Sexsucht und Trauma im Verborgenen – Ursachen

Kornelius Roth

In seinem gleichnamigen Buch erläutert Kornelius Roth, warum Sex zur Sucht werden kann, welche Faktoren die Entstehung von Sexsucht begünstigen, warum unsere gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Süchte fördern und welche konstruktiven Wege aus der Sucht heraus es gibt. Hier ist das Kapitel „Ursachen“ abgedruckt. Es geht darin um die entwicklungspsychologischen und familiären Faktoren, um die Rolle der Biologie und um das kindliche Trauma. 

Psychische, soziale und biologische Faktoren spielen bei der Entwicklung der Sucht eine Rolle. Auch bei der Sexsucht gibt es differenzierte Modelle, die den unterschiedlichen Einflussfaktoren und ihren Wechselwirkungen Rechnung tragen. Es sind letztlich das Zusammenspiel der verschiedenen, dysfunktionalen Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen im Leben eines Menschen und seine Verarbeitungsmöglichkeiten, die zu einer besonderen Anfälligkeit für die Entwicklung einer Sexsucht führen.

1. Psychische Faktoren und Sozialisation

In diesem Kapitel werden die Lebensumstände, die einer Sexsucht zugrunde liegen können, näher beleuchtet. Wenngleich sich keine spezifischen Merkmale oder gar Stereotypien herausschälen lassen, fällt auf, dass bestimmte Faktoren und Konstellationen in den Lebensgeschichten Sexsüchtiger überzufällig oft auftauchen. Die Lebenssituation der Betroffenen in ihrer Kindheit, das Verhältnis zu ihren primären Bezugspersonen und die Bedeutung, die Sexualität und Sensualität in den Herkunftsfamilien zugemessen wird, spielen erwartungsgemäß eine große Rolle.

Familienklima

Auf das allgemeine Familienklima und die eigene Rolle in der Familie angesprochen, sagt Lore: „Ich habe mich immer als Sündenbock und schwarzes Schaf der Familie gefühlt. Ich wurde sehr ausgenutzt. Schon als Kind musste ich das Haus sauber halten, kochen, mich um den Garten kümmern und ab und zu noch im Geschäft meiner Eltern helfen. Wenn meine Cousine keine Lust hatte, Hausaufgaben zu machen, dann musste ich deren Aufgaben auch noch erledigen. Es war keine schöne Zeit für mich.“ – Rosalinde berichtet: „Ich habe mir als Kind mit Bleistift schwarze Ränder um die Augen gemalt. Ich bin aus dem Haus gegangen in der Hoffnung, dass jemand sieht, wie schlecht ich aussehe, und mich da raus holt.“ – „Mein Kindheitsthema war, dass ich mich ständig zurückgewiesen fühlte“, erzählt Roberta. „Das hat mich sehr verletzt. Mein Vater hat gesagt: Du störst, geh zu Mama. Mama war gerade am Kochen und hat gesagt: Geh zu deiner älteren Schwester. Meine Schwester wollte mich schon gar nicht haben. Sie hat mich aus Eifersucht abgelehnt und mich zu meinem ältesten Bruder geschickt. So kam es, dass ich meistens bei ihm war. Er hat mich gerne geknebelt und gefesselt und geschaut, wie viel ich aushalte.“

„Meine Mutter war alkoholabhängig“, berichtet Gerda. „Ich wurde außerehelich gezeugt, was mir meine Mutter aber verschwieg. Kurz vor meiner Geburt hatte mein Stiefvater versucht, sich umzubringen. Es gab viel Streit und Beschimpfungen. Meine Mutter hat mich gehasst. Ich war blond und meine Mutter und mein Stiefvater waren sehr dunkel. Meine Mutter sagte: Du siehst aus wie dein Vater. Die wollten mich einfach nicht.“ – Achim erzählt: „Meine Mutter und meine Großmutter haben beide getrunken. Wenn meine Oma betrunken war, hat sie mich geschlagen und gewürgt. Obwohl meine Eltern und Großeltern im gleichen Ort wohnten, bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Oma hat durchgesetzt, dass ich bei ihr bleibe. Meine Mutter ist ungewollt mit mir schwanger geworden und meine Oma hat es als eine schlimme Schande für die Familie angesehen. Sie hat viel Alkohol getrunken. Schon von klein auf war es meine Aufgabe, die Oma vom Trinken abzuhalten. Später musste ich das Gleiche bei meiner Mutter tun.“ – „Bei mir waren beide Elternteile gewalttätig“, sagt Johann, „total unberechenbar. Mein Vater war ein Tretminenfeld. Ich konnte nie sicher sein.“ – Aline erzählt: „Meine Eltern waren vermögend. Ich wurde immer sehr schön angezogen. Sie haben mich auf ein teures Schweizer Internat geschickt, damit ich eine Dame werde und eine gute Partie mache. Meine Mutter wollte immer, dass ich jemand Adeligen heirate, am besten einen König.“

Diese Beschreibungen lassen sich beliebig fortsetzen. Die Familienatmosphären sind u.a. von Kälte, Ablehnung, Überforderung, Unberechenbarkeit, Verwöhnung, Leere und Sucht bestimmt. Es sind dysfunktionale Familien. Offensichtlich fehlen die Freude der Eltern an ihren Kindern und die Fähigkeit, das Kind altersgemäß zu umsorgen und zu fördern. So werden die Kinder schon früh ihrer Kindlichkeit beraubt.

Wie Jungen in dysfunktionalen Familien aufwachsen

Das Verhältnis zu den Eltern ist ein zentrales entwicklungsförderndes oder -hemmendes Moment in der Kindheit. Bei dem Thema der süchtigen Sexualität ist es interessant zu sehen, wie sich die Beziehungen zum gleich- und auch zum gegengeschlechtlichen Elternteil gestalteten. „Ich hatte zu meiner Mutter immer eine sehr enge Beziehung“, erzählt Andreas. „Ich denke auch, dass ich ihr Lieblingskind war. Ich hatte eine sehr körperliche Beziehung zu ihr, habe auf ihrem Schoß gesessen und geschmust. Meine Mutter hatte mich zum Schlafen oft ins Ehebett geholt. Ich habe als Kind schon gefühlt, dass sie mich holt, damit mein Vater sie in Ruhe lässt. An die Beziehung zu ihm erinnere ich mich kaum. Es ist so, als sei er nie dagewesen.“ 

„Bei uns in der Familie waren die Männer schwach. Meine Oma hat meinen Opa die Treppe runtergeschmissen, dann das Fenster aufgemacht und laut rausgeschrieen: Hilfe! Mein Mann schlägt mich“, erzählt Roman. – „Das Besondere an meiner Kindheit“, berichtet Helmut, „war ein sehr warmes, nahes, ja symbiotisches Verhältnis zu meiner Mutter. Sie ist überfürsorglich und schonend mit mir umgegangen. Mein Vater hingegen war mir fremd.“ – Erich beschreibt es so: „Meine Eltern haben sich viel gestritten, als ich klein war. Es gab keine körperliche Gewalt oder ähnliches, aber immer Streit. Ich war sehr schüchtern und verklemmt und stand in einer sehr engen Beziehung zu meiner Mutter. Sie hat mir immer gesagt, ich solle ja nicht so werden wie mein Vater, vielmehr lieb und sensibel sein. Als er einmal eine Affäre mit einer anderen Frau hatte, weinte sich meine Mutter bei mir aus. Ich war damals 14 Jahre alt und sagte ihr: Ich bring ihn um.“

In jedem dieser Beispiele lebte der Vater in der Familie. Prinzipiell hatten die Jungen also die Möglichkeit, eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen. Dazu kam es aber nie. Die enge, manchmal verwöhnende Beziehung zur Mutter nahm einen Exklusivcharakter an. Zu ihr entwickelt der Sohn oft eine starke Abhängigkeit. Der Vater bleibt randständig, wird eher abfällig behandelt und emotional ausgeschlossen. Die Söhne bekommen dabei verschiedene Rollen zugewiesen: Sie schützen die Mutter vor dem Vater oder werden gar zum Rächer. In inzestähnlicher Weise werden sie für die Mutter zum Partnerersatz. Manchmal pflanzt die Mutter schon früh in ihren Sohn den Gedanken ein, dass er etwas ganz Besonderes ist. Auf jeden Fall soll aus ihm einmal etwas Besseres werden als aus seinem Vater, von dem die Mutter enttäuscht ist. Dabei überträgt sie unbewusst ihre eigenen Wünsche nach Liebe und Anerkennung auf ihren Sohn.

Dies kann fatale Folgen für einen Sohn haben: Die Rolle, die ihm zugewiesen wird, überfordert ihn gründlich. Kein Kind kann für einen Erwachsenen Partnerersatz sein. So wird eine positive Identifikation des Sohnes mit seinem Vater verhindert. In der männlichen Welt kann er innerlich nicht heimisch werden. Nur die weibliche Welt, die allein von seiner Mutter verkörpert wird, hält ihn für etwas Besonderes! Dazu steht das Eigenerleben des später Süchtigen oft im deutlichen Kontrast: Er selbst erlebt sich eher als zurückgezogen, kontaktscheu und unmännlich und findet nur schlecht den Bezug zu Gleichaltrigen. Das schafft eine Distanz, die nur in der Phantasie mühelos überbrückt werden kann: Hier kann er der Größte sein und die ganze Welt retten, auch wenn die Wirklichkeit anders aussieht.

Wie Mädchen in dysfunktionalen Familien aufwachsen

Bei weiblichen Sexsüchtigen findet man eine andere, aber vergleichbare Konstellation.

Beispiel Aline: Ihre Mutter war alkoholabhängig und behandelte ihre Tochter wie eine Puppe: Sie zog sie hübsch an und schickte sie auf ein Internat in der Schweiz, damit sie gute Manieren lernt und später einen König heiraten kann. Ihren leiblichen Vater lernte Aline nie kennen. Ihr Stiefvater verging sich an ihr. – Anna erzählt die folgende Geschichte: „Von meiner Mutter habe ich nicht viel Zuwendung erhalten. Sie hat mir mal ganz stolz gesagt, dass sie mich als Baby drei Nächte lang hat durchschreien lassen, dann sei ich von selbst still gewesen. Meinen Vater habe ich erst richtig kennengelernt, als ich zehn Jahre alt war. Da kam er aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Er war für mich ein fremder Mann und sehr streng. Wenn ich nicht alles gegessen habe, hat er mich geschlagen oder mich ins Zimmer eingesperrt. Außer Schlägen gab es keinen Körperkontakt bei uns. Ich habe unter meinem Vater gelitten, aber auch sehr an ihm gehangen. Zu sagen hatte er nicht viel gehabt in unserer Familie. Meine Mutter hat alles bestimmt. Sie stand zwischen mir und meinem Vater. Von mir hat sie nicht viel gehalten, obwohl ich in der Schule die besten Noten hatte. Mein Bruder durfte studieren, aber ich durfte nur ein Handwerk lernen. Meine Mutter hat mich sehr viel helfen lassen im Haushalt. Ich war das Aschenputtel.“ – Heide erzählt: „Meine Mutter hat mich machen lassen, was ich wollte. Sie hat mir keine Grenzen gesetzt, sondern mir alles erlaubt und auch alles geglaubt. Ich habe sie verachtet, weil sie ohne Grund blind auf mich losgeschlagen hat. Mein Vater hatte immer einen Grund zur Strafe. Vertrauen konnte ich meinen Eltern nicht. Ich habe auch nie gesehen, dass sie sich mal in den Arm genommen oder Händchen gehalten haben. Vielleicht ist es ja symbolisch: Die Hände meiner Mutter waren immer kalt, die von meinem Vater immer warm.“

Alines Mutter behandelt ihr Kind wie ein kleines süßes Objekt: Sie interessiert sich primär für das Äußere der Tochter. Diese Kinder können im späteren Leben durchaus sehr erfolgreich sein, in ihrem Inneren fühlen sie sich aber oft leer und wenig liebenswert. Annas Mutter ist emotional roh zu ihrer Tochter: Sie benachteiligt und überfordert sie, ja, sie beutet sie regelrecht aus. Diese Mütter werden von ihren Töchtern als kalt, unbeteiligt, abweisend, ausbeuterisch oder feindselig beschrieben. Sie bieten ihnen keinen emotionalen Schutz und sorgen nicht angemessen für die Bedürfnisse ihrer Töchter. Zu den Vätern bestand meist ein etwas besseres Verhältnis. In den Beispielen bleiben die Töchter zu ihren Müttern distanziert und sehnen sich nach ihren Vätern. Wenn der Vater quasi für die Mutter einspringt und die Erfüllung aller emotionalen Bedürfnisse der Tochter übernimmt, kann die Beziehung zum Vater die zentrale Elternbeziehung für die Tochter werden. Zwischen Vater und Tochter können dann manchmal verdeckte oder offene inzestuöse Beziehungen entstehen, insbesondere wenn sich die Eltern emotional oder auch sexuell voneinander zurückgezogen haben. Die Situation der Mädchen ähnelt dann der der Jungen: Eine partnerschaftsähnliche Beziehung hat sich zum gegengeschlechtlichen Elternteil aufgebaut, während die wichtige Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil nur schlecht gelingt.

Die Familien Sexsüchtiger scheinen von Extremen geprägt zu sein. Viele Eltern haben offensichtlich ein Selbstwert- oder Suchtproblem, was auch ein Hinweis auf deren eigene belastete Kindheit ist. Die Partnerbeziehungen der Eltern wirken distanziert und beladen. Manche werden als feindselig beschrieben, aber das Nebeneinanderherlaufen der Partner, eine Ehe ohne innere Verbundenheit, ist das häufigere Bild. Die daraus resultierende Unzufriedenheit der Eltern erschwert angemessene Reaktionen im Umgang mit den Kindern. Im Kontrast dazu fällt auf, wie wichtig es in diesen Familien ist, nach außen normal und erfolgreich zu erscheinen. „Nach außen waren wir immer eine feine Familie. Die Tochter macht Abitur, lernt ein Instrument, macht Konzerte, wir waren eine brave tolle Familie“, kommentiert Caroline.

Grenzen

Auch die Grenzsetzungen in diesen Familien sind von Extremen gezeichnet: Entweder fehlten die Grenzen ganz, wie in der Geschichte von Heide, oder sie wurden zu rigoros und hart gesetzt. Heftige emotionale Ausbrüche und körperliche Züchtigungen waren die Folge: „Meine Mutter hat mit dem Staubsaugerrohr, dem Teppichklopfer oder mit dem Kochlöffel blind auf mich eingeschlagen. Sie war gar nicht mehr bei Sinnen. Mein Vater hat selten geschlagen, aber wenn, dann hat er mich arg verprügelt“, sagt Gerlinde. – „Meine Mutter hat öfter geschlagen als mein Vater. Der Vater war nur ihr Gehilfe, wenn sie mit ihren Prügeleien nicht mehr durchkam. Sie hat mit dem Kochlöffel wild auf uns eingedroschen. Einmal wurde meine Schwester bewusstlos geschlagen“, erzählt Amanda.

Der extreme Umgang mit Grenzen bestimmt auch das Bild im Bereich Sensualität und Sexualität. Manchmal herrschen starre und strenge moralische Normen mit körperfeindlichen Regeln vor: Die Eltern berühren weder ihre Kinder noch einander, wenn die Kinder anwesend sind. Auch freundschaftliche Berührungen fehlen oft ganz. Das Thema Sexualität wird komplett verschwiegen und tabuisiert. Die andere Seite: Ein Elternteil hält kaum Grenzen gegenüber den Kindern ein. Dabei vereinnahmt es ein Kind z.B. für seine eigenen Bedürfnisse nach körperlicher Nähe. In manchen dieser Familien schien ein ständiges sexuelles Fluidum im Raum zu sein. Auffällig war auch, dass viele Betroffene in die intimen Details des Sexual-lebens ihrer Eltern eingeweiht waren, wie Anja berichtet: „Im Nachhinein betrachtet würde ich sagen, dass bei uns zu Haus eine sehr lüsterne Atmosphäre herrschte. Meine Mutter hat sehr viele Liebesgeschichten gelesen. Das waren so Quälgeschichten. Da ging es um Folterungen durch Liebhaber. Die Frauen wurden eingesperrt und gequält.“ Heiko erzählt: „Meine Mutter hat immer verächtlich über Sexualität geredet. Sie hat meinem Vater vorgeworfen, dass es ihm nur darum ginge, zum Höhepunkt zu kommen.“ 

Überforderung

Ein weiteres Charakteristikum der Familien Sexsüchtiger ist der außergewöhnlich hohe Anspruch, z.B. im Leistungsbereich, den die Eltern an ihre Kinder stellen. Gleichzeitig lassen sie eine altersgemäße, angemessene Förderung und Unterstützung vermissen. Die Eltern geben große Ziele und hehre Ideale vor, ohne dass bei ihren Kindern entsprechende Möglichkeiten bestehen oder Mittel zur Verfügung gestellt sind. Oftmals handelt es sich dabei um Ziele, die die Eltern selbst nicht erreicht haben. In jedem Fall resultiert daraus eine Überforderung, die zu mangelndem Selbstvertrauen und Minderwertigkeitsgefühlen führt. Ein Beispiel haben wir schon bei Aline kennengelernt, die unbedingt einen Adeligen heiraten sollte. Theodor erzählt: „In der Grundschule war ich ein guter Schüler. Meine Mutter bestand darauf, dass ich aufs Gymnasium gehe. Das war eine frustrierende Erfahrung. Ich fühlte mich überfordert. Meine Mutter hat ab und zu mit Selbstmord gedroht, wenn ich mal schlechte Noten geschrieben habe. Sie hat mich damit ziemlich unter Druck gesetzt. Es war eine Horrorzeit für mich.“  – „Meine Mutter meinte immer, ich hätte noch ein bisschen besser sein können. Sie musste putzen gehen und wollte, dass ich es mal besser habe als sie. Deshalb durfte ich aufs Gymnasium. Dort war ich Zweitbester oder Drittbester in der Klasse. Aber das hat nichts gegolten bei ihr. Sie hat mich nie gelobt. Sie hat immer nur gefragt, warum ich nicht der Beste bin“, sagt Hans-Michael.

Aus den Bruchstücken, die hier zusammengetragen wurden, entsteht schon ein bestimmtes Bild von den Familienverhältnissen, in denen Sexsüchtige oft aufgewachsen sind: Das familiäre Klima, die Extrempositionen, die oft geherrscht haben, oder das Grenzen verletzende Verhalten bilden dabei gewisse Gemeinsamkeiten. Auch ist es auffällig, dass sexsüchtige Männer öfter in einem zu engen Verhältnis zu ihren Müttern gelebt haben, während sexsüchtige Frauen eher in großer innerer Distanz zu ihnen standen. Diese Themen werden im Weiteren nochmals aufgegriffen.

Grundlagen einer gesunden Entwicklung

Das wirft die Frage auf, welche Beziehung zwischen Eltern und Kindern angemessen ist: Welche Grundvoraussetzungen und Bedingungen sind für eine gesunde Entwicklung notwendig? Aus der Bindungsforschung1, die die Beziehung zwischen Eltern und Kindern untersucht, wissen wir, dass eine sichere, nahe Beziehung zu einem liebevollen Erwachsenen zentral für den Säugling ist, damit er sich körperlich, psychisch und sozial gesund entwickelt. Das Kind muss sich in der Welt willkommen fühlen. Das kindliche Bindungsverhalten wird durch die Fürsorge der Erwachsenen, das sogenannte Bonding, beantwortet. Das Kind entwickelt aus diesem konstanten Beziehungsangebot heraus in den ersten eineinhalb Jahren seines Lebens das Urvertrauen2

Über die Kommunikation mit seinen Bezugspersonen erfährt es Nähe, Wärme und Geborgenheit. Über die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse baut es eine feste und starke Beziehung auf.

In dieser frühen Entwicklungsphase ist das Kind symbiotisch an die Mutter bzw. an seine wichtigste Bezugsperson gebunden. Es nimmt nur sich selbst wahr. Soweit wir wissen, betrachtet es anfangs auch die Mutter als Teil von sich selbst. Und es erlebt sich als mächtig, denn es bekommt alles, was es will: Wenn es Hunger hat, gibt die Mutter ihm zu essen; wenn es friert, wird es gewärmt und wenn es schreit, wird es beruhigt. Ursache und Wirkung kann es natürlich nicht zuordnen. In dieser frühen Altersstufe fühlt sich ein Kind als Mittelpunkt der Welt. Es entdeckt zudem das Lustvolle am eigenen Körper und sich selbst als Liebesobjekt. Das ist eine normale narzisstische Durchgangsphase.

Nach dieser engen Bindungsphase entwickelt sich eine gegenläufige Tendenz. Das Umfeld des Kindes erweitert sich. Es kommt zunehmend mit Gleichaltrigen und anderen Bezugspersonen in Kontakt. Es erfährt sich als ein Mensch unter vielen und übt seine sozialen Fertigkeiten. Dabei löst sich der narzisstische Lust- und Liebesbezug zugunsten einer zunehmenden Liebes- und Beziehungsfähigkeit zu anderen auf. Bis zum Erwachsenenalter wird parallel dazu ein schrittweiser Ablösungs- und Trennungsprozess von den Eltern in Gang gesetzt. Mit jedem Entwicklungsschritt des Kindes entstehen neue Grenzen zwischen Eltern und Kindern. Am Abschluss der Entwicklung steht die Eigenständigkeit, die Individuation, die auch die Fähigkeit zur sexuellen Beziehungsaufnahme miteinschließt.3

Betrachtungen einer gestörten Entwicklung

Aber was passiert, wenn es zu Entwicklungsstörungen in der Kindheit kommt? Welches sind mögliche Folgen?

Angst: Wenn es in der frühen Kleinkindphase nicht zur Ausbildung des Urvertrauens kommen konnte, wird die Beziehung zu sich und anderen beeinträchtigt. Wenn seine Bedürfnisse nicht die nötige Beachtung finden oder zurückgewiesen werden, kann ein Kind schon früh mit Verlassenheits- und Einsamkeitsgefühlen in Kontakt kommen, die Angst und Schmerz in ihm hervorrufen.

Scham: Beim Kind kann ein Gefühl entstehen, dass es unerwünscht oder überhaupt verkehrt ist. Es erlebt sich als unzulänglich oder nicht gewollt. Irgendetwas muss an ihm nicht stimmen, denkt es. Ein kleines Kind wird unbewusst die Ursache dafür immer bei sich selbst suchen: Wenn es die elterlichen Forderungen nicht erfüllt, beweist das nur sein Fehlverhalten; wenn es von den Eltern herabgesetzt, beschimpft oder geschlagen wird, ist das nur eine Bestätigung seines negativen Selbstbildes. Es erlebt sich dann als schlecht und böse und fängt an, sich seiner zu schämen. Dies ist der Anfang einer seelisch verkrüppelnden Scham.

Phantasie: Innerlich bleibt dies aber nicht unwidersprochen. Auch wenn die kindlichen Bedürfnisse nur unzulänglich erfüllt werden, verschwinden die Wünsche nach Geborgenheit, Annahme und Bestätigung nicht einfach. Der Mangel verursacht einen Schmerz im Kind, der Trost verlangt. Dafür greift es auch wenn es immer älter wird, selbst als Erwachsener  – oftmals auf die ganz frühen Kindheitswünsche zurück, die noch aus der narzisstischen Übergangsphase stammen. Es ist der Versuch, das Baby-Gefühl „Mittelpunkt der Welt“ zu sein, doch noch nachzuholen: endlich doch zu erreichen, dass es willkommen ist auf dieser Welt! Als schon etwas älteres Kind kann es jetzt Phantasien produzieren, die den Schmerz betäuben können. Gerade wenn es Verletzungen oder Herabsetzungen erfährt, helfen die Phantasien, groß, stark und anerkannt zu sein, über den Schmerz hinweg. Diese narzisstischen Ersatzgefühle binden die für das Kind bedrohlichen Aggressionen, z.B. gegen seine Eltern, und kompensieren die Angst und die Verlassenheitsgefühle, denen das Kind real ausgeliefert ist. Auch die Lustbezogenheit allein auf den eigenen Körper gehört dazu. Mangelhafte Bindungserfahrungen führen tendenziell zu einer verfrühten Aktivierung des sexuellen Verhaltensystems.4 Die sexuelle Lust bekämpft den inneren Schmerz und gibt Trost.

Wenn ein Kind zufällig auf ein Verhalten trifft, von dem es merkt, dass es ihm einen Schmerz erspart oder ihm Macht gibt, dann ist die Chance groß, dass es dieses Gefühl wieder und wieder suchen wird. Es ist eine von vielen Strategien, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die Verletzbarkeit den Eltern gegenüber zu mindern.5 Das Phantasieleben der kindlichen Sexualität leitet so einen verfrühten Unabhängigkeitsprozess des Kindes von den elterlichen Personen ein, die ihm das, was es braucht, nicht geben können. Der Psychoanalytiker Fritz Riemann schreibt: „Je ärmer ein Leben an echter Geborgenheit, je ärmer an ganzheitlichen Leibeserfahrungen, umso eher wird sich die Liebesfähigkeit immer mehr an nur sexuell einmal erlebte, fragmentarische Lusterlebnisse und Triebbefriedigungen heften.“6

Eltern

Die Qualität der Elternbeziehung ist von großer Bedeutung. Die Mutter-Sohn-Bindung ist oftmals unangemessen intensiv und eine Art Notgemeinschaft in einer dysfunktionalen Familie, die beiden Seiten Halt und Trost spendet. Aber sie überfordert das Kind und gefährdet die notwendige innere Ablösung von der Mutter und ihren Wertvorstellungen. Der Vater steht oft als ausgleichende Kraft nicht zur Verfügung. Er wirkt bedrohlich, schwach oder abwesend, was eine positive Identifizierung mit ihm kaum zulässt. Der Sohn bildet als Folge eine fragile männliche Identität aus, oft verbunden mit starken Hemmungen und geringem Selbstvertrauen. Er fürchtet sich vor Frauen und ihrer Macht, obgleich er ständig ihre Nähe sucht. Eine partnerschaftliche Liebesbeziehung aufzubauen, wird dadurch natürlich erschwert. Es kann eine Neigung entstehen, Abhängigkeitsbeziehungen einzugehen, in denen er sich – ähnlich wie in seiner eigenen Mutter-Kind-Erfahrung – als schwach erlebt.

Bei den weiblichen Sexsüchtigen hingegen scheint die Identifizierung mit der eigenen Mutter kaum zu gelingen. Weder als Partnerin noch als Mutter nimmt sie eine angemessene Vorbildfunktion ein, was die weibliche Identitätsfindung der Tochter erschwert. Die kompensatorische Beziehung zum Vater – manchmal in einer Partnerersatzfunktion – kann den Mangel nicht ausgleichen. Im Erwachsenenalter kommt bei beiden Geschlechtern in den zwanghaften Eroberungen der unbewusste Wunsch zum Ausdruck, wieder in die vertraute Nähe des anderen Geschlechts zu gelangen.

Überforderung, Rebellion und Scham

In dysfunktionalen Familien werden überhöhte Anforderungen an die Kinder gestellt. Sie sollen und wollen den Idealvorstellungen der Eltern entsprechen. Tun sie es nicht, bricht bei den Eltern schnell eine Welt zusammen. Mit der Zeit verinnerlichen Kinder die in der Familie geltenden Normen. Jetzt reagieren sie selbst mit Entmutigung und Selbstzweifeln, auch bei unbedeutenden Fehlschlägen. Immer wieder wird der Betroffene nach Misserfolgen auf sich zurückgeworfen und fühlt sich minderwertig und ohnmächtig, die familiären Ideale zu erreichen. Die Folgen: Einerseits verstärkt jeder Misserfolg die krankmachenden Schamgefühle und das negative Selbstwertgefühl, das bis zum Selbsthass reichen kann. Andererseits aber wird ein innerer Widerstand gegen die Familiennormen ausgelöst, eine Art Rebellion, die aber meist im Stillen und Verborgenen abläuft. Das Rebellische ist ein verzweifelter Autonomieversuch in einer ausweglosen Situation. Das Kind erlebt jetzt eine innere Zerreißprobe, es tanzt auf zwei Hochzeiten gleichzeitig. Einerseits versucht es weiterhin, die verinnerlichten Gebote der Eltern zu erfüllen. Andererseits wird der kindlich rebellische Bereich, den es in sich erschlossen hat, zunehmend mit schmerzlindernden Gefühlen gefüllt, die ihm das Verbotene, Geheime und Sexuelle geben. Das sexsüchtige Ausagieren bedient beide Seiten: In der Sexualität kommt einerseits das Rebellische voll zur Geltung. Und andererseits werden – als eine Art von Sühne – die elterlichen Gebote doch noch erfüllt: Die Angst vor der Entdeckung, die Scham- und Schuldgefühle sind Beweise dafür. So wird beiden Seiten Rechnung getragen. Auch in dem Doppelleben, das manche Sexsüchtige führen, wird der Wunsch deutlich, beiden Ansprüchen gerecht zu werden.

Das sexsüchtige Ausleben erlöst den Betroffenen eine Zeit lang von den unerfüllbaren inneren Anforderungen an sich selbst, die Schamhemmung fällt weg, und er hat Zugang zu Gefühlen und Fähigkeiten, die ihm sonst versperrt sind. Da seine sexuellen Verhaltensweisen aber nüchtern betrachtet oft gegen sein eigenes Gewissen verstoßen, verstärken sie seine ohnehin schon übermäßigen Schamgefühle. Deshalb wird die Sexsucht auch als Schamkrankheit angesehen. 

Bindungswünsche

Kontaktstörungen und Sozialängste sind oftmals ein auslösender, aber auch ein unterstützender Faktor der Sexsucht: Sex ersetzt die fehlenden Beziehungen. Die begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten in den Herkunftsfamilien beschränken die Kommunikations- und Kontaktfähigkeiten. Fehlendes Urvertrauen, Hemmungen, Ängste und geringes Selbstwertgefühl behindern positive, emotional offene Kontakte zu anderen. Oftmals kann sich der Betroffene gar nicht vorstellen, dass ihn jemand liebenswert findet, gut zu ihm ist oder für ihn sorgt. Aufgrund der schlechten Vorerfahrungen und der fehlenden Vorbilder werden Kontakte daher gemieden, oder es tritt eine tiefe Ambivalenz gegenüber den eigenen Kontakt- oder Bindungswünschen ein. Sehnsucht und Misstrauen halten sich dann die Waage: Dem Wunsch nach Nähe und Annahme steht die Angst vor Vereinnahmung, übergriffigem Verhalten oder Ablehnung gegenüber.

Groll

Aus der inneren Ausweglosigkeit heraus kann sich als Ersatzgefühl ein offener oder verdeckter Groll gegen andere entwickeln. Dieser Groll steckt voller Auflehnung und Ablehnung. In ihm verbirgt sich gleichermaßen Vernichtungsangst und der Wunsch, sich zu behaupten. Zugleich ist in ihm aber auch die Angst verborgen, sich anderen gegenüber nicht durchsetzen zu können.

Grenzen und Familienmodelle

In Familien wird mit Grenzen sehr unterschiedlich umgegangen, man unterscheidet rigide, strukturierte, flexible und chaotische Familienmodelle. In Familien Sexsüchtiger scheinen vor allem das rigide und das chaotische Modell vorzuherrschen. Rigide Familien folgen einem autoritären Entscheidungsstil mit klar zugewiesenen Rollen und strikten Regeln. Chaotische Familien hingegen zeigen eine unberechenbare und ineffektive Führungsstruktur, die zu impulsiven Entscheidungen, widersprüchlichen Regeln und Vertauschung der Eltern-Kind-Rollen führt.7 Natürlich sind Familien nicht in allen Bereichen durchweg der gleichen Kategorie zuzuordnen. Oft kommt es zu Mischformen, wobei dysfunktionale Familien häufig aus einer Mischung von rigiden und chaotischen Strukturen bestehen. So können die Familiengrenzen nach außen rigide und abgeschlossen sein, während sie nach innen durchlässig und grenzenlos sind. Nach außen ist man beispielsweise um Glanz oder zumindest Normalität bemüht, während es innen chaotisch und übergriffig zugeht.

Sowohl zu lockere als auch zu feste Grenzen können psychische Störungen begünstigen. Zu offene Grenzen begünstigen Übergriffe im emotionalen, körperlichen, sexuellen und religiösen Bereich. Kinder aus diesen Familien entwickeln wenig Gespür für ihre eigenen Grenzen.

Bei zu festen Grenzen werden die Kinder zu früh auf sich allein gestellt. Die autoritären Strukturen in rigiden Familien erzeugen starke Autoritätsängste. Manchmal wird die Grenzziehung von den Elternteilen auch nicht einheitlich gehandhabt, was Kinder zusätzlich verwirrt.

Das Konzept der Grenzen bietet ein besseres Verständnis für die Verhältnisse in den Familien Sexsüchtiger. Es macht deutlich, warum Betroffene so viele Unsicherheiten zeigen, sich anderen Menschen zuzuwenden bzw. sich abzugrenzen. Es bietet aber auch therapeutische Konsequenzen und kann dazu beitragen, dass Betroffene das Neinsagen lernen und sich selbst und anderen gegenüber gesunde Grenzen setzen. Robert Bly, der Autor von Eisenhans, formulierte dazu: „Ein Mann ist dann zum Mann geworden, wenn es ihm gelingt, den Körper das machen zu lassen, was er nicht möchte.“8 Das bedeutet für das Thema Sexsucht: Wenn ein Mann aus lauter Lust hinter jedem sexuellen Reiz herlaufen muss, dann hat er seinen Körper nicht im Griff, sondern der Körper macht mit ihm, was er will. (Das gleiche gilt natürlich auch für Frauen.)

2. Biologische Faktoren

Die körperlichen Vorgänge, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Sexsucht eine Rolle spielen, sind noch nicht geklärt. Gleichzeitig hat es in den letzten Jahren – auch durch neue Untersuchungsmethoden wie die Tomographie (SPECT) – eine Vielzahl von Forschungsergebnissen gegeben, die wertvolle Erkenntnisse, insbesondere zum Gehirnstoffwechsel, erbracht haben. Es ist die Balance der Chemie von Hunderten von Botenstoffen wie Hormone oder Neurotransmitter in den verschiedenen Zentren und Bahnen, die im Gehirn Botschaften übermitteln, Stimmungen erzeugen, Aktivität, Motivation sowie Temperament steuern. Dabei deutet vieles darauf hin, dass Sex, Sucht und Trauma in bestimmten Hirnarealen über verschiedene Verbindungsleitungen und Botenstoffe in einem Zusammenhang stehen. Über komplizierte Abläufe werden sie durch Stimulierung und Hemmung bestimmter Hirngebiete sowie Wechselwirkungen und Rückkoppelungen in Regelkreisläufen und dominoartigen Funktionsabläufen gesteuert.

Sexueller Trieb

Die Sexualität ist ein starker Trieb, im Vergleich zu anderen Trieben wie Hunger und Durst kann er sogar einen bevorzugten Platz einnehmen. In Tierversuchen wählten Ratten, die eine Woche lang kein Futter bekommen hatten, unter bestimmten Bedingungen zuerst Sex und dann erst das Fressen. Sex kann sogar starken Suchtstoffen vorgezogen werden. So bevorzugten hirnoperierte Ratten die elektrische Stimulation ihrer sexuellen Lustzentren vor der Heroingabe. Auch führte die ständige Selbststimulierung zu einer Vernachlässigung anderer Triebe wie Fressen und Trinken.9

Die sexuelle Funktion des Körpers entsteht aus einem komplizierten Zusammenspiel von zentralen und peripheren Steuerungsprozessen, die die sexuelle Erregung und Entladung in den Sexualorganen durch Ejakulation und Orgasmus herbeiführen. Ein wesentlicher Koordinierungspunkt und zentrale Kontroll-instanz liegt im Gehirn, und zwar im Hypothalamusbereich.

Aber in einem benachbarten, stammesgeschichtlich sehr alten Bezirk, dem limbischen System, befindet sich ebenfalls ein hoher Anteil von Rezeptoren für Sexualhormone. Dort sind alle Grundinstinkte des Menschen wie Antrieb, Hunger, Durst und Libido repräsentiert. Im limbischen System werden nicht nur triebbezogenes Verhalten, sondern auch allgemeine sensorische Wahrnehmungen, Emotionen und den Menschen erregendes, Stress erzeugendes Verhalten koordiniert und verarbeitet.10 Dabei handelt es sich zum Beispiel um das das Überleben sichernde Kampf- und Fluchtverhalten, das mit der Auslösung von Wut und Angst verbunden ist. Über das limbische System breitet sich mantelartig das Großhirn bzw. der Cortex aus. In ihm werden die Triebe und Emotionen über Denken, Sprache und Vorstellung ausdifferenziert, moduliert und verarbeitet.

Botenstoffe

Bei der sexuellen Betätigung werden nicht nur Sexualhormone ins Blut ausgeschüttet, sondern auch Neurotransmitter im Gehirn wie Dopamin, Serotonin und endogene Opiate wie Endorphine und Enkephaline. Diese gehören zum cerebralen Belohnungssystem des Menschen und können unter anderem eine angstabbauende, schmerzstillende, Euphorie erzeugende Wirkung haben. Aber nicht nur beim Sex werden diese Stoffe ausgeschüttet: Neue Untersuchungen zeigen, dass beispielsweise Verliebtheit, gutes Essen, Musik und sogar der Anblick z.B. eines Sonnenunterganges oder eines schönen Menschen Lustgefühle hervorrufen können, die die gleichen Hirnregionen stimulieren wie Sex.11 Ein kurzer Blickkontakt kann genügen, um ein kleines Feuerwerk in den Nervenzellen auszulösen.12

Stress und Trauma

Stress wird beim Menschen über einen Regelkreislauf von Gehirn und Nebennieren mithilfe von hormonellen Botenstoffen wie Cortisol und Adrenalin vermittelt. Anfälligkeiten des Systems, wie zum Beispiel eine verminderte Stresstoleranz, werden möglicherweise vererbt. Vieles deutet darauf hin, dass auch eine traumatische Kindheit physische Veränderungen im Stressverarbeitungssystem hinterlassen kann. So zeigen neuere Gehirnuntersuchungen, dass bestimmte Teile des limbischen Systems durch traumatische Erfahrungen angegriffen werden und dies zu einer minimalen, aber funktionell bedeutsamen Verkleinerung im so genannten Hippocampus (einem Teil des limbischen Systems) führen kann.13 Da es dabei auch zu einer Art Entkopplung wichtiger Funktionsbereiche beider Hirnhemisphären kommt, bleibt ein Trauma unverändert und zeitlos gespeichert.14

Dies alles trägt zu einer Übererregbarkeit und Übersteuerung in den limbischen Strukturen des Gehirns bei und verstärkt die Aktivierung der Botenstoffe, die zum Dopaminsystem gehören. Diese können peripher u. a. mit einer verstärkten Ausschüttung von Adrenalin korrespondieren – einem Hormon, das Kampf- und Fluchtverhalten ermöglicht, also der Angst- und Traumabewältigung dient. Das bedeutet: Der Traumatisierte bringt seinen Körper in eine ständige Anspannung, um Traumaerinnerungen oder Verlorenheitsgefühle erfolgreich zu bekämpfen. Diese Anspannung – ein intensiver energievoller, aber innerlich unruhiger Zustand – kann durch eine Vielzahl von Handlungen und Ritualen erzeugt werden. Sie hilft abzulenken, indem sie den Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt, bewirkt aber auch eine Art „Dauerflucht“.

Während der Betrachtung eines Pornofilms beispielsweise steigt der Adrenalinspiegel deutlich an. Und selbst Alltagsstress oder ein zu voll gepackter Arbeitstag führen zur vermehrten Adrenalinausschüttung. All das ermöglicht dem traumatisierten Adrenalin-Junkie, über seinen Gefühlen zu surfen. Er bricht erst ein, wenn er zur Ruhe kommt.15

Sucht

Neuere Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich bei Süchtigen die Verarbeitungs- und Belohnungssysteme verändert haben. So werden Endorphine bei ihm wohl schneller abgebaut bzw. weisen einen nicht so nachhaltigen Effekt auf wie beim nicht Süchtigen. Das kann natürlich dazu führen, dass der Süchtige wiederum vermehrt die Ausschüttung dieser körpereigenen Drogen herbeiführen muss. Dabei kann das „limbische Suchtsystem“ im Zentralnervensystem praktisch durch alle Sucht- bzw. Luststoffe aktiviert werden. Auch bei einem Videospiel wurde beispielsweise eine Dopaminfreisetzung festgestellt.16 Diese Erkenntnisse mögen auch für das Verständnis der Mehrfachsüchtigkeit hilfreich sein.

Ein Beispiel

Was bedeuten diese Zusammenhänge für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Sexsucht? Ein Kind wächst unter schwierigen Lebensumständen auf, die seine seelischen Verarbeitungsmöglichkeiten überfordern. Vereinzelt kommt es zu Übergriffen, denen das Kind hilflos ausgeliefert ist. Aus genetischen Gründen ist sein Stressverarbeitungssystem möglicherweise besonders anfällig. Die traumatischen Erfahrungen überlasten und schädigen seinen biochemischen Apparat. Es entsteht eine Sensibilisierung und Übererregbarkeit in den limbischen Strukturen, die durch Ausschüttung von Neurotransmittern mit einer besonderen Angstbereitschaft verbunden sind. Von einem Freund bekommt das Schulkind heimlich ein Pornoheft gezeigt. Es ist fasziniert von dem Anblick und verspürt Aufregung und Angst. Dies entspricht u.a. einer Ausschüttung des Hormons Adrenalin. Ein halbes Jahr später fällt ihm zufällig ein anderes Pornoheft in die Hand. Dieses Mal ist das Kind allein. Es spürt die gleiche Mischung aus Angst und Erregung wie beim ersten Mal, aber jetzt betrachtet das Kind das Heft ausführlicher und erlebt vielleicht etwas Überwältigendes beim Anblick. Wenn die Betrachtung von Pornos in der Familie des Kindes als verboten gilt, steigert dies möglicherweise die Angst, aber auch die Erregung.

Bei Menschen, die später sexsüchtig werden, wird der Blick mit der Zeit lustvoll. Dies beruhigt die Angst für eine Zeit. Dadurch werden jetzt im kindlichen Gehirn die gleichen domino-artigen Funktionsabläufe wie beim Erwachsenen abgerufen. Jetzt kann es auch zur Ausschüttung körpereigener Opiate kommen. Vielleicht blättert das Kind bald gezielt in dem Heft, wenn es allein ist, um die intensiven und jetzt auch lustvollen und schmerzstillenden Gefühle in sich wieder und wieder auszulösen. Dies kann mit einer Art Trance verbunden sein – ein Verweilen im (limbischen) Gefühlssystem, das alles vergessen macht unter weitgehender Ausschaltung des Realitätsbewusstseins. Das Kind kann die löschungsresistenten schlimmen Gefühle, die eigentlich seine Kindheit ausmachen, nun zeitweise ausblenden und abspalten.

Wenn es dies einige Male getan hat, ist das Kind in die Phase der Selbst-stimulation eingetreten. Es entdeckt zunehmend andere Quellen, die das gleiche Gefühl in ihm erzeugen können. Immer mehr Lebensbereiche können sich mit der Zeit sexualisieren. Verschiedene Erlebnisse speichern sich in ihm ab, manche brennen sich regelrecht ein. Natürlich ist es in der Lage, sie zu erinnern, es kann auch lernen, gezielt sexualisierte Phantasien zu entwickeln. Alle Blicke, Erinnerungen, Phantasien und natürlich auch sexuelle Handlungen führen zur Ausschüttung dieser schmerzmodulierenden Stoffe wie Dopamin und Endorphine. Hundert Mal am Tag kann ein lüsterner Reiz wie ein Stromstoß ausgelöst werden, der mit der Ausschüttung „antidepressiver“ Botenstoffe verbunden ist.

Die Bilder schenken vorübergehend Vergessen. Das traumatisch bedingt übererregte limbische System wird beruhigt. Dabei kommt es zu einem Lern- und Konditionierungseffekt mit einer Bahnung in den entsprechenden Hirn-arealen. Sie stellt einerseits sicher, dass die Erregung der Nervenzellen zuverlässig in immer gleicher Weise erfolgt, erschwert andererseits aber auch die Möglichkeiten, die gleichen intensiven Gefühlszustände über andere Wege zu erreichen. Die lüsternen Impulse können sich im Laufe der Jahre immer mehr generalisieren, zwanghaft und süchtig werden. Irgendwann entsteht eine gewisse „Toleranz“ gegenüber den sexuellen Reizen. Jetzt braucht es stärkere Reize, um die volle schmerzstillende Wirkung auszulösen.

Sexsüchtige berichten, dass die Lüsternheit vor allem im Kopf sitzt. Das zwanghafte Denken an oder Suchen nach anregenden Motiven ist in Miniform eine selbst bewirkte Ausschüttung von betäubenden Wohlfühlhormonen. Der Süchtige hat gelernt, diese Neurotransmitter selbst auszulösen, was ihn im Grunde genommen den ganzen Tag wie unter Drogen setzt. Auch Rituale, die sexuelle Handlungen vorbereiten, wie z.B. das „Cruising“, setzen den Süchtigen unter ein Dauer-High – immer in der Erwartung, es könnte etwas besonders Lustvolles passieren. Ein Zustand, der aus der Reizung des limbischen Systems bekannt und mit Adrenalinausschüttung ins Blut verbunden ist.

Diese funktionelle Bahnung im Gehirn kann lebenslang erhalten bleiben. Wenn ein Sexsüchtiger nach Jahren der „Trockenheit“ unerwartet in eine Situation gerät, die seinem früheren süchtigen Ausleben entspricht, kann dies binnen Sekunden die alten Körperreaktionen in ihm auslösen. Manche Alkoholiker, die dieses Phänomen bei sich beobachtet haben, sprechen deshalb davon, dass sie gegen ihren Suchtstoff allergisch geworden sind.17

3. Rolle des kindlichen Traumas

Der gewaltigen Rolle, die das Trauma in der Auslösung und Unterhaltung psychischer Störungen spielen kann, wird auch in Fachkreisen immer mehr Platz eingeräumt.

Was ist ein Trauma?

Ein Trauma ist eine einmalige oder wiederholte psychische Verletzung durch eine schwerwiegende körperliche oder seelische Einwirkung. Schwere Autounfälle, unverarbeitete Kriegserlebnisse, Gewalteinwirkung, schlimme körperliche Bestrafung oder sexualisierte Gewalt sind Beispiele für körperlich ausgelöste Traumata. Seelische Traumata können ausgelöst werden durch schwere Erkrankungen oder (bei Kindern) durch den zeitweiligen oder endgültigen Verlust einer primären Bezugsperson. Verlassenheitstraumata wie eine frühe Hospitalisierung (z.B. langer Krankenhausaufenthalt in der Kindheit) oder Heimaufenthalt, emotionale Abwesenheit oder Trennung der Eltern sowie Tod eines Elternteils gehören ebenso dazu. Auch das Miterleben der Traumatisierung anderer, beispielsweise die körperliche oder sexuelle Gewalt gegen Geschwister, ist ebenfalls als seelisches Trauma anzusehen.

In den Familien Sexsüchtiger sind seelische oder körperliche Traumata sehr häufig. Emotionaler Missbrauch wie Beschimpfungen, lächerlich machen, Erniedrigungen und Schuldzuweisungen sowie Gewaltanwendung wie Schläge und Misshandlungen haben immer negative und manchmal auch traumatische Auswirkungen. Nun sind Traumata keineswegs selten. Unter günstigen Voraussetzungen können manche Traumata gut überwunden werden, ohne dass schwere seelische Schäden zurückbleiben. Dies gelingt dann, wenn der Betroffene über eine stabile Lebenssituation in einem guten sozialen Bezugssystem verfügt und eine bislang normale Entwicklung genommen hat. Familien, in denen Sexsüchtige aufwachsen, verfügen aber leider selten über diese Ressourcen. Das Hereinbrechen einer traumati-schen Situation überfordert ihre seelischen Verarbeitungs- und Anpassungsmöglichkeiten.

Folgen eines Traumas

Traumata rufen psychische Symptome hervor, die die weitere Entwicklung beeinträchtigen und in eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) münden können. Diese ist Ausdruck der tiefen Verstörung der Betroffenen und hat einen Rückzug auf die eigene Person zur Folge.

Die PTBS ist u. a. gekennzeichnet durch Schlafstörungen mit Alpträumen, Schreckhaftigkeit, Gefühlen von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Teilnahmslosigkeit, Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen.18 Aber dies ist nur ein Teil der Traumafolgeschädigung. Persönlichkeitsveränderungen, Suchtentwicklungen, Schmerzsyndrome oder andere psychosomatische Krankheiten können ebenfalls dazugehören.

Sexuelles Trauma

Das sexuelle Trauma hat oft eine Schlüsselfunktion in der Auslösung und Unterhaltung der Sexsucht. Unter sexuellem Missbrauch versteht man zum einen die sexuelle Handlung zwischen einem Kind oder Jugendlichen unter 18 Jahren und einem mindestens fünf Jahre älteren Erwachsenen und zum anderen sexuelle Aktivitäten anderer, mit denen das Kind konfrontiert wird (wie z.B. die Begegnung mit einem Exhibitionisten oder das Beobachten sexueller Handlungen von Erwachsenen).19 Bei anderen Definitionen spielt weniger das Alter der Beteiligten, sondern der Überforderungscharakter für das Kind oder den Jugendlichen, die nicht unbedingt die Tragweite ihres Handelns abschätzen können, eine Rolle.

Sexuelle Missbrauchserfahrungen im Kindesalter sind relativ weit verbreitet. In Deutschland wurden 1992 in einer Studie 850 Studenten befragt. Ein Viertel der Frauen und 8 Prozent der Männer gaben an, sexuell missbraucht worden zu sein.20 Diese hohen Zahlen können als repräsentativ angesehen werden und entsprechen (auch im Verhältnis zwischen Frauen und Männern) ungefähr den Zahlen anderer westlicher Industrieländer. Bei bestimmten seelischen Krankheiten ist der sexuelle Missbrauch im Kindesalter noch wesentlich häufiger anzutreffen. Dies gilt für Persönlichkeitsstörungen wie die Borderline-Störung, aber auch für Suchtkrankheiten. Bei der Esssucht beispielsweise werden je nach Untersuchung Zahlen von 40 bis 70 Prozent angegeben, d.h. 40 bis 70 Prozent der Esssüchtigen wurden als Kind sexuell missbraucht. Bei den medikamentenabhängigen Frauen sind es zwischen 30 und 40 Prozent. Bei alkoholabhängigen Frauen steigt die Zahl auf 50 Prozent und erreicht bei den Drogenabhängigen mit über 70 Prozent einen traurigen Höhepunkt. Diese Zahlen, die unter Experten allgemein bekannt sind, beweisen, dass diese psychischen Störungen oft in einem engen Entstehungszusammenhang mit sexueller Gewalt stehen.

Patrick Carnes hat in seiner Untersuchung von fast 1000 Sexsüchtigen sexuellen Missbrauch in mehr als vier Fünftel der Fälle diagnostiziert. Bei kaum einer anderen psychischen Erkrankung gibt es ein höheres Vorkommen! Alle bekannten Varianten der sexualisierten Gewalt (vom „einfachen Berühren“ bis zum vollzogenen Geschlechtsverkehr) kommen dabei vor. Die Täter und Täterinnen sind fremd, bekannt oder verwandt. Es kann sich um ein singuläres Ereignis handeln, um eine Abfolge einzelner, voneinander unabhängiger sexueller Missbrauchserfahrungen oder um eine jahrelange Traumatisierung durch den (oder die) gleichen Täter.

Die subtile Form ist der emotionale sexuelle Missbrauch samt den damit verbundenen Grenzverletzungen. Dies ist etwa gegeben, wenn in einer Familie eine sexualisierte Atmosphäre unter den Familienmitgliedern herrscht. Beispiel: Heriberts Mutter verhielt sich verführerisch und anzüglich ihm gegenüber. Sie machte ihm oft Komplimente über seinen gut gewachsenen Körper und stellte ihn im Vergleich zum Vater als den besseren Mann hin.

Anita hat mit ihrer Mutter sexualisierte Erfahrungen gemacht: „Ich war noch ganz klein und bin morgens in ihr Bett geklettert. Da habe ich an ihrem Geschlecht herumgefummelt. Wenn ich onaniert habe, hat meine Mutter das mitbekommen. Als ich älter war, hatte ich mit meinen Freundinnen daheim Sex. Da hat sie öfter an der Tür gelauscht. Aber sie hat nie etwas zu mir darüber gesagt.“ – „Meine ersten sexuellen Gefühle erlebte ich im Ehebett meiner Eltern“, berichtete Greta. „Ich war vielleicht zwölf Jahre alt und musste, da wir Besuch hatten, ausnahmsweise mit in ihrem Bett schlafen. Da bin ich mitten in der Nacht aufgewacht: Meine Eltern hatten miteinander Sex. Ich wusste überhaupt nicht, was los war, aber ich tat so, als wenn ich weiterschlafen würde. Es war ganz schrecklich für mich, aber es hat mich auch erregt.“

Bei gewalttätigem körperlichem Missbrauch kann das Sexuelle verdeckt bleiben. Beispiel Roberta: Sie war eine Nachzüglerin und hatte eine verdeckte inzestuöse Beziehung zu ihrem deutlich älteren Bruder. Sie erzählt: „Meine Eltern hatten wenig Zeit für mich. Da wurde mein Bruder meine wichtigste Bezugsperson. Er hat mich gerne geknebelt und gefesselt und hat geschaut, wie viel ich aushalte. Weil ich ihn so verehrt habe, habe ich ihm geglaubt, dass es toll ist, wenn man es möglichst lange aushalten kann. Er hatte viele Arten, mich zu quälen. Manchmal ließ er mich so lange am Stuhl festgebunden, bis meine Handgelenke weiß geworden waren. Oder er hat mir das Kopfkissen so lange auf den Kopf gedrückt, bis ich nicht mehr atmen konnte. Seiner Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Dabei hat er mich verspottet, sich über mich lustig gemacht, mich überhaupt nicht ernst genommen. Er war ein Sadist. Als Erwachsene habe ich mich dann selbst gefesselt und mich damit erregt.“

Manche Jugendliche gehen – scheinbar vollkommen freiwillig, manchmal heimlich – sexuelle Beziehungen zu überlegenen älteren, ja elterlichen Figuren ein. Torsten erzählt: „Als Jugendlicher lernte ich einen berühmten Künstler kennen. Im Vergleich zu mir war er ein alter Mann. Er schenkte mir Freikarten für sein Konzert und lud mich zu sich ins Hotel ein. Dort versuchte er, sich mir zu nähern. Ich fühlte mich so geehrt, ich hätte gar nicht Nein sagen können.“ – „Mit 15 Jahren“, erzählt Gerda, „wurde ich von meinen Eltern zu einem fremden Mann gegeben, dessen Frau gerade gestorben war. Er war mindestens 40 Jahre älter als ich. Ich sollte ihm im Haushalt helfen. Er hat sich mir sexuell genähert. Ich habe alles hingenommen, so ganz ohne Arg. Teilweise hatte ich auch ein schönes Gefühl dabei, aber ich war doch noch ein Kind. Wenn er Besuch bekam, hat er mich im Klo eingesperrt, damit man mich nicht sieht.“

Angelika ging mit 15 Jahren eine Beziehung mit einem Lehrer ein, der vierzig Jahre älter war als sie. Mit ihm hatte sie zwei Jahre lang ein sexuelles Verhältnis: „Der hat mit mir alles gemacht und gar keine Grenzen gekannt. Ich war nur sein Objekt. Ich habe gedacht: Na gut, dann ist das wohl so, es gibt wohl keine Grenzen in der Sexualität. Ich habe mich zwar total vor ihm geekelt, konnte mich aber auch nicht von ihm trennen.“

Bei der Vergewaltigung zeigt sich die sexuelle Gewalt vollkommen unmaskiert. Walter ist noch im Vorschulalter während eines satanischen Rituals von seinem Vater vergewaltigt worden. Sonja wurde unter starker Gewaltanwendung von einem fremden Mann vergewaltigt. Sie erlitt Todesangst, wurde bewusstlos und trug verschiedene Verletzungen davon. Weil sie die Reaktionsweise ihrer Eltern kannte, traute sie sich kaum nach Hause: „Meine Eltern haben mich eine Woche lang einfach im Bett liegen lassen, so wie ich war. Sie haben keinen Arzt geholt, aus lauter Angst, was die Leute sagen würden.“

Folgen sexueller Gewalt

Zu den unmittelbaren Folgen sexueller Gewalt in der Kindheit gehören körperliche Schmerzen, Ängste, Enttäuschung, Misstrauen, Resignation und Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Im Laufe der Zeit kommt es häufig zur Beeinträchtigung der psychosexuellen Entwicklung, Leistungsversagen in der Schule, Schädigung des Selbstwertgefühls und Schuldgefühlen. Die Betroffenen fallen in tiefe emotionale Löcher, haben Gefühle von Verlorenheit, reagieren mit sozialem Rückzug, Depressionen und Suizidgedanken bzw. -versuchen etc. Bei sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie geraten Kinder und Jugendliche zusätzlich in Loyalitätskonflikte mit ihren Eltern. Dabei wird auch das Verhältnis zum nicht missbrauchenden Elternteil tiefgreifend gestört, denn dieser billigt das Tun des Täters ja oft stillschweigend, weil er den Verlust der Beziehung fürchtet oder auch die wirtschaftlichen Konsequenzen, die daraus erwachsen könnten.21

Sexueller Missbrauch von Jungen

Noch ein Wort zu der sexuellen Traumatisierung von Jungen. Jungen sind vergessene Opfer in unserer Gesellschaft. Ihr Missbrauch wird bis heute oft stillschweigend übergangen bzw. verharmlost. Das trifft insbesondere für die heterosexuelle Verführung durch erwachsene Frauen zu. Beispiele: Ein 14-jähriger, sehr athletisch gebauter Junge wird immer wieder unter Vorwänden von der verheirateten Nachbarin zu Sexspielen in die Wohnung gelockt. Ein 15-Jähriger tröstet die Mutter seines besten Freundes, die sich von ihrem Mann sexuell vernachlässigt fühlt. Ein 16-jähriges Tennisass wird auf internationalen Turnieren regelmäßig von weiblichen Fans abgeschleppt, die gut doppelt und dreimal so alt sind wie er.

Das Traumaszenario unterscheidet sich etwas, wenn die Täter weiblich sind: Täterinnen wenden selten Gewalt an, der Druck auf das Opfer ist subtil und entsteht durch manipulatives und verführerisches Verhalten. Auch die Opfer selbst nehmen ihren Opferstatus kaum wahr. Im Gegenteil, sie fühlen sich geehrt, dass eine sexuell erfahrene Frau Interesse an ihnen zeigt. Sie ordnen diese Erfahrungen weder als sexuellen Missbrauch ein noch merken sie, welchen emotionalen Preis sie für diese ruinösen, manchmal regelrecht inzestähnlichen Beziehungen zahlen müssen, was es für ihre Liebes- und Partnerschaftsfähigkeit bedeutet. Auch echte inzestuöse Beziehungen eines Jungen zur Mutter oder älteren Schwester gehören zu den sexuellen Missbrauchserfahrungen. Unsere gesellschaftlichen Mythen trauen Frauen und insbesondere Müttern keine Gewalt und keinen Missbrauch zu – und damit tragen sie zur Ver-deckung des Missbrauchs bei: Opfer und Täter schweigen.

Schutzmechanismus: Abspaltung

Die Gefühle, die durch sexuelle Traumatisierungen hervorgerufen werden, sind, selbst wenn sie nach außen symptomlos bleiben, oft so überwältigend, dass sie nicht mehr angemessen verarbeitet werden können. Zusätzlich fühlen sich die Opfer manchmal auch noch selbst schuldig an ihrer Situation. Der Traumatisierte entwickelt deshalb bestimmte Schutzmechanismen, die das Trauma verborgen halten, in ihm abkapseln und seine inneren Schmerzen mildern. So wird das Trauma aus dem Bewusstsein verdrängt und vergessen. Manchmal kommt es nach vielen Jahren wieder an die Oberfläche: Angela war 42 Jahre alt, als sie sich daran erinnerte, dass ihr Stiefvater sie vor ihrer Einschulung oral vergewaltigt hat.

Ein anderer Weg ist die Abspaltung bedrohlicher Gefühle und Schmerzen, die mit dem Trauma in Zusammenhang stehen. Sowohl in der akuten traumatischen Situation als auch im späteren Umgang damit bildet der Betroffene eine Art Taubheit dem Geschehen gegenüber aus. Sexarbeiterinnen berichten beispielsweise, wie sie sich beim Sex gedanklich von ihrem Ekel ablenken. Zur inneren Abspaltung des Traumas gehört auch die Verleugnung oder das Herunterspielen des Traumas. Bestandteil dieses inneren Schutzsystems ist manchmal auch das Entschuldigen des sexuellen Aggressors.

Aber die diversen Schutzmechanismen reichen nicht aus, der Verdrängungsprozess bleibt unvollständig. Immer wieder kann der Betroffene von traumatischen Erinnerungen überschwemmt werden. In bestimmten Situationen können über unbewusste Assoziationen alte Erinnerungen wieder aufflackern. Diese Flashbacks bringen die Bilder aus dem verdrängten Traumaerleben zurück ins Bewusstsein: Affektiv geladene Erinnerungszustände, so genannte Intrusionen, die im Zusammenhang mit dem Trauma stehen, werden wieder gefühlt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, sind die alten Bilder und Gefühle wieder vollständig da. Angstzustände, Depressionen, Selbstverletzungen, psychosomatische Symptome und Suizidalität können die Folgen sein.

Schutzmechanismus: Unterbesetzung der sexuellen Sphäre

Natürlich können Missbrauchserfahrungen auch die normale psychosexuelle Entwicklung behindern. Sexuelle Störungen sind erwartungsgemäß oft anzutreffen. Am häufigsten wird die sexuelle Empfindungsfähigkeit beeinträchtigt: Angsterinnerungen oder Ekelgefühle können zum kompletten Rückzug aus der sexuellen Sphäre führen. Ein Beispiel für ein traumatisch entstandenes Desinteresse an Sexualität gibt die Geschichte von Heinz. Sexuelle Unlustgefühle bestanden bereits seit Jahrzehnten. Deshalb gab es immer wieder Spannungen mit seiner Frau; zudem hat er zu viel Alkohol getrunken, was der Sexualität in der Beziehung den Rest gab. Seine Geschichte erzählte er niemandem:

Als kleiner Junge hatte er im Krieg Massenvergewaltigungen mit angesehen. Auch seine Mutter gehörte zu den Opfern. Er erinnert sich immer noch an die Schreie und die schrecklichen Bilder. Als siebenjährige Kinder spielten sie im Krieg „Vergewaltigung“: Die Jungen jagten die Mädchen und zogen ihnen die Bluse über den Kopf – ein eindrücklicher, kindgemäßer Versuch, dieses Trauma spielerisch zu überwinden. Trotzdem fand er in seinem Leben nie mehr einen positiven Zugang zu seiner sexuellen Libido.

Bei diesem Trauma entsteht die Unterbesetzung des Sexuellen. Gefühle wie Scham, Angst und Ohnmacht haben sich für das Kind untrennbar mit Sexualität verknüpft. Die Gefühlstaubheit, Lethargie und Depression bilden so etwas wie einen Schutzmantel vor diesen extrem bedrohlichen Erinnerungen.

Schutzmechanismus: Überbesetzung der sexuellen Sphäre

Eine gegensätzliche Reaktionsart ist die Überbesetzung des Sexuellen. Sie führt in der Regel zu einer schnell abrufbaren sexuellen Erregbarkeit und stellt die typische Verarbeitungsart des Sexsüchtigen dar. Die Überaktivierung der emotionalen Antworten im Körper kann zusätzlich Zwangsgedanken, Flashbacks, Schreckhaftigkeit, Alpträume, Ruhelosigkeit, Impulsivität und andauernde Wutgefühle mit einschließen. Wie kommt das zustande?

Das sexuelle Trauma verbindet sich mit verschiedenen aufwühlenden Gefühlen: körperlichen Schmerzen, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Angst- und Bedrohungserleben, sexueller Erregung, Panik, Todesangst u.a. All diese erregenden Affekte vermischen sich. Das meist abrupte Ende eines Übergriffes lässt das Opfer hilflos in diesen intensiven Gefühlen, sich selbst überlassen, zurück. Beim unbewältigten Trauma gibt es zumeist kein ausreichend nährendes und sorgendes Verhalten von der Umwelt, weder Trost noch Sicherheit spendende Zuwendung. Dadurch kann es innerlich weder zur Ruhe kommen noch abgeschlossen werden. Der Traumabewältigungsprozess, der die Integrierung der Erfahrung miteinschließt, wird dadurch unterbrochen.22 Da der Mensch dazu neigt, unterbrochene Handlungen wieder aufzunehmen, um sie abschließen zu können, werden auch beim Trauma die überwältigenden Erfahrungen in der Phantasie und manchmal auch in der Realität wieder aufgenommen, in dem unbewussten Wunsch, sie doch noch erfolgreich bewältigen zu können.

Diese Zusammenhänge lassen sich besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die menschliche Sexualität mit jedem starken Gefühl verbinden kann. Der Körper unterscheidet beispielsweise kaum zwischen Angst und Erregung. Ausgelöst durch verschiedene innere oder äußere Anlässe, werden über das vegetative Gedächtnis bestimmte Gefühle des Betroffenen, die an früher erlittene Traumata gekoppelt sind, unbewusst sexualisiert. Wenn der eigene Körper lustvoll zum Objekt gemacht wird, kann die Lust den Schmerz der traumatischen Ereignisse überdecken oder innerlich abspalten. Dazu können in der Phantasie immer wieder sexuelle Situationen aufgesucht werden, die in irgendeiner Weise mit den schlimmen und erregenden Gefühlen aus der traumatischen Kindheit verbunden sind. Diese Sexualisierung ist dann ein Versuch, im Nachhinein die überwältigenden Emotionen doch noch in den Griff zu bekommen und zu verarbeiten. Dabei kann es zu einer Art innerer Reinszenierung des Traumas kommen. Nur diesmal ist der Betroffene nicht ausgeliefert: Jetzt kann er seine Angst beherrschen und sein sexuelles Erleben selbst steuern. Zwanghaftes Masturbieren zum Beispiel ist mitunter ein nachträglicher Bewältigungsversuch eines sexuellen Traumas. Das Erlebte wird mit dem Orgasmus vorübergehend zur Ruhe gebracht und erst mal abgeschlossen. Der Zwang zur Wiederholung wird von Betroffenen oft süchtig erlebt.

Aber die Bewältigung bleibt unvollständig und ist einer gesunden Sexualität nicht förderlich. Die sexuellen Stimuli stammen aus der Traumasituation. Ein eigentlich krankmachendes sexuelles Erregungsmuster wird in der Phantasie wiederholt. Nach der Befriedigung können Schuld- und Verlassenheitsgefühle auftreten, ähnlich wie nach der Traumatisierung. Auch die wichtigen aggressiven Impulse gegen den Aggressor stehen dem Betroffenen noch immer nicht zur Verfügung.

Ein anderer sexsüchtiger Kompensationsversuch ist das Aufsuchen sexueller Situationen, in denen das traumatische Gefühl wiederbelebt wird. Dazu wird der Realitätsbezug aber aufgegeben bzw. abgespalten, in der Traum(a)welt haben beispielsweise die Partner, Eltern, Geschwister oder eigenen Kinder keinen Platz; ihre Gesichter und Gefühle sind ausgelöscht. Nach der süchtigen Befriedigung tauchen die abgespaltenen Anteile allerdings sofort wieder auf. Die Gefühle beispielsweise für den Partner und die Kinder sind wieder vollständig da, aber jetzt mit Scham- und Schuldgefühlen beladen. Aus der Traum!

Ausuferndes sexuelles Verhalten, Promiskuität, erhöhte Risikobereitschaft so-wie ver-schiedene Tätigkeiten in der Sexarbeit können ebenfalls Teil eines Kompensationsversuches sein. Auch stoffgebundene Suchtmittel wie Alkohol und Drogen haben da ihren Platz: Sie fördern den inneren Abspaltungsprozess, dämpfen Schmerzen, Ängste und Schamgefühle und bauen Hemmungen ab. Drogenabhängige beispielsweise, die wie erwähnt in hoher Zahl als Kinder sexuell missbraucht wurden, zeigen oftmals diese Form der Traumabewältigung. Auch die Sexarbeit ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Genauso wie beim Trauma siedeln sich alle diese Kompensationsversuche im Verborgenen, in der Sphäre des Verbotenen an und führen in schmerzhafter und unerlöster Weise zu einem Wiedererleben und -beleben der traumatisch erworbenen Ohnmachtsgefühle.23

Trauma ist ein komplexes Geschehen mit vielen Auswirkungen auf Gefühle, Einstellungen und Handeln. Es zieht körperliche Veränderungen nach sich und bewirkt sogar Anpassungsvorgänge im Gehirn. Die volle Bedeutung des Themas wird in den letzten Jahren von der Fachwelt zunehmend erkannt. In diesem Licht betrachtet, scheinen Süchte, manche Persönlichkeitsstörungen oder auch Neurosen weitaus häufiger als bisher angenommen aufgrund einer traumatischen Erfahrung entstanden zu sein. Diese Krankheiten sind die Folge oder Reaktion auf chronifizierte traumatische Belastungen und ein Art Anpassungs- oder Reparaturversuch. Psychische Traumata spielen eine große Rolle bei der Entstehung von Sexsucht und bedürfen auch einer spezifischen Behandlung.

Anmerkungen

1 Vgl. Bowlby, John: Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Frankfurt/M. 1969.

2 Vgl. Erikson, Erik: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart 1979.

3 Freud hat die verschiedenen psychosexuellen Phasen beschrieben, die ein Mensch parallel zur psychosozialen Entwicklung durchläuft (vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Freud, Anna (Hrsg.): Freuds gesammelte Werke in 18 Bänden. London 1942. Bd. 5, S. 27-145.) Freud unterscheidet die orale, anale und phallische Phase in der frühen Kindheit, die nach einer Latenzphase von ca. sechs Jahren in der Pubertät in die genitale Phase mündet. In diesen Phasen erlernt der Mensch das Essen und Trinken (orale Phase), den Ausscheidungsvorgang (anale Phase) und die Beherrschung der Genitalien (phallische Phase). Freud nahm in seinen frühen Schriften einen autoerotischen Ursprung sämtlicher Süchte an. Die kindliche Masturbation bezeichnete er als die Ursucht – „die einzige große Gewohnheit, als deren Ersatz und Ablösung erst die anderen Süchte nach Alkohol, Morphium und Tabak ins Leben treten“. (vgl. Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1888-1902. London 1962, S. 254.)

4 Vgl. Berner, Wolfgang; Preuss, Wilhelm: Gruppentherapie für Männer mit pädosexuellen Tendenzen. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Göttingen 38/2002, S. 264.

5 Vgl. Kasl, Charlotte: a. a. 0., S. 46.

6 Riemann, Fritz: Psychoanalyse der Perversion. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 14/1968, S. 4.

7 Vgl. Carnes, Patrick; Delmonico, David; Griffin, Elizabeth: In the Shadows of the Net. Center City/Minnesota 2001, S. 93-109.

8 Carnes, Patrick; Delmonico, David; Griffin, Elizabeth: a. a. 0., S. 94 (Übersetzung von K. Roth).

9 Vgl. Carnes, Patrick; Delmonico, David; Griffin, Elizabeth: a. a. 0., S.205.

10 Vgl. Birbaumer, Niels; Schmidt, Robert: Biologische Psychologie. Heidelberg 1991, S. 575.

11 Vgl. Schwarting, Rainer: Biologie der Liebe. Die Quellen der Lust. Gehirn und Geist. In: Spektrum der Wissenschaft 3/2002, S. 35.

12 Vgl. Was spüren wir, wenn uns jemand ansieht. In: P.M. Fragen & Antworten 8/2002, S. 50.

13 Vgl. Yehuda, Rachel: Die Neuroendokrinologie bei posttraumatischer Belastungsstörung im Licht neuer neuroanatomischer Befunde. In: Streeck-Fischer, A.; Sachse, V.; Özkan, 1. (Hrsg.): Körper, Seele, Trauma. Biologie, Klinik und Praxis. Göttingen 2002, S.65.

14 Vgl. Hofmann, Arne: EMDR in der Therapie psychotraumatischer Belastungssyndrome. Stuttgart, New York 1999, S. 8.

15 Vgl. Buchanan, Sandra: Adrenalin. In: The National Council on Sexual Addiction and Compulsivity 1/2003, S. 4.

16 Vgl. Poser, Wolfgang: Biologische Grundlagen und Dispositionen der Suchtentstehung. In: Berichte zur Suchtkrankenhilfe. Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales: Qualität unter Kostendruck? Suchtbehandlung im gegenwärtigen Gesundheitssystem. XII. Nieders. Suchtkonferenz vom 21.9.2000, S. 11. www.btonline.de/info/medikamente/suchtbehandlung.

17 Ich danke Rainer Schwarting und Cornelius Pawlak, Philipps-Universtität Marburg, Psychologische Fakultät, für Anregungen und eine kritische Durchsicht dieses Kapitels.

18 Vgl. Dilling, H.; Mombour, W.; Schmidt, M. H. (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Weltgesundheitsorganisation. Bern 1991, S. 157.

19 Vgl. Leeners, Brigitte; Richter-Appelt, Hertha et al.: Schwangerschaft und Mutterschaft nach sexuellem Missbrauch im Kindesalter. In: Deutsches Ärzteblatt 11/2003, S. 715.

20 Vgl. Engfer, Anette: Sexueller Missbrauch. In: Oerter, R.; Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim 1998, S. 1009.

21 Vgl. Remschmidt, Helmut: Psychiatrie der Adoleszenz. Stuttgart 1992, S. 379.

22 Vgl. Fischer, Gottfried: Neue Wege aus dem Trauma. Düsseldorf, Zürich 2003, S. 26.

23 Natürlich gibt es viele weitere Bewältigungsformen dieser Art. Manche ziehen sich nach einem Trauma vielleicht von der Sexualität mit anderen zurück, aber behalten ein zwanghaftes Onanieverhalten bei. Oder andere leben jahrelang ohne Beziehung oder Sexualität und erleben ihre Sexualität erst dann wieder ausufernd und süchtig, wenn sie eine Beziehung eingegangen sind. Viele weitere Varianten kommen vor. Zum Abschluss noch ein Hinweis auf die vollkommen unterschiedlichen gesellschaftlichen Folgen, die mit den verschiedenen Trauma-Verarbeitungsformen verbunden sind. Eine sexuell traumatisierte Frau z.B. kann sich für einen sexuellen Rückzug entscheiden und in der Berufung zur Nonne einen gesellschaftlich geachteten Platz finden, der sie weitgehend vor sexuellen Angeboten schützt. Oder eine Frau konfrontiert sich in der Verarbeitungsform der Überbesetzung der sexuellen Sphäre als Sexarbeiterin in süchtiger Weise oder co-süchtiger Weise mit ihrer sexuellen Verwundung. Nonnen verschwinden hinter Klostermauern und Huren im Bordell. Beides sind Rückzüge, aber mit vollkommen unterschiedlichen Konsequenzen für die Betroffenen.

Von

  • Kornelius Roth, Dr. med.

    ist verheiratet, zwei erwachsene Kinder; ist als Psychiater, Psychosomatiker und Psychotherapeut mit sucht- und traumatherapeutischem Schwerpunkt in eigener Praxis tätig. Dr. Roth ist unter anderem Mitglied der amerikanischen Fachgesellschaft für Sexsucht und zwanghaftes Sexualverhalten (National Council on Sexual Addiction and Compulsivity).

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