Mit dem Buch Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama hat Dr. med. Martin Grabe der sexualethischen Debatte, die auch in deutschen evangelikalen Kreisen seit Jahren geführt wird, eine zwar absehbare, in der deutlichen Positionierung jedoch neue Wendung gegeben. Grabes Plädoyer: „Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen.“ 1 Mit seinem „Vorschlag für eine Einigung“ setzt er sich dezidiert von bisherigen Stellungnahmen der in der Evangelischen Allianz Deutschland (EAD) organisierten Gemeinden, Verbänden und Kirchen ab.2 Diese verpflichten sich zum vorbehaltlos wertschätzenden, geschwisterlichen Umgang mit gleichgeschlechtlich orientierten Gemeindegliedern: Kein Betroffener in und außerhalb der Gemeinde darf (vor-)verurteilt, zurückgewiesen oder diskreditiert werden. Die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft kann nicht an die Bedingung geknüpft werden, die sexuelle Orientierung zu verleugnen, zu verdrängen oder zu verändern. Allerdings gilt das Ausleben der Homosexualität, auch in verbindlicher Partnerschaft, weiterhin als unvereinbar mit einer biblisch fundierten Sexualethik. Folglich bleibt die Ehe als eine von Gott gestiftete Institution dem Lebensbund von Mann und Frau vorbehalten.3
Das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft (DIJG) hat die Abfassung dieser Stellungnahmen beratend begleitet und mitgetragen. Auch deswegen ist es uns ein Anliegen, Martin Grabes Buch, seine Aufnahme und sein Echo im weiteren Kontext der sexualethischen Auseinandersetzungen und Herausforderungen im kirchlichen und säkularen Raum einzuordnen und zu kommentieren.
Grabes „Vorschlag“ hat den bisher gültigen Konsens aufgekündigt und die in zentralen Gremien der Allianz bereits schwelenden Konflikte in christliche Nachrichtenportale und soziale Medien gespült. Zwar hat der Corona-Lockdown vorerst die um die Veröffentlichung angekündigten Präsenz-Veranstaltungen verhindert, die Kommunikation an der Basis schwillt jedoch weiter an und wird durch diverse politische, fachliche und publizistische Neuerungen, Verlautbarungen und signalstarke Ereignisse verstärkt.4 Die tektonischen Verschiebungen durch jenen „echten Paradigmenwandel“ (S.5), dem Grabe nun im evangelikalen Raum Rechnung tragen will, sind enorm. Auch die Signalwirkung seines Buches geht über das Anliegen hinaus, fromme Vorbehalte gegen gelebte Homosexualität in den Gemeinden aus dem Weg zu räumen. So hat die Kontroverse, die seit der Einführung der „Ehe für alle“ 2017 christliche Werke und Gemeinden in Zugzwang bringt, im pandemiegebremsten Land richtig Fahrt aufgenommen und erschüttert nicht nur die evangelikale Landschaft und ihre Subkulturen, sondern mittlerweile auch sämtliche Instanzen der römisch-katholischen Kirche in Deutschland. Um die Wende im pastoraltheologischen Diskurs einzuordnen, sollen zunächst jene Parameter in den Blick genommen werden, die die Botschaft des Buches verstärken und kontrastieren. Dabei wird zu fragen sein, inwieweit Grabes Vorstoß der Komplexität der Problematik, die er in den Kapiteln seines Buches anreißt, gerecht wird.
• Verschärfte Therapieverbote ...
Die markanteste Zäsur stellt das Gesetz zum Schutz homo- und transsexueller Minderjähriger vor Konversionstherapien dar, das vom Bundesministerium für Gesundheit vorgelegt und am 7. Mai 2020 vom Bundestag verabschiedet wurde. Unser DIJG hatte gut zwanzig Jahre über therapeutische Ansätze zur Begleitung von Menschen mit konflikthaft erlebten homosexuellen Gefühlen und Geschlechtsdysphorie publiziert und sich im deutschsprachigen Raum für einen offenen, empiriebasierten Austausch über deren Chancen und Grenzen eingesetzt. Wegen dieses Engagements stand es zusammen mit Organisationen wie dem Institut für dialogische und identitätsstiftende Seelsorge und Beratung (IdiSB e.V.) oder dem Weißen Kreuz im Fadenkreuz politischer und medialer Angriffe, die sich auch an den Kongressen der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) entluden, und die nach Grabes Darstellung wichtige Meilensteine seiner Sensibilisierung für das Anliegen homosexueller Christen bildeten. (S. 90f)
Seither fallen auch Veröffentlichungen, Referate und sogar seelsorgerliche Gespräche unter das Verbot, sofern sie als Werbung für Konversionstherapien oder als Druck auf Betroffene ausgelegt werden können. Die EAD sah sich genötigt, eine Handreichung für Gemeinden sowie Haupt- und Ehrenamtliche in der Jugendarbeit herauszugeben.5 Aus dem evangelikalen Raum, den die Befürworter des Verbots als gefährliches Terrain für homosexuelle Jugendliche einstufen, kam nur verhaltener Protest, etwa gegen die Missachtung der Anliegen Betroffener, die von entsprechenden Angeboten profitiert haben und nun befürchten müssen, keine therapeutische Unterstützung mehr zu erhalten. Doch auch juristische und therapeutische Einwände gegen die konkreten Gesetzesinhalte verhallten ungehört. Die EAD hatte kritisch zum Gesetzesvorhaben Stellung genommen und darauf hingewiesen, dass es die Freiheit von Verkündigung und Seelsorge auf unzumutbare Weise beschränkt. Einschlägige säkulare Fachverbände meldeten öffentlich Bedenken gegen ein pauschales Verbot von Therapiezielen bzw. von konkreten Interventionen an, die nicht gezielt homo- und trans-affirmativ vorgehen, sondern dem Klienten Raum bieten, sich über eigene Gefühle, Anziehung, Identitätsfragen und Lebensentwürfe klarzuwerden, ohne sich durch ein voreiliges Coming-out festzulegen.6
Es zeigt sich, dass über Grundsatz- und Richtungsfragen auch in der fachlichen und politischen Community erheblich weniger Einhelligkeit besteht, als die Agenda der „sexuellen Vielfalt“ vermuten ließe. Der Lockdown bevölkerte den virtuellen Raum mit Livestreams, Zoom-Konferenzen, Videos und Podcasts, die dadurch einem größeren Publikum zugänglich wurden, und förderte massive Interessenkonflikte und weltanschauliche Gräben innerhalb der feministischen und der LGBT-Bewegung zutage. Darunter ganz prominent die Debatten, ob und inwiefern Rechte von Frauen auf eigene Schutzräume mit den Rechten von Transfrauen7 auf Inklusion kollidieren; was es mit der rasant steigenden Zahl weiblicher Teenager auf sich hat, die eine Transition zum Mann8 anstreben – oder die nach massiven hormonellen und chirurgischen Eingriffen mit lebenslangen gesundheitlichen Folgen und Unfruchtbarkeit den beschwerlichen Weg zurück zur Frau gehen.9
Auch die Halbwertzeiten spekulativer Thesen über sexuelle, insbesondere queere Phänomene verkürzen sich rasant. Galt noch vor wenigen Jahren die Auffassung als fachlich und politisch korrekt, sexuelle Orientierung sei angeboren oder doch weitgehend unveränderlich in der Person angelegt, hat sich in den letzten Jahren das Konzept der Plastizität und Fluidität sexueller Vorlieben und Selbstsetzungen durchgesetzt.10 Lediglich das politische Feindbild „Heteronormativität“ scheint stabil zu sein. Kurioserweise waren also die empirischen, theoretischen und ideellen Prämissen, unter denen das Therapieverbot erarbeitet wurde, am Tag seiner Ratifizierung bereits obsolet – ganz zu schweigen von den fachlichen und juristischen Unzulänglichkeiten und Paradoxien, die in seiner konkreten Anwendung zutage treten werden.
... bei zunehmendem Therapiebedarf
All diese Verwerfungen blendet Grabe in seinem Buch konsequent aus. Am Therapieverbot bemängelt er lediglich, dass es „ins Leere läuft“, weil seit dreißig Jahren ohnehin kein Therapeut mehr Konversion als Therapieziel festlege und weil das Gesetz die noch in diese Richtung aktiven Selbsthilfegruppen gar nicht erfasse. Beiläufig räumt er ein, dass im Zuge unterschiedlich motivierter Psychotherapien es „gelegentlich“ zu einer Änderung sexueller Präferenzen kommen kann. Meist in Richtung Homosexualität, und „vereinzelt“, „in seltenen Fällen“ zu einer Öffnung Richtung Heterosexualität, etwa bei Männern, die ihre komplizierten Elternkonflikte aufarbeiten, aber auch nur als „ein Stück Bewegung auf dem Kontinuum der sexuellen Orientierung“ (S. 31). Frauen, die aufgrund von Traumatisierung eine sexuelle Aversion gegen Männer entwickelt hätten, blieben in der Regel bei ihren „subjektiv als Halt gebenden positiv empfundenen Neigungen“ (S. 32).
Grabe greift als Arzt und Therapeut gewiss auf klinische Erfahrungswerte zurück, wenn er für die Akzeptanz der Partnerschaft von Menschen wirbt, zu deren „stabiler Persönlichkeitsausprägung“ die Homosexualität gehört. Warum aber fragt er an keiner Stelle, mit welchem Recht junge Menschen per Gesetz daran gehindert (und Erwachsene per Schweigegebot davon abgehalten) werden sollen, im Zuge einer Therapie ihre Potenziale in diesem „Kontinuum“ auszuloten, etwaigen Aversionen auf den Grund zu gehen und womöglich zu überwinden? Erst recht im Falle einer bisexuellen Disposition – die im Buch unverständlicherweise noch nicht einmal Erwähnung findet –, wenn Betroffene etwa in der Entscheidung für eine heterosexuelle Partnerschaft oder bei Eheberatung unterstützt werden möchten.11 Es ist zudem erwiesen, dass homosexuell orientierte Personen in Kindheit und Jugend, statistisch gesehen, signifikant früher und häufiger in sexuelle Handlungen involviert waren als heterosexuellen Altersgenossen.12 Ebenso, dass diese Gruppe vermehrt dem Risiko von sexuellen Übergriffen vonseiten Älterer sowie stereotypen sexuellen Zuschreibungen durch Peers ausgesetzt war.13 Allein das spricht für ein gründliches Hinschauen und Hinterfragen im Zuge des homo- oder transsexuellen Coming-outs bei Jugendlichen und gegen Therapieverbote! Martin Grabe blendet diese Aspekte konsequent aus und winkt ein in vielerlei Hinsicht unzulängliches, auf politischen Druck erwirktes und grundlegende Freiheitsrechte beschneidendes Gesetz en passant durch. Ein Gesetz, das überdies sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in einem Atemzug nennt, nicht fundiert zwischen Genderdysphorie und Transsexualität unterscheidet und das letztlich nicht die Minderjährigen unter Schutz stellt, sondern deren Transitionswunsch.
Während sich das Agitationsspektrum des LGBTTIQ**- Mosaiks bis zur Unkenntlichkeit auffächert und die identitätspolitischen Lager sich weiter ausdifferenzieren, trotten Politik und christliche – nun auch evangelikale – Ethiken den Trends hinterher. Wie das vom deutschen Innen- und Justizministerium gemeinsam lancierte Transsexuellengesetz, das die bislang durch das Personenstandsgesetz geregelten Belange zusammenführen und festlegen soll, dass Personen ab 14 Jahren ihr Geschlecht „selbstbestimmt“, ohne die bislang geforderten medizinischtherapeutischen Expertisen und ohne die Angleichung sekundärer Geschlechtsmerkmale wechseln können. Der Gesetzentwurf ist Teil einer EU-weit konzertierten Kampagne – von medizinischen und therapeutischen Fachverbänden bisher nahezu komplett unwidersprochen. Und dies, obwohl Gerichte zunehmend mit Klagen konfrontiert werden, in denen Detransitioner14 im Nachhinein den Mangel an Aufklärung und an pädagogisch wie therapeutisch gebotener Hinterfragung ihrer juvenilen Transitionsbegehren anprangern. Wo werden diese Jugendlichen künftig kompetente psychologische Hilfe finden und wie kann fundierte Seelsorge ihrer Not geistlich begegnen? Auch diese Verwerfungen sind Bestandteil des „echten Paradigmenwandels“, um den es Martin Grabe in seinen Ausführungen geht, und hätten bei seiner Revision der Sexualethik zumindest im Horizont der Argumentation aufscheinen müssen.
• Aufarbeitung von „sexualisiertem Missbrauch“ in der EKD
Ebenfalls unter Corona-Bedingungen beschloss die Konferenz der zwanzig evangelischen Landeskirchen am 17. Juni 2020 die Beauftragung der umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in ihren Institutionen. Sie sollen die Risikofaktoren, etwa in Bezug auf Kinder- und Jugendarbeit, Jugendfreizeiten und Pfadfinderarbeit, benennen. Ein längst überfälliges Projekt, das wie ein zeitverzögerter Respons auf den notvollen Prozess in der katholischen Kirche anmutet. Neben der Wahrnehmung von Einzelschicksalen und strukturellen Missständen will man auch konzeptionelle, ja ideologische Anfälligkeiten des eigenen Settings reflektieren. Als einen Faktor nach „evangelischem Muster“, der den Tätern zuspielte, hatte Bischöfin Kirsten Fehrs, vormals Sprecherin des Beauftragtenrates der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, bereits 2018 die unreflektierte Adaption eines reformpädagogisch verbrämten sexuellen Liberalismus benannt.15 Man stellt sich, wenn auch zögerlich, den Altlasten einer trendigen Sexualmoral, deren Tiefpunkt ohne Zweifel die Hofierung des die Pädophilie sogar in seine Sexualpädagogik integrierenden Helmut Kentler durch evangelische Institutionen darstellt.16
Als das DIJG mit dem Seelsorgeteam der OJC Ende der 80er Jahre – quasi antizyklisch zu den auch in progressiven Kirchengremien gefeierten Errungenschaften der sexuellen Liberalisierung – begann, sich mit Voraussetzungen, Settings und Folgen von missbräuchlichem sexuellen Umgang mit und unter Jugendlichen zu befassen,17 standen die ersten Selbsthilfe- Organisationen in Deutschland noch allein auf weiter Flur. Allmählich besannen sich Fachleute und karitative Einrichtungen ihrer Zuständigkeit, allerdings recht konzeptlos und noch narkotisiert durch die von pädosexuellen Verbänden lancierten „emanzipatorischen“ Vorstöße, deren erklärtes Ziel es war, den kindlichen und jugendlichen Sexualtrieb von der repressiven Moral zu befreien. Erst die beharrliche Aufklärungsarbeit von Betroffenen, Therapeuten und Seelsorgern, seit der Jahrhundertwende flankiert von investigativer Publizistik, deckte Missbrauchsstrukturen in kirchlichen, politischen, sozialen und Bildungseinrichtungen auf und schärfte das Bewusstsein dafür, dass sexuelle Handlungen und ein sexualisiertes häusliches Umfeld für Kinder bereits traumatisierende Grenzüberschreitungen darstellen.
Zur gründlichen Aufarbeitung gehört auch die Bereitschaft, die im kirchlichen Umfeld ventilierten Konzepte, Prämissen und Begriffe einer Revision zu unterziehen. In Hinblick auf Jugendschutz und Prävention stellt sich etwa die Frage, was der Terminus „sexualisierte Gewalt“, der die zuvor gebräuchliche „sexuelle Gewalt“ durchgehend abgelöst hat, genau leisten soll, über die Tatsache hinaus, dass er eine Gewaltintention impliziert und die besondere Verletzlichkeit der Person im Bereich der Sexualität auf die Machtfrage reduziert? Folgt er nicht unreflektiert dem Axiom, sexuelle Handlungen per se seien ethisch und psychodynamisch neutral und nur dann traumatisierend, wenn sie zur Ausübung von Gewalt und Dominanz instrumentalisiert werden? Überblendet nicht eine solche Begrifflichkeit die Erfahrung, dass jegliche den oder die Partner verdinglichende Lust an sich als missbräuchlich erlebt oder erinnert werden kann? Weil Intimität als solche – ob einvernehmlich oder nicht, ob im Alters- und Machtgefälle oder unter Ebenbürtigen – grundsätzlich die Möglichkeit der Scham-, Gewaltund Missbrauchserfahrungen birgt? Erst recht, wenn die Beteiligten sie zur Unzeit, emotional unreif oder gar abhängig, ohne schützende soziale Einbettung, womöglich in süchtigen Vollzügen oder unter moralisch fragwürdigen Umständen eingehen. Welche schützenden Grenzen und sicheren Settings brauchen Kinder und Jugendliche, welche Vorstellung von Leib, Geschlecht, Liebe, Fruchtbarkeit, Partnerschaft dient der Entfaltung ihrer Person und sexuellen Integrität – und wer hat es zu entscheiden? Auch diese genuin sexualethischen Fragen gehören in den Kontext.
• Fortschreitende Dekonstruktion von Geschlecht, Ehe und Familie im virtuellen Raum
Noch völlig unabsehbar ist, wie sich der Lockdown und die anhaltende physische Isolation von Kindern, Pubertierenden und jungen Erwachsenen auf deren sexuelle Selbst- und Leibbilder auswirkt, oder auf ihre (mit-)geteilten Erfahrungen, ihr Körpergefühl, Schamempfinden, auf die jeweilige Wahrnehmung und Deutung von Geschlechterstereotypien, auf (süchtigen) Pornokonsum und die davon stark Liebesbeeinflussten erotisch-sexuellen Imprinting-Prozesse.18 Denn all diese Impulse, Bilder und ihre Echokammern prägen nachweislich nicht nur die eigene Geschlechtsidentität und das Verhältnis zum anderen Geschlecht, sondern tragen auch zur Festigung bzw. Veränderung der sexuellen Objektwahl und Präferenzen bei.19 Jugendliche lassen sich zunehmend durch Peers, Ratgeberliteratur, Spielfilme und Pornos zum Experimentieren mit Partnern beiderlei Geschlechts animieren, während immer mehr Teens und junge Erwachsene angeben, sich nicht auf eine sexuelle Ausrichtung festlegen zu können – oder zu wollen.20 Verstärkt wird diese Tendenz von der unguten Dynamik jener Influencer- Blasen, aus denen sich Teens (oft auch ihre Eltern) informieren und von deren Welterklärungen sie sich Lösungen für ihre Krisen erhoffen. Das alles prägt nicht nur den persönlichen Umgang mit romantischen Empfindungen, Selbstbildern und Sexualität, sondern formt auch komplexe Lebensentwürfe und bestimmt gesellschaftliche Wertfindungsprozesse, etwa zum Umgang mit ungewollten Schwangerschaften oder mit der geschäftsträchtigen Befruchtungsindustrie, in der Leihmutterschaft und anonyme Ei- oder Samenspende als legitime und ethisch unbedenkliche Mittel auch nichtheterosexueller Familienplanung gelten.
Eine Kuriosität unter den virtuellen Lockdown-Communities ist der privat aufgemachte, aber vom Evang. Kirchenfunk Niedersachsen-Bremen professionell in Szene gesetzte YouTube-Vlog „Anders Amen“. Darin erklärt ein evangelisches lesbisches Pastorinnenpaar dem vornehmlich jugendlichen Publikum ihr queeres Lebensmodell und die bunte Wahrheit des LGBTQ-Regenbogens. Roter Faden ist ihr eigener akuter Kinderwunsch. Die dörfliche Pfarrstelle der einen bietet das idyllische Setting; die mehrjährige Tätigkeit der anderen als Studienleiterin am Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Hannover bleibt unerwähnt, zumal ihr Vlog-Part von den Widrigkeiten des Schwangerwerdens ausgefüllt ist. Und weil die Follower über die technischen, rechtlichen, finanziellen und emotionalen Details diverser Befruchtungsstrategien informiert werden müssen, bleibt in den 50 Vlogs kein Raum mehr für die Frage, ob dem Töchterchen zweier Mütter womöglich doch etwas fehlen könnte, wenn es über den anderen Teil seiner Herkunft – immerhin 50% – nichts zu Gesicht bekommt, außer vielleicht den Biodaten und dem Kleinkindfoto eines anonymen dänischen Samenspenders. Ein weiteres evangelisches Familien-Modell nach dem „echten Paradigmenwandel“ ...
• Moralische Appelle im anthropologischen Niemandsland
Es gäbe also immens viel über die Geschlechtlichkeit des Menschen zu reflektieren – gerne im interdisziplinären Austausch ethischer, psychologischer, pädagogischer, soziologischer, humanmedizinischer, therapeutischer Ansätze und auf der Grundlage einer biblisch zu begründenden Anthropologie. Martin Grabe aber kommt bei der Entfaltung des „Beziehungsdramas“ Homosexualität nahezu komplett ohne eine solche Kontextualisierung aus – eine bemerkenswerte Ausblendungsleistung, zumal evangelikale Christen, die praktizierte Homosexualität und homosexuelle Partnerschaften in ihren Gemeindealltag integrieren sollen, vor genau solche sexualethischen Herausforderungen gestellt werden.21 Vor Fragen, die weit über das bürgerlich-monogame Moralschema hinausreichen, das man umstandslos von hetero auf homo übertragen könnte.
Größtes Verdienst des Buches ist die dringlich eingeforderte Empathie und Solidarität mit den Betroffenen. Darin ist dem Arzt und dem Christen Martin Grabe gleichermaßen beizupflichten: Das seelische Wohl, die persönliche Würde der Betroffenen müssen oberste Priorität haben, wohingegen alles, was die Integrität ihrer Person vonseiten der christlichen Gemeinde und ihrer Repräsentanten verletzt, auf den Prüfstand gehört und im Licht des Liebesgebotes hinterfragt werden muss. Jede persönliche Leiderfahrung ist zudem eingewoben in eine über Jahrhunderte unhinterfragte Marginalisierungs- und Diskriminierungstradition der Mehrheitsgesellschaft, zu der auch Theologie und pastorale Praxis Munition geliefert haben. Bedenkenswert ist auch Grabes Appell, diverse individuell und kollektiv greifende Muster der Homophobie aufzudecken. Sie können jene „Versündigungsängste“ (die Angst, mit Gottes Geboten in Konflikt zu geraten) befeuern, die seiner Meinung nach Christen davon abhalten, ihre rigiden (Vor-)Urteile über Homosexualität aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Blick zu nehmen und zu hinterfragen. Auch darin ist Grabe beizupflichten, dass die konkreten Bibelverse, in denen es um gleichgeschlechtliche Handlungen geht und deren exegetische Deutung unter evangelikalen Theologen zunehmend kontrovers diskutiert wird, stets aufs Neue in Augenschein genommen werden müssen. Tatsächlich sagen sie wenig über die konkreten Ursachen und die Natur gleichgeschlechtlicher Anziehung bei Männern und Frauen aus. Es ist daher eingehend und umsichtig zu prüfen, ob und inwieweit die betreffenden Bibelstellen auf ein generelles Verdikt gegen homosexuelle Partnerschaften im heutigen Sinne übertragen werden können.
Das ethische Dilemma bleibt jedoch bestehen. Denn Sexualität war und ist trotz oder wegen ihrer intimen Relevanz eine hochpolitische und – in allen Zivilisationen – eine spirituell aufgeladene Angelegenheit, rührt sie doch an das Intimste im Selbstverständnis eines jeden Individuums und ist zugleich Garant und Medium für das Fortbestehen der Menschheit. Jeder hat und verdankt sich der Geschlechtlichkeit, und jedem ist sie Quelle tiefer Sehnsucht und tiefen Leides. Nicht nur stellt sie einen wesentlichen Aspekt individueller Identität dar; der Diskurs der Sexualität generiert auch einen wesentlichen Aspekt kultischer und religiöser Selbstverortung. Auch und gerade für Israel und die junge Kirche ist dieser Diskurs regelrecht konstitutiv. Er dient geradezu als Alleinstellungsmerkmal. Keine noch so detaillierte kulturhistorische Kontextualisierung der einschlägigen biblischen Passagen kann die darin formulierten Vorbehalte gegen homosexuelle Praxis entkräften. Keine noch so geschichtssensible Differenzierung kann widerlegen, dass die biblischen Autoren, denen doch offensichtlich nichts Menschliches fremd war und die in Sachen Sex kein Blatt vor den Mund nahmen, eine sexuelle Partnerschaft von Menschen gleichen Geschlechts noch nicht einmal als randständige Option aufwerfen. Wobei es gänzlich unwahrscheinlich erscheint, dass ihnen diese sexuelle Präferenz als einigermaßen stabile Eigenschaft, als Hang oder gar Veranlagung, wie sie auch im antiken Schrifttum eingehend erörtert wird, gar nie untergekommen wäre.22
Im Ringen um ethisch und biblisch relevante Antworten braucht es daher die über eine individuelle Alltagsmoral hinausreichende, erweiterte Perspektive auf menschliche Geschlechtlichkeit, stets reflektiert im gesamten Zeugnis der Schrift vom Menschen als Geschöpf: in seiner Bestimmung, in seiner leiblich- geistlichen Konstitution, in seiner Gebrochenheit und Erlösungsbedürftigkeit, aber auch in seiner Rehabilitierung in Christus.23 Angesichts der fortschreitenden gesellschaftlichen Akzeptanz queerer Selbst- und Lebensentwürfe und erst recht angesichts der emotionalen Not der Betroffenen, die Orientierung von Kirche und Theologie erwarten, ist diese grundlegende Arbeit von immenser Wichtigkeit. Denn die Geschlechtlichkeit des Menschen ist – zumindest nach biblischem Verständnis und im Gefüge des Leibes Christi – keine rein libidinöse Disposition zur Arterhaltung, die es durch die Vervielfältigung von Partnerschaftsmodellen zu domestizieren und zu harmonisieren gilt, sondern eine anspruchsvolle und im Schöpfungs- wie Erlösungshorizont zu deutende, individuelle wie gesamtgesellschaftliche „Gestaltungsaufgabe“ (Peter Zimmerling), für die der biblische Kanon durchaus als maßgeblich zu gelten hat.
Doch eben diese größere Perspektive bleibt Martin Grabe seinen Lesern schuldig, und folglich verharren seine moralischen Appelle in einem anthropologischen Niemandsland. Ohne eine entsprechende Fundierung bleibt sowohl der exegetische Disput um „erlaubt“ oder „verboten“ als auch sein „Kompromissvorschlag“ zur vorbehaltlosen Integration gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in das Gemeindeleben theologisch unverbunden und ethisch vage.
Nun ist Martin Grabe profilierter christlicher Psychiater und Psychotherapeut und sein Votum gilt viel im evangelikalen Umfeld. Als Ärztlicher Direktor der Klinik Hohe Mark in Oberursel und als Vorsitzender der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) war er auch in die Debatte über Sexualethik involviert, die Dr. Michael Diener noch als Präses des Gnadauer Verbandes in der Allianz angestoßen hatte (Grabe S. 95). Mit dem Buch ist der ohnehin brüchige Kompromiss über die exegetischen, moral- und pastoraltheologischen Fragen öffentlichkeitswirksam aufgekündigt.
Entsprechend gegensätzlich nehmen sich die Reaktionen im evangelikalen Umfeld aus: Die einen feiern das Buch als evangelikalen Durchbruch zu einem besseren Verständnis des „biblischen Befundes“ und zur Herzenserweiterung im Sinne des christlichen Liebesgebotes, die anderen konstatieren die Preisgabe von profunden und bewährten sexualethischen Prinzipien aufgrund von exegetisch wie argumentativ wenig unterfütterten Pauschalisierungen. Viele antizipieren weitere Lagerbildungen, gar Spaltungen innerhalb der Allianz. In einem stimmen alle Seiten überein: Die Frage, wie Homosexualität im Kontext einer biblisch begründeten Anthropologie zu verorten und zu bewerten ist, ist keine Marginalie.
Schon die jüngste Stellungnahme von 2017 dokumentiert einen in langen Auseinandersetzungen errungenen Konsens. Das Anliegen der EAD, das sie übrigens mit dem Rat der EKD teilte24, war es, zu verhindern, dass der Umgang mit Homosexualität in Verkündigung und Seelsorge sich zu einer Bekenntnisfrage zuspitzt, die nicht nur zur Isolation der Allianz sondern auch zu inneren Spaltungen führen könnte, wie bereits in einigen Kirchen und konfessionellen Dachorganisationen weltweit.25 Ob sich die Fronten infolge der kontroversen Rezeption des Buches verfestigen werden oder ob sich der Umgang mit der „HS-Frage“ in den Gemeinden ohne explizite Lagerbildungen individuell ausdifferenziert, ist zur Zeit nicht abzusehen. Was sich hingegen abzeichnet, ist die Umpolung der schwelenden Bekenntnisfrage.26
Martin Grabe will die konservative Haltung nicht im Sinne der Toleranz relativieren, sondern nachweisen, dass sie geradewegs unbiblisch und unethisch ist. Die Bereitschaft von Christen, homosexuelle Orientierung als von Gott gewollt zu betrachten und die gleichgeschlechtliche Ehe als segensreich und segnungswürdig ins Gemeindeleben zu integrieren, wird ihm zum Gradmesser des redlichen (evangelikalen) Umgangs mit der Schrift und der spirituellen Verwurzelung im Evangelium. Seine ins Feld geführten Erwägungen sind nicht neu, sondern werden seit Jahren unter Evangelikalen ventiliert.27 Grabe geht insofern weiter, als er seine Einlassungen nicht als Anfragen an tradierte Normen formuliert, sondern diese aufkündigt und darauf verzichtet, zwischen den Positionen zu vermitteln. Er zieht einen kritischen Umgang mit praktizierter Homosexualität auf Grundlage einer christlichen Anthropologie und Sexualethik und im Bereich der Seelsorge28 gar nicht mehr auch nur Betracht. Stattdessen wendet er den Vorwurf der Unvereinbarkeit mit Bibel und Bekenntnis gegen die konservative Position. Wenn er dann im Schlussakt des Beziehungsdramas den Meinungswandel, den er unter öffentlichem Druck und inneren „Versündigungsängsten“ vollzogen hat, als Läuterungsprozess beschreibt, bleibt wenig Raum, die „neue Sicht“, die „in [ihm] entstanden ist, zu der [er] jetzt auch stehen mag und will“, zu hinterfragen. Es bleibt auch wenig Bereitschaft, im theologisch-ethischen Diskurs „mit Spannungen zu leben“29. Der Leser fragt sich, wie weit der „Gesprächsraum“ werden soll, den er in der APS zu eröffnen gedenkt, denn kurioserweise offenbart das Buch in der Summe eben jenen Mangel an Ambiguitätstoleranz, der üblicherweise konservativen Evangelikalen zum Vorwurf gemacht wird.
Die Umpolung der Bekenntnisfrage offenbart also eine verstörende Gemengelage. Während in der öffentlichen Wahrnehmung die konservative Sexualethik Lehre und Gemeindepastoral bei „den Evangelikalen“ weiterhin zu bestimmen scheint, gilt das für deren Selbstwahrnehmung nur noch eingeschränkt. Der rasante Wertewandel erfasst nicht nur den individuellen Lebensvollzug, sondern auch das Meinungsklima im frommen Lager, insbesondere im konkreten Umgang mit homosexuell empfindenden Angehörigen und Gemeindemitgliedern. Allerdings verläuft dieser Prozess weitgehend situativ, beliebig und orientierungslos. Beide Seiten beklagen, dass der Raum für Wertedebatten enger wird. Konservative empfinden einerseits eine Einschränkung ihrer Gewissenfreiheit im öffentlichen Raum und fürchten andererseits um die Glaubensfundamente im religiösen Umfeld, was ihren Aktionsradius weiter beschneidet.30 Progressive monieren, dass eine offene bzw. sich öffnende Positionierung in den evangelikalen Strukturen nicht möglich bzw. nicht gewollt ist, was sie wiederum aus Sorge um die Einheit zunehmend in Gewissenskonflikt bringt.31 Aus dieser Pattsituation lösen sich allmählich einige Protagonisten, die den Dissens publik machen. Nicht nur Martin Grabe, auch Michael Diener hat sich nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als Präses öffentlich zu seiner weitgehend veränderten Haltung bekannt.32 Klare Kante zeigte auf der anderen Seite das sich um Ulrich Parzany formierende Netzwerk Bibel und Bekenntnis bereits als Diener noch zu Amtszeiten seine Zweifel an restriktiven Positionen hat durchblicken lassen.33 Parzany war es auch, der als einer der ersten Leser Grabes konstatierte: „Das Versteckspiel ist mit diesem Buch wohl zu Ende. Was kommt nun?“34
Sowohl die kritischen als auch die beipflichtenden Rückmeldungen zum Buch zeigen, dass die maßgeblichen exegetischen Argumente pro und kontra bereits auf diversen Plattformen erörtert worden sind – übrigens von beiden Seiten erheblich differenzierter, als die Ausführungen Grabes vermuten lassen – und dass der „biblische Befund“ bezüglich „Homosexualität“ keineswegs so vage ist, wie Befürworter eines permissiven Umgangs es oft darstellen.35 Deren und Grabes Beweisführung gründet auf der These, die Bibelstellen, die homosexuelle Handlungen verurteilen, seien „wenig aussagekräftig“ in Bezug auf das moderne Verständnis einer „homosexuellen Orientierung“. Folglich könne und dürfe man sie nicht auf homosexuelle Partnerschaften, „wie wir sie heute kennen“, beziehen. Biblisch legitimiert werden diese also ex negativo, während im Umkehrschluss Verdikte ex negativo delegitimiert werden, gemäß dem Prinzip nullum crimen sine lege – ohne Gebot kein Verstoß.
Dafür, dass sich die Forderung nach einer weitgehenden Öffnung exegetisch auf sehr dünnem Eis bewegt, schreitet die Umpolung der theologischen Beweislast mit frappierender Dynamik voran. So moniert etwa Thorsten Dietz, Professor für systematische Theologie an der Hochschule Tabor/Marburg, im (vorläufigen) Finale seiner vielbeachteten Worthaus Podcast- Serie Das Wort und das Fleisch, dass das Netzwerk Bibel und Bekenntnis „keine Position“ zur Homosexualität beziehe und es versäumt habe, klar zu definieren, wie sie das Phänomen deute. Damit falle es sogar hinter die weiche Position der EAD von 2017 zurück, die immerhin zugesteht, dass es, „offensichtlich so etwas wie gleichgeschlechtliche Anziehung als stabile Orientierung“ gäbe.
Diese Kritik an den Argumenten des konservativen Lagers36 fällt allerdings auf das progressive Lager zurück. Denn während die Bremser immerhin auf umfassende und über 2000 Jahre bewährte systematische, ethische, pastoraltheologische, ekklesiologische usw. Konzepte zurückgreifen (könnten), um sie für die aktuellen Debatten fruchtbar zu machen37, lässt eine einigermaßen schlüssige (post-)evangelikale Ehe- und Sexualethik der Vielfalt auf sich warten:
Denn – mal abgesehen von der Bagatelle der Weitergabe des Lebens – sind es diese Dimensionen des vielschichtig- spannungsreichen biblischen Geschlechterdiskurses, die die Sonderstellung der Ehe gegenüber allen anderen zwischenmenschlichen Zuordnungen begründen und ihre hervorgehobene Schutzwürdigkeit in Gemeinde und Gesellschaft betonen. Sie bilden die narrative und begriffliche Basis für eine entsprechend legitimierte Sexualethik.
Solche Fragen werden aber gar nicht erst gestellt, auch nicht von Martin Grabe. Die Befürworter der Liberalisierung haben bislang nicht offengelegt, ob und inwieweit sie (radikal-)feministische, konstruktivistische, gender- und queertheoretische Konzepte, die sich bereits fest an den theologischen Lehrstühlen der Landeskirchen bzw. in diversen einschlägigen Studienzentren, Arbeitskreisen und auf Plattformen für queere Exegese etabliert haben, bei ihren eigenen pastoraltheologischen Erwägungen für maßgeblich halten bzw. inwieweit sie sich von ihnen abgrenzen. Wenn also das evangelikale Christentum, wie Thorsten Dietz konstatiert, in einer tiefgreifenden „Umformungskrise“38 steckt, dann wäre dafür ein sicheres Indiz die fortschreitende Enttheologisierung der Sexualethik. Während Progressive ihren konservativen Kontrahenten starren Moralismus vorwerfen, erschöpfen sich ihre eigenen Argumente erst recht in moralisierenden Appellen für eine Akzeptanz von nicht näher definierten queeren Selbst- und Lebensentwürfen im Namen eines vage bestimmten christlichen Liebesgebotes.
Martin Grabes Plädoyer folgt u.a. drei argumentativen Hauptsträngen, in denen eine progressive Denke zutage tritt, die sich von ihrem evangelikalen Boden zu emanzipieren sucht, um ihn noch fester zu stampfen.
• Inverser Biblizismus: Endstation Verbots- und Gebotsethik
Dieser Strang folgt dem bereits skizzierten exegetischen „Nachweis“, dass die Verbote und Ahndung in der Schrift sich lediglich auf kultische oder gewalttätige Praktiken beziehen, die man damals wie heute zu recht sanktioniert, nicht aber auf den Geschlechtsverkehr zwischen „Homosexuellen“, da sie gar nicht im Horizont „der Menschen der Antike“ gewesen seien. Diese Argumentation hebt das strenge sexualethische Regime nicht auf, sondern verschiebt nur die Linie, um dann die neu definierten No-Gos wieder aufs strengste zu markieren – etwa Sex mit Minderjährigen, Sex im Machtgefälle nebst dem schon bekannten Inzest, Promiskuität und Ehebruch. Auf der anderen Seite werden alle bejahenden biblischen Aussagen über Erotik und über die Verheißungen für bzw. Anforderungen an bräutliche und eheliche Gesinnung und Intimität (neuerdings auch bezüglich Elternschaft!) nahezu eins zu eins aus dem heterosexuellen in den homosexuellen Kontext übertragen und mehr oder weniger nachdrücklich als biblisch verbürgte Rechte für alle eingeklagt. Sprich: überkommene evangelikale Gesetzlichkeit wird durch fortschrittliche evangelikale Gesetzlichkeit ausgetrieben.
• Halbherzige Sündenfall-Theologie: Not als Tugend
Dieser Strang bündelt die Annahmen, dass sich die heteronormative Sexualethik (oder Sexualethik überhaupt) nicht aus einer biblisch zu begründenden Anthropologie (Reizwort „Schöpfungsordnung“) herleiten lässt. Entweder weil der denkbar knappe Schöpfungsbericht und/oder die sexuellen und ehelichen Gepflogenheiten der Glaubensväter und -mütter eine solche gar nicht hergäben. Oder weil eine „Ordnung“, sofern sie in der Mann-Frau-Einehe noch eine erstrebenswerte Ausprägung fände, aufgrund der Gebrochenheit menschlicher Existenz ohnehin nicht ausschlaggebend sein könne. Oder aber weil alles, was Menschen als sexuelle Identität oder Orientierung an sich wahrnehmen, als von Gott bejaht, gewirkt, ja sogar gewollt, einen integralen Bestandteil des dynamischen Schöpfungsgeschehens darstelle, dessen Diversifizierungsprozesse der Mensch selbst kreativ mitgestalten soll. Je nach Nuancierung könnten also LGBTQ-Personen entweder als insbesondere Leidtragende des Lapsus einen Anspruch auf lebbare „Notordnungen“ für ihre partnerschaftliche Lebensgestaltung (analog zu Ehescheidung, Leviratsehe u.ä.)39 geltend machen oder, – und dahin geht der Trend –, sollten ihre Sexualität als einen Ausdruck geschöpflicher Vielfalt würdigen und feiern. Diesbezüglich hält sich Martin Grabe konsequent bedeckt; als erschiene ihm jegliche normative Priorisierung bereits als lieblose Zumutung oder als obsolet.
Dabei rührt auch diese Frage an theologische Grundfragen über das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung – auch in ihrem Verhältnis zum Schöpfer; an Fragen über den Menschen, über seine Bestimmung, sein Leiden und sein Heil.40 Erst vor diesem großen, dynamischen Horizont ergeben konkrete Reglements sexueller Sittlichkeit, die dem Wandel der Zeit unterliegen, überhaupt einen Sinn und können spirituell erschlossen werden. Für eine tragfähige, sich als evangelikal apostrophierende Sexualethik braucht es daher vor allem eine im Zeugnis der Schrift verankerte Vorstellung vom Geschöpf und vom Schöpfer: ein kohärentes Konzept, das sich mit anderen Welt-, Gottes- und Menschenbildern auseinander- und ggf. sich von diesen absetzt. Stattdessen heften sich progressive Post-Evangelikale an die Fersen ihrer liberalen Kollegen, denen der queere und kritische Umgang mit der Schrift ungleich mehr und wagemutigere Deutungsspielräume eröffnet als das eigene fromme Bibelverständnis. Folglich geraten sie exegetisch hier wie da ins Hintertreffen und zuweilen mächtig ins Trudeln. So dreht auch Grabe beim Umkreisen der Frage, ob es überhaupt schöpfungsgemäße und schöpfungswidrige Sexualität gibt, und falls ja, wie die eine jeweils von der anderen zu unterscheiden wäre, wunderliche Pirouetten.
• Affektbasierter Moralismus: Gut ist das, was sich gut anfühlt
Für die weitgehende Akzeptanz gleichgeschlechtlicher (und perspektivisch weiterer?) Lebensentwürfe wird als Argument ins Feld geführt, es sei lieblos, unethisch und unzumutbar, homosexuell veranlagten Menschen ein erfülltes Sexualleben und intime Partnerschaft vorzuenthalten. Nun ist es in der Tat geboten, restriktive moralische Konventionen, auch und erst recht im christlichen Kontext, daraufhin zu prüfen, ob sie mit dem umfassenden Liebesgebot des Evangeliums vereinbar sind, oder ob sie die Lebensqualität Einzelner empfindlich mindern, ihre Rechte schmälern oder gar ihre Würde in Abrede stellen. Dazu gehört ohne Frage der Hinweis auf die äußerst leidvollen Diskriminierungserfahrungen von Betroffenen in Kirche und Gesellschaft, deren selbstkritischer Aufarbeitung sich auch christliche Werke und Gemeinden stellen müssen. Dazu gehört ebenso die gründliche Durchleuchtung von homophoben Reflexen, und Verdrängungs- und Ausgrenzungsmechanismen in Gemeinde, Verkündigung und Seelsorge, die dem besseren Verständnis für die Betroffenen und letztlich auch einem tieferen geistlichen Verständnis von Geschlecht und Sexualität im Wege stehen könnten. Sachliche Irrtümer und moralische Missstände gehören aufdeckt, daher ist dem Autor beizupflichten, wenn er sie auf der Grundlage der eigenen (geistlichen) Biographie reflektierend anschaulich macht und ein konsequentes Umdenken einfordert.
Grabes moralische Argumentation wird jedoch inkonsistent, wenn er seine Forderung mit dem absoluten Liebesgebot Jesu begründet. In seinem finalen Plädoyer setzt er die Weigerung der Evangelikalen, die homosexuelle Ehe in der Gemeinde zu akzeptieren, mit dem Zögern des Petrus parallel, das Evangelium auch Nicht-Juden zu verkünden. Dieses Zögern diagnostiziert Grabe als eine tiefsitzende „Versündigungsangst“, die es zu überwinden gelte: So wie Petrus in der Vision von Gott aufgefordert wird, allerlei unreine Tiere zu essen – sprich: auch Heiden in die Gemeinschaft zu integrieren –, sollen sich fromme Christen aufgefordert sehen, ihre obsolet gewordenen Ansichten über erlaubte und unerlaubte sexuelle Verhaltensweisen und Bezüge zu revidieren.
Diese Analogie ebnet kurzerhand die zuvor von Grabe selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen kultischen und ethischen Maßgaben ein, die doch sowohl die Evangelien als auch die junge Gemeinde ausführlich erörtern. Denn während Jesus (und die Apostel) kultische Speise- und Reinheitsgebote aufheben, um deren verschüttete ethische und spirituelle Dimension freizulegen, bestätigen und radikalisieren sie sexuelle Reglements, um den transzendenten Bezugrahmen der bräutlichen Liebe aufzuzeigen und die Unverbrüchlichkeit der Mann- Frau-Ehe zu postulieren. Davon ganz zu schweigen, dass die Speisegebote nach strengem jüdischem Verständnis nur für Angehörige des Israel-Bundes galten, für nichtjüdische „Fromme“ hingegen fakultativ waren. Petrus wird in der Vision also nicht mit einer neuen (Liebes-)ethik konfrontiert, sondern mit der Neujustierung einer auf die Völker erweiterten Israel-Identität in Christus.
Problematisch ist Grabes Appell auch insofern, als er Toleranz, konkret das uneingeschränkte Ja zur homosexuellen Lebenspraxis zum ultimativen Maßstab christlicher Liebe erhebt. Er lehnt darum auch die Auffassung, nicht die homosexuelle Orientierung, aber ihr Ausleben sei sündhaft, als nur „gewollt entgegenkommend“ ab: sie mache das Leben der Betroffenen „nicht unbedingt leichter“ (S. 64), weil sie ihnen signalisiere: „Du bist nicht richtig wie du bist“. Das sei ein Grundgefühl, mit dem kein Mensch gesund bleiben könne; das gelte auch für Selbsthilfegruppen, die das Gefühl, nicht richtig zu sein, verstärken, sofern sich die ersehnte Veränderung nicht einstellt. Nun ist die Frage, wie einem destruktiven Selbstempfinden angemessen zu begegnen sei, nicht nur therapeutisch, sondern auch pastoraltheologisch von allerhöchster Dringlichkeit, insbesondere dann, wenn das Gefühl des Ungenügens durch Normen und Maßstäbe genährt oder sogar verursacht wird, denen eine Person aufgrund ihrer Disposition nicht entsprechen kann. Hier braucht es die enttabuisierte Auseinandersetzung über ethische Grundsatzfragen, über neue humanwissenschaftliche Erkenntnisse sowie über eine zeitgemäße, dem Einzelnen dienliche, konkrete seelsorgerliche Handhabe. Denn nur so wird man intimen und die Persönlichkeit in ihren Tiefenschichten betreffenden Angelegenheiten wie das sexuelle Begehren und die sexuelle Selbstverwirklichung angemessen begegnen können.
Doch ethisch adäquates Handeln legitimiert sich nicht dadurch, dass positive und förderliche Gefühle bestätigt und verstärkt, konflikthafte und destruktive hingegen vermieden oder verhindert werden – weder im Umgang mit den Gefühlen der Betroffenen noch im Umgang des Seelsorgers mit eigenen Gefühlen angesichts der notvollen Erfahrungen der Betroffenen. Wenn ethische und fachliche Kriterien in der Seelsorge durch affektbasierte Moral neutralisiert werden, dann greift eine neue, subtilere Variante der „Versündigungsangst“: gegen ein diffuses Liebesgebot zu verstoßen, das im Gegensatz zum Liebesgebot Jesu nicht aus der Herzensbewegung des Liebenden hervorgeht (liebe deinen Nächsten wie dich selbst), sondern sich den Erwartungen des zu Liebenden (wie dein Nächster es gerne hätte) fügt. Es ist mehr als fraglich, ob eine derart außengelenkte Liebe dem zu Liebenden überhaupt gerecht werden kann.
Auch in dieser Hinsicht bleiben Grabes Ausführungen also hinter dem eigenen Anspruch zurück, die sexualethische „Grenzfrage“ nach den Maßgaben einer im biblischen Gottes- und Menschenbild verankerten Ethik zu durchdenken und die Schlussfolgerungen umfassend und schlüssig zu begründen. Der Versuch, evangelikale Paradigmen mit konter-evangelikalen Argumenten auszuhebeln, mündet unweigerlich in der Aporie. Die sich offenbarende Dekompensation der evangelikalen Bewegung, ein „Verwirrtsein“, das Thorsten Dietz selbstironisch als „ein Qualitätszeichen“ 41 begrüßt, wirkt freilich in beide Richtungen. Denn auch die konservative Position bleibt weit hinter dem eigenen Anspruch zurück, wenn sie sich in zermürbenden moralischen Rückzugsgefechten und reiner Bestandswahrung erschöpft. Es geht in der Sexualethik nicht um gemeindliche Konventionen, Geschlechterrollen oder Reglements der Sittsamkeit, sondern grundlegend um die Integrität des Menschen in seiner leiblich-geschlechtlichen Existenz.
Nicht von ungefähr schlagen sich aktuelle gesellschaftliche Debatten in besonderer Weise am Verhältnis der Geschlechter nieder und offenbaren eine essenzielle Krise der post-humanistischen Anthropologie. Im „Geschlecht“ als dem vorgegebenem und dem kulturell geformtem Leib und in seinem mehrdimensionalen Bedeutungsfeld von genera (Geschlechter), generationes und gentes (Völker) kulminieren die konkreten leiblich-vitalen Bezüge und Konflikte unseres menschlichen und zwischenmenschlichen Daseins. An ihnen entzünden sich ethische Belange von großer Tragweite: Wann und wodurch beginnt menschlich-personales Leben und wann endet es, wo verläuft die Grenze zum Tier und wo zur Maschine, wie umgehen mit den biotischen Bestandteilen und den virtuellen Repräsentationen der Person? Was ist der Mensch als Mann, als Frau – im Bilde Gottes? Es braucht einen frischen Blick auf diese uralten Fragen. Einen, der sich wohl von den gesicherten Pfründen der arrivierten Moral eines arrivierten Christentums emanzipiert, nicht aber von den biblischen Prämissen. Eine Perspektive, die es nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreift, wenn die im besten Sinne orthodoxe Sexualethik aus dem Mainstream entkirchlichter wie christlich-kirchlich etablierter Lebensvollzüge an die Peripherien gedrängt wird. Denn gerade an der Peripherie kann sie ihre geistliche Leuchtkraft und ihr kraftvolles transformatives Potential entfalten: so wie einst im Werden des Bundesvolkes an der Tora und im Werden der Kirche als „Kontrastgesellschaft“ (Gerhard Lohfink) durch die alles verwandelnde Kraft des Evangeliums.
Die sexualethischen Diskurse, die mit konstruktivistischen Gender- und Queerperspektiven angereichert die evangelikalen Gemüter erregen, sind weder neu noch originell. Sie ventilieren die alten Fragen, Ängste und Sehnsüchte des Menschen um Fruchtbarkeit, Liebe, Ehe, Sex, Moral und Macht. In deren Dickicht von kleinmütigen Kompromissen und enthemmtem Größenwahn schlägt das biblische Zeugnis mit den Geschichten der Väter und Mütter des Glaubens sowie den Lebensregeln des alten und des neuen Bundes eine Schneise der lebendigen Hoffnung und der Verheißung von Frieden und Fülle. Dieses Zeugnis dürfen wir neu hören und vernehmen lernen, wie schon Israel am Sinai und die Gemeinde in Rom. Nicht als Verwalter tradierter Gewissheiten und abgehangener Idealbilder unserer selbst, sondern als ernstlich Fragende und Suchende, die sich der erbarmungswürdigen Realität der eigenen Existenz bewusst sind.
Angesichts der realen Nöte und der seelischen wie spirituellen Verwahrlosung unserer Gattung erscheint es alles andere als trivial, dass die Menschheit aus "Männern" und "Frauen" besteht, und dass Männer Frauen und Frauen Männer begehren, oder dass ein Mann nur eine Frau zu begehren hat und sie sogar liebt – und umgekehrt. Es versteht sich nicht von selbst, dass überhaupt jemand jemanden liebt; es ist vielmehr ein Wunder, ein Mysterium, oder zumindest ein unverdientes Geschenk.
Trivial hingegen ist, dass der Homo sapiens, ausgestattet mit Sexualtrieb und einer schier grenzenlosen Phantasie, ihn zu realisieren, frustriert zur Kenntnis nehmen muss, dass seine Libido nicht allein durch seine verwundbare, beschämbare, letztlich dem Tod anheimgegebene Physis begrenzt wird, sondern auch von einem menschlichen Umfeld voller Ambivalenzen und Antagonismen. Zu dieser trivialen Realität gehören auch seine eigenen, einander widerstrebenden Bedürfnisse: nach Verbundenheit und nach Autonomie; nach Stimulation und nach Entspannung; nach dem Fremden und dem Vertrauten, nach Veränderung und nach Kontinuität – auch und erst recht in seinen intimen, ja intimsten Vollzügen. Vor allem aber ringt er mit dem, was ihn als Menschen vor allen anderen Geschöpfen auszeichnet und was in seiner Geschlechtlichkeit unumgänglich zum Ausdruck gelangt: mit der unstillbaren Sehnsucht, seiner Selbst vergewissert zu werden und dabei über dieses Selbst hinauszuwachsen. Das ist trivial und zugleich der Stoff, aus dem alle menschlichen Dramen sind – nicht nur das von Versündigungsängsten durchwaberte „Beziehungsdrama“ zwischen heteronormativen Mehrheitschristen und der nicht-konformen Minderheit, hinter dessen Kulissen Grabe seine Leser navigiert.
Das Drama der Homosexualität ist nur eines von vielen Szenarien im grandiosen Drama menschlicher, leiblicher und geschlechtlicher Existenz, deren Sedimente den reichhaltigen, nichts beschönigenden und vom Leben in allen seinen Facetten durchdrungenen biblischen Befund bilden. Auf diesem Boden wird das Reden über Sex nur dann zu einem Narrativ der Avantgarde, wenn es an den Verheißungen Maß nimmt, die in der Schrift Konturen gewinnen. Dazu muss sie das große Drama von seiner einzigartigen Peripetie, der entscheidenden Wende her neu und lebendig deuten und lehren: vom rettenden Hineinsprechen des Schöpfers in die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Schöpfung. Von dieser Peripetie her liest sich der Genesis-Hymnus nicht als die nostalgische Reminiszenz eines obsolet gewordenen Entwurfs, das Martin Grabe in Kap 5 Und was ist mit der Schöpfungsordnung? unsentimental zu Grabe trägt, um die Folgen des Sündenfalls als die Neuauflage von „Gottes Willen“ für den Menschen zu konstatieren.
Von der Peripetie her liest sich der Schöpfungsbericht mit der Erschaffung von Mann und Frau als eine richtend-aufrichtende Gegenrede zu der alten Lüge der Schlange, unsere geschöpflichen Grenzen wären ein Makel, und zu den verworrenen mythischkultisch- diskursiven Spin-offs dieser Lüge jenseits von Eden, die das Ebenbild Gottes im Menschen verdunkeln, während dieser in sich gekrümmt in Selbstbespiegelungen versteinert. Von hier liest sich auch die Fleischwerdung des Logos nicht als das universelle Okay zu den vorfindlichen Zuständen, das den „Zwischenraum nach Sündenfall und vor endgültiger Gottesherrschaft“ inmitten „divergierender Wünsche und Kräfte, basierend auf Willensfreiheit, bösen Mächten und Gottesbeziehung“ (Grabe, S. 54) ein wenig erträglicher, kuscheliger und sinnhaltiger macht. Die Fleischwerdung des Logos liest sich als Bestätigung der selben göttlichen Gegenrede, die durch die Genesis hallt, und die nun als Menschensohn in Menschenworten redet, um alle faulen Kompromisse aufzukündigen. Er garantiert durch sein Wirken, seinen Tod und seine Auferstehung die Wiederherstellung sämtlicher geschöpflichen Bezüge. Er ruft die Seinen nicht in irgendeinen Zwischenraum, schon gar nicht in ein Safespace, sondern aus Bindungen und Festlegungen heraus in den Raum der Freiheit: in die Gemeinschaft mit sich selbst. Der Raum der Freiheit ist keine Komfortzone, in der man endlich dürfen muss, was man schon immer hätte mögen.
Ja doch! Willkommen in der Gemeinde Jesu ist jeder „in jeder Hinsicht“, als der oder die Person, die er ist. Willkommen im Raum der Freiheit, in der alle miteinander das Wagnis eingehen, als Mensch – als Frau oder als Mann nach Gottes Herzen – zu reifen und Frucht zu bringen! Willkommen in der Liebesschule Gottes, in der wir alle zaghafte Anfänger sind, Christus aber der Vollender. Das Evangelium ist die Einladung in diese Weggemeinschaft:
Das ist das genuin biblische Narrativ als die revolutionäre, belebende und alles verwandelnde Gegenrede zu der Kakophonie versehrter und ihrer Bestimmung entfremdeter Identitäten, die sich in beliebigen, losen Segmenten oder erstarrenden Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit verlieren. Es braucht Gemeinden, die dieser Gegenrede unbeirrt Gehör verschaffen, auch wenn sie damit an die Peripherie geraten; dort ist wenigstens Raum für Neues.
Heterosexuelle wie homosexuelle Christen sind heute freier denn je. Der Druck restriktiver Konventionen schwindet zunehmend, während die gesellschaftliche Akzeptanz für individuelle Lebensentwürfe wächst. Frauen und Männer entscheiden selbst, wie sie leben. Auch, ob sie sich in den zersplitternden Segmenten sexueller Identität(en) einrichten und bei dem verharren, wie sie sind oder was sie zu sein meinen, oder ob sie unter der Zusage des biblischen Zuspruchs unterwegs bleiben und der Sehnsucht in sich nach dem ganz Anderen nachspüren. Jener Sehnsucht, die tief in unser Menschsein eingesenkt ist und auf die nichts so deutlich verweist wie unsere Geschlechtlichkeit. Wir sind freier als je zuvor zu entscheiden, ob wir dieser Sehnsucht folgen. Auch durch Widrigkeiten, Scheitern, Schmerz oder Verzicht – aber im Vertrauen auf den, der uns nicht ohne Grund als Frauen und Männer erschaffen hat. Das Wagnis hat eine große Verheißung. Der Ruf gilt. Und die Rede ist heute nicht weniger gegen den Trend als vorzeiten am Sinai oder am Palatin in Rom.
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