Von unfreier zu befreiter Liebe

Bernhard Meuser:
Freie Liebe. Über neue Sexualmoral.

Fontis : Basel 2020. Buchbesprechung

„Der Kirche steht eine bedeutende Transformation bevor: Gott hat sie als Glücksvorrichtung vorgesehen und nicht als neurotisch-neurotisierende Heilsmaschine“. – Diese hoffnungsvollen Worte stammen aus der Feder des katholischen Theologen Bernhard Meuser, der in seiner Jugend selbst sexuellen Missbrauch durch einen homosexuellen Priester erlebt hatte. Der Imageschaden seiner Kirche scheint irreparabel: Allein im Jahr 2019 wurden nach Rom um die tausend Missbrauchsfälle gemeldet. Nicht die Zahl der Taufen, sondern die der Austritte bestimmt ihre demographische Kurve.

Ent-Ethisierung des Evangeliums

Meuser schreibt Freie Liebe als Antwort auf die halbherzige Aufarbeitung der Vorwürfe. Denn ja, Meuser geht noch in die Kirche, glaubt noch, trotz der Missstände, die er dort antrifft, trotz der Ausweichmanöver in der Chefetage. Von sich und seiner Frau bekennt er: „Der Glaube der Kirche ist unser Glück“ (S. 189). Meusers Liebe zu seiner Kirche zeigt sich darin, dass er ihr ein Buch der Liebe widmet! Angesprochen sind aber auch die evangelischen Kirchen.

Meusers Feststellung hier: Während die katholische Kirche eine doppelte Sexualmoral hat, hat die evangelische Kirche gar keine mehr. Im Buch zeigt er Lösungsansätze auf, die für beide Kirchgemeinschaften gelten und – ich glaube – auch für Freikirchen, an denen diese Entwicklungen auch nicht spurlos vorbeigehen. Das Problem ist:

„Beide großen christlichen Konfessionen kämpfen in Westeuropa gerade um ihr nacktes Überleben… Eine beliebte Strategie ist jeweils die Verbilligung des Angebots, namentlich die Ent-Ethisierung des Evangeliums…. Wie, wenn es ein Christentum gäbe, in dem mehr oder weniger alles erlaubt ist?“ (S. 12)

Folgt man Meuser, so geht die katholische Kirche „im Horizont des Liebes- und Steuerentzuges“ diesen Weg des Billigmachens des Evangeliums. Dietrich Bonhoeffer hatte schon vor der „billigen Gnade“ gewarnt. Auf dem sogenannten „Synodalen Weg“ will man die Missbrauchskrise aufarbeiten. In Wahrheit werden die Missstände noch einmal nachhaltiger unter den Teppich gekehrt. Die Amtskirche möchte ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft nicht aufgeben. Stimmen, die nach Reinigung, Umkehr und Wahrhaftigkeit rufen, werden als Störung empfunden. Man folgt lieber den Sirenenklängen der sogenannten „Beziehungsethik“, wie sie der inzwischen verstorbene Moraltheologe Schockenhoff vertrat. Die „Sünde“ spielt darin keine große Rolle mehr; meistens wird sie eins zu eins durch das Wort „Wertschätzung“ ersetzt.

Kollateralschäden einer Beziehungsethik

So sehen sie aus, die Konturen der Beziehungsethik:

„Beziehungsformen, in denen Werte wie Liebe, Freundschaft, Verlässlichkeit, Treue, gegenseitiges Für-einander-Einstehen und Solidarität gelebt werden, verdienen in moralischer Hinsicht Anerkennung und Respekt – unabhängig davon, unter dem Vorzeichen welcher sexuellen Orientierung sie gelebt werden. Umgekehrt gilt: Promiskuität, offene Mehrfachbeziehungen, Untreue und von vornherein unter Vorbehalt eingegangene Beziehungen sind moralisch fragwürdig, und dies ebenfalls unabhängig von der sexuellen Orientierung der Betroffenen.“ (S. 141)

Das klingt wie aus dem Skript der Sexualmoral unserer säkularen Gesellschaft. Meusers Buch ist eine inspirierende, bewegende und wuchtige Reise durch die lebensfeindlichen Auswirkungen der „Beziehungsethik“ einerseits und die lebensbejahenden Chancen der „Leibestheologie“ andererseits. Wo liegt das Problem? Die Beziehungsethik trenntdas, was natürlicherweise zusammengehört. Das führt zu einer fragmentierten Sexualität, deren Kollateralschäden wir in einigen Jahren alle zu spüren bekommen werden:

„Wir trennen männliche Welten von weiblichen Welten, die Lust von der Treue, die Treue von der Liebe, die Liebe vom Kinderkriegen, das Kinderkriegen vom Mutter- und Vatersein und schließlich auch noch politisch die Erziehung vom Elternhaus.“ (S. 39)

Fragmentierte Liebe ist missbräuchlich

Werden diese Bereiche voneinander losgelöst ausgelebt, ist Missbrauch vorprogrammiert. Meuser zeichnet die fragmentierte und körperfeindliche Sexualität an mehreren Beispielen nach, auch an dem am eigenen Leib erlebten Missbrauch:

„Als homosexueller Mann war er (der Priester) nicht in der Lage, physisch Vater zu werden. Dennoch kam das eigentlich ausgeschlossene Element Vatersein sehr stark in ihm zum Ausbruch. Ich sollte ‚sein Sohn‘ sein, was im Rahmen einer natürlichen Beziehungsstruktur nicht möglich war.“ – Aber „meinem Ersatzvater fehlte verständlicherweise die Inzesthemmung… Die Katastrophe nahm ihren Lauf, als das unterschwellig vorhandene Begehren die Oberhand über die künstlich herbeigeführte Vaterschaft gewann. Geilheit siegte über Güte.“ (S. 229)

Die Beziehungsethik, mit der die katholische Kirche insbesondere in Deutschland aktuell flirtet und der sich die evangelische Kirche bereits verschrieben hat, ist im Grunde eine postfaktische Rechtfertigungsmoral, die das Problem weiterführt, anstatt es zu lösen. Wer meint, Meuser als Opfer dieses Missbrauchs sei auf der Suche nach Mitleid, irrt. Keine Rachegelüste, keine Bitterkeit. Im Gegenteil sehnt sich Meuser danach, Menschen gerecht zu werden, die sich ihre sexuelle Orientierung nicht ausgesucht haben:

„Homosexuelle – auch homosexuelle Priester – müssen in der Kirche gut leben können; sie haben ein Recht darauf, Wertschätzung zu erfahren, und sie haben es, unter der Voraussetzung, dass sie kein Doppelleben führen, nicht nötig, sich zu verstecken.“ (S. 167)

Der Weg dahin führt jedoch nicht über eine Beziehungsethik, denn diese verschließt die Augen vor den wirklichen Problemen.

„Verunschuldigter“ Sex als Eden-Utopismus

Ironischerweise sieht die Beziehungsethik die Ursache der Missbräuche in der angeblich vorhandenen strukturellen Homophobie der Kirche, (die doch vielen homosexuellen Priestern Zuflucht gewährt hat), anstatt sie im Problem der fragmentierten Sexualität zu suchen. Die nämlich wird gerade in der gesamten westlichen Welt auf Biegen und Brechen gefördert:

„Der Hintergrund des aufzuarbeitenden Elends in beiden Kirchen ist ein Dogma der Moderne und die Unterzeichnung einer Ur- Akte. Das Dogma lautet: Sex ist niemals Sünde. Die Ur-Akte lautet: Wir werden nie wieder etwas Sexuelles in Verbindung mit Sünde bringen. Die Evangelische Kirche hat diese Ur-Akte, die über Anschluss oder Nichtanschluss an die Moderne entscheidet, lange schon unterzeichnet. Die deutsche katholische Kirche ist gerade im Begriff, dies auch zu tun.“ (S. 17)

Die Kirche versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie „das Sexuelle“ verunschuldigt — als wäre gerade das Paradies noch einmal ausgebrochen — und mit Rhetorik aus der neomarxistischen Trickkiste „Macht“ als Ursprung von allem Bösen einführt. Anstatt von gewalttätiger Sexualität wird von sexualisierter Gewalt gesprochen. Meuser fasst zusammen:

„Diese Zergliederung liest sich gerade so, als habe Knabenschändung mit allem zu tun, bloß nicht mit Knabenschändung. Das erstaunt einen, der es erlebt hat.“ (S. 158)

Die katholische und die evangelische Kirche werden Missbrauch nicht stoppen können, solange sie ihn beziehungsethisch verharmlosen, statt ihm mit einer realistischen Sexualethik zu begegnen, in der Menschen in ihrer Sexualität zum Guten wie zum Bösen – also zu allem – fähig sind. Meusers Buch ist auch angesichts monströser Ausformungen menschlicher Sexualität nüchtern und realistisch; gleichzeitig lese ich die großartigsten Aussagen über die Kirche und das Leben und Gott seit langem! Die Beschriebe des Lebens mit Gott in der Kirche strotzen von Kraft, Hoffnung und Schönheit. Sie wecken große Freude! Die Theologie des Leibes, die auf Papst Johannes Paul II. zurückgeht, und die damit verbundene Sicht von Kirche ist herrlich. Diese lebensbejahende Sicht entspringt ausgerechnet jener Schrift, von der sich die Kirchen im Kern zu verabschieden drohen:

„Wer das Neue Testament aufmerksam liest, wird entdecken, dass es gar kein Sündenvermeidungs- Handbuch ist, eher schon ein Buch vom Glück und von der Freude.“ (S. 266)

Der Körper spricht die Sprache der Liebe

Hier in der Bibel findet Meuser die Schönheit in einer Theologie des Leibes, einer Ethik des Körpers. Der Schlüssel zu dieser Ethik des Lebens ist zu erkennen, dass unser Körper eine Sprache spricht, und zwar eine Sprache der Liebe, welche der Schöpfer Gott in uns hineingelegt hat:

„Gerade der Mensch, der liebt, ist eine Einheit von Körper, Seele und Geist – oder er bleibt unter seinen Möglichkeiten. Unser Körper hat eine Grammatik; ja, er ist eine reiche, leider oft kaum in Ansätzen entwickelte Sprache. Wenn Liebe eine wahrhafte ‚Vereinigung von Personen‘ (und nicht bloß von Körpern) ist, dann geschieht es unter der Voraussetzung, dass schon unser Körper wahrheitsfähig ist. Er kann zum sprechenden Ausdruck unseres Wesens werden.“ ( S. 298)

Was die Moderne aus der Welt geschafft hat, sollte die Kirche unbedingt wieder aufsuchen: ein Denken von der Teleologie her – von den „natürlichen Zielen“ (Robert Spaemann) in der Natur und im Körper des Menschen. Mit anderen Worten formuliert: Unser Körper erklärt, wie wir Sexualität leben sollen. Dies führt dazu, dass die Bereiche der Liebe und des Lebens nicht voneinander getrennt gelebt werden sollen:

„Freiheit wird schön, indem sie aus Freiheit dem Leben dient, sich in Freiheit von der Liebe binden und führen lässt und darin zur Lust befreit wird.“ (S. 72)

Die Kirche hat ein prophetisches Mandat

Eine Kirche, die nicht bereit ist, diese biblische Sicht des Lebens zu leben und zu erklären, kompromittiert in letzter Konsequenz unseren Schöpfer und wird deshalb ihre Entwicklung nur noch in der Menge der Austritte messen können. Diese Kirche verdunstet in der Irrelevanz:

„Eine Kirche aber, die aus Feigheit und Populismus ihren prophetischen Dienst verweigert und dem Gott des Lebens entkommen möchte, wird wie Jona über Bord geworfen.“ (S. 383)

Die Kirche hingegen, welche mit Zuversicht ihren prophetischen Dienst lebt, erlebt eine Transformation. Diese Transformation schafft nicht nur einen Weg raus aus dem Missbrauchsskandal, sondern lädt die Menschen ins Leben ein. Die Kirche ist dann jene Glücksvorrichtung, von der am Anfang dieser Rezension die Rede war:

„Sie wird aber ebenso unprätentiös wie standfest auf die offenbaren Optionen Gottes hinweisen; sie wird das Evangelium über die wilden Köpfe aller halten und in das leuchtende Ganze der Liebe einladen… Sie wird dafür bekannt sein, dass man mit ihrer Hilfe in eine mitreißende Dynamik der Liebe kommt und einen Weg in die persönliche und soziale Seligkeit findet“ (S. 24).

Mit Bernhard Meuser äußert sich jemand, der – von den Unruhen unserer Zeit – persönlich zutiefst betroffen, dennoch mit großer Klarheit sieht. Dies wirkt heutzutage unverhofft erfrischend, während das meiste, was wir in kirchlichen Kreisen aufgetischt bekommen, eine Variante fauler Kompromisse ist. Leider lebt der kompromittierende Geist von Jona nicht nur in den katholischen und evangelischen Kirchen, sondern auch mitten in den evangelikalen Freikirchen. Meusers Buch ist deshalb ein Muss für alle Leiter von Verbänden, Pastoren, Seelsorger, Theologen und Christen, die sich für das Heil der Christenheit und der Gesellschaft interessieren.

Von

  • Paul Bruderer

    (*1972), als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, war 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‚Godi‘-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 arbeitet er als Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld in der Schweiz und und lebt dort mit seiner Familie. Auf seinem Blog danieloption.ch publiziert er Gedanken, Texte und Diskussionbeiträge zu aktuellen Fragen des Glaubens, zur Geschichte der evangelikalen Bewegung und zu den heißen Eisen biblischer Anthropologie – auch aus eigener Feder, wie diese Buchbesprechung. https://danieloption.ch/featured/freie-liebe-eine-rezension/

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