützten 49 Prozent der Bundesbürger die Aussage, dass „die traditionellen christlichen Werte wieder wichtiger werden müssen“ – also weit mehr als nur die aktiven Kirchenmitglieder. Die gegenteilige Antwortalternative: „Traditionelle christliche Werte bringen uns nicht weiter“, wurde von ebenfalls 49 Prozent vertreten.26 Also ein Patt. Für die deutschen Patrioten, die den mörderischen Allmachtswahn derer zu stoppen suchten, die zum „Recht“ erklärten, „was dem Volke Heil bringt“ (Hans Frank27), oder sich damit brüsteten, sie seien „stolz darauf, nicht zu wissen, was Recht ist“ (Hermann Göring), wäre die Entscheidung klar. In einem Bericht über „die konfessionellen Bindungen und kirchlichen Beziehungen der Verschwörerclique vom 20.7.“ erklärte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner: „Über alle Unterschiede und Gegensätzlichkeiten hinweg, wie sie im Gesamtkreis der Verschwörung angetroffen werden, bestand eine gewisse Übereinstimmung, dass das Christentum die sittliche Grundlage des Staates abgeben sollte.“28
Entsprechend schufen die Väter des Grundgesetzes die zweite demokratische Verfassung der Deutschen aus einem Kanon ethischer Grundnormen, die einen engen Zusammenhang mit dem Christentum erkennen lassen. Dass – wie auch Wolfgang Fikentschers ideengeschichtlicher Beitrag belegt – „deutlich christliches Erbe“29 in der Verfassungssubstanz enthalten ist, kann als zwischen Theologie, Staatsrechtslehre und Politischer Wissenschaft unumstritten gelten. Dementsprechend ergab eine Analyse der höchstrichterlichen Judikatur (bis zum Ende der fünfziger Jahre), „dass dem Menschenbild der Rechtsprechung weitgehend christliche Auffassungen zugrunde liegen“30. Aus der Anerkennung des „spezifisch christlichen Ursprungs“ der Ideen der Menschenwürde und der „gleichen Freiheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“31, folgt dann aber auch die Frage von Nikolaus Lobkowicz, ob die heutige „unmittelbare Evidenz“ des Satzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Artikel 1 GG) sich tatsächlich als ebenso unveränderlich erweisen werde, wie es seiner „Ewigkeitsgarantie“ durch Artikel 79 III GG entspräche. „Nichts spricht dafür, dass es immer so bleiben müsste. Es ist eine Evidenz, die kulturgeschichtliche Voraussetzungen hat: das jüdisch-christliche Menschenbild (…). Wie der Holocaust, der Archipel Gulag und die jüngsten Ereignisse im vormaligen Jugoslawien beweisen, braucht es nur wenig, um sie als Evidenzen auszulöschen, so als dürften wir heute technisch hochgerüstete Neandertaler sein.“ (Lobkowicz)

VI. Die Decke unserer Zivilisation ist also dünn. Bessere Menschen als im ehemaligen Jugoslawien leben in Deutschland wohl nicht. Wir haben nur das Glück, in rechtsstaatlichen Strukturen zu leben, die – unter der Ägide demokratischer Siegermächte – in einer erfahrungsverdichteten Zeit durch eine Positivauswahl von Menschen errichtet wurden, die den Untergang einer Demokratie und den Ungeist einer Unrechtsherrschaft erlebt hatten und auf dieser Gegenfolie nun um so klarer die geistigen Voraussetzungen und Strukturprinzipien eines menschenwürdigen Gemeinwesens erkannten. Der Einfluss der Kirchen und ihrer Soziallehre auf die Konstituierung der Bonner Demokratie war entsprechend groß. Der zunehmend selbstverständliche Genuss von Freiheit und Rechtssicherheit scheint aber für das Bewusstsein ihrer Gefährdung zu desensibilisieren, die lebendige Erinnerung wächst sich im Generationenwechsel aus, der christlich-humanistische Bildungshorizont ist auf ein zum Teil erschreckendes Niveau gefallen, die in „erfahrungsverdünnten akademischen Räumen“ (Hermann Lübbe) geborenen „Diskursethiken“ und „Systemtheorien“ betonen mit Nachdruck ihren „nachmetaphysischen Status“32, und der Rechtspositivismus hat das Naturrechtsdenken fast vollständig verdrängt. Die überlebenden Opfer der zweiten deutschen Unrechtsdiktatur DDR vermögen ein Lied davon zu singen – eine Erfahrung, die auch der sächsische Justizminister als „bitter“ und „ernüchternd“ beschreibt.33
Hielt die in Rousseaus anthropologischem Irrtum verhaftete Linke es traditionell für ausgemacht, dass der gute Mensch durch die ungerechten gesellschaftlichen Strukturen verdorben werde, so beschleicht uns heute das bange Gefühl, es könnte inzwischen genau umgekehrt sein: Eine im ethischen Sinne gute Ordnung des Staates ist nicht mehr gedeckt durch die entsprechenden Werthaltungen und Tugenden ihrer Bürger, derer sie aber existentiell bedarf: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“34 Der Ausgang dieses Wagnisses bleibt ungewiss. Schon 1986 warnte Bundespräsident von Weizsäcker vor dem Deutschen Juristentag, „nicht Schwarzmaler, sondern nüchterne Beobachter“ äußerten den Verdacht, „die Demokratie lebe geistig von den Restbeständen vormoderner Werte und brauche diesen Vorrat allmählich auf“35.
Dass wir, so eine Allensbacher Umfrage – „eine moralische Wende brauchen“, davon ist inzwischen eine Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung überzeugt. „Einsicht ist der erste Weg zur Besserung“, mag man geneigt sein zu antworten. Jedenfalls ist uns das Maß an Übereinstimmung von Recht und Moral nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Mit Benjamin Franklin gesprochen: Wir haben einen demokratischen Rechtsstaat, wenn wir – viele einzelne – ihn halten können. Tua res agitur!

Über den Text:

Der Text ist die Einführung von Andreas Püttmann in das Buch von Fikentscher, Heitmann, Isensee, Kriele, Lobkowicz, Scholz (Hrsg.): Wertewandel – Rechtswandel, Resch-Verlag, Gräfeling 1997.

Anmerkungen

1 Rudolf Wassermann: Die Zuschauerdemokratie, München/Zürich 1989, S. 39.

2 Konrad Adenauer: Rundfunkrede 1952 (zit. n. Frankt R. Pfetsch: Die Außenpolitik der Bundesrepublik 1949-1992. Von der Spaltung zur Vereinigung, 2., erw. und verb. Aufl., München 1993, S. 150).

3 So die Denkschrift: „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“, Gütersloh 1985.

4 Allensbacher Archiv: IfD-Umfrage 5087.

5 Ebd., IfD-Umfragen 5049 und 9006.

6 Zusammenstellung bei Andreas Püttmann: Ziviler Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität. Konfession und Staatsgesinnung in der Demokratie des Grundgesetzes (Politik und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, hg. von Hans Maier u. a., Bd. 9), Paderborn u. a. 1994, S. 74-84.

7 Allensbacher Archiv: IfD-Umfragen 3201 und 3221.

8 Renate Köcher: Die Schwierigkeit, in Freiheit zu leben, in: Stimmen der Zeit 10/1985 (110. Jg.), S. 661-670, S. 664.

9 Carlo Schmid: Erinnerungen, Bern/München/Wien 1979, S. 372.

10 Eugen Gerstenmaier: Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1991, S. 165.

11 BVerfGE 2,1 (12); 5,85 (134 ff.,197 ff.); 6,32 (40); 7,198 (204 f.); 21,362 (372).

12 Thomas Würtenberger: Zeitgeist und Recht, Tübingen, 2., erg. Aufl. 1991.

13 Josef Isensee: Freiheit – Recht – Moral. Das Dilemma des Rechtsbewußtseins im deutschen Verfassungsstaat, in: Klaus Weigelt (Hg.): Freiheit – Recht – Moral, Bonn 1988, S. 14-40, S. 24.

14 Rudolf Wassermann: Rechtsstaat ohne Rechtsbewußtsein? (Schriftenreihe der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Grundfragen der Demokratie, Folge 8), Hannover 1988, S. 51.

15 Ernst Forsthoff: Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: ders., Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950-1964, Stuttgart 1964, S. 147-175, S. 170.

16 Vgl. Peter Häberle: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzeitung 1975 (30. Jg.), S. 297-305.

17 Josef Isensee: Die Verfassung als Vaterland: Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hg.): Wirklichkeit als Tabu. Anmerkungen zur Lage (Schriften der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, Bd. 11), München 1986, S. 11-35, S. 27f.

18 Fikentscher, Heitmann, Isensee, Kriele, Lobkowicz, Scholz: Wertewandel – Rechtswandel, Resch-Verlag, Gräfeling 1997, S. 46-47.

19 Fikentscher, Heitmann, Isensee, Kriele, Lobkowicz, Scholz: Wertewandel – Rechtswandel, Resch-Verlag, Gräfeling 1997.

20 Zit. n. Herbert Reul: Gewalt unter Jugendlichen. Das Scheitern der antiautoritären Erziehungsideologie, in: Die Welt vom 20.4.93, S. 7.

21 Hamburg 1992, S. 191.

22 Siehe Peter Koslowski: Ethik und Religion als Korrektiv der Wirtschaft, in: Jahrbuch des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover 1992/1993 (Schriftenreihe, Bd. 7), Hildesheim 1993, S. 216-235, S. 228ff.

23 Siehe Püttmann: Ziviler Ungehorsam, S. 251 ff.

24 Siehe Gerhard Schmidtchen: Ethik und Protest. Moralbilder und Wertkonflikte junger Menschen. Mit Kommentaren von Lothar Roos und Manfred Seitz, Opladen 1992, S. 171.

25 Lothar Roos: Gesellschaft ohne Gott? (Kirche und Gesellschaft Nr. 214, hg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle), Köln 1994.

26 Allensbacher Archiv: IfD-Umfrage 5087 (November 1993).

27 Hans Frank: Neues Deutsches Recht, München 1936, S. 7.

28 Zit. n. Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): „Spiegelbild einer Verschwörung“. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, Bd. 1, Stuttgart 1984, S. 434.

29 Klaus Tanner: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in der Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989, S. 8.

30 Albrecht Langner: Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik (Schriften zur Rechtslehre und Politik, hg. von Ernst von Hippel, Bd. 20), Bonn 1959, S. 115.

31 Hermann Heller, prominentester sozialdemokratischer Staatsrechtslehrer der zwanziger Jahre, in seiner Staatslehre (1934); in der Bearb. von Gerhart Niemeyer Wiederabdruck in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Martin Drath u. a., Leiden 1971, S. 215.

32 Dazu Sibylle Tönnies: Der leere Wertehimmel über Karlsruhe, in: F.A.Z. vom 22.11.96.

33 Fikentscher, Heitmann, Isensee, Kriele, Lobkowicz, Scholz: Wertewandel, Rechtswandel, Resch-Verlag, Gräfeling 1997.

34 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt 1976, S. 42-64, S. 60.

35 Richard von Weizsäcker: Verantwortung für die Stabilität des demokratischen Rechtsstaates, in: Verhandlungen des 56. Deutschen Juristentages, Bd. II, München 1986, I S. 25-40, S. 39.

Von

  • Andreas Püttmann

    ist Politikwissenschaftler, Journalist und Publizist. Seit 1993 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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