Als die weibliche Hälfte der Menschheit

Geschlechtsidentität im Prozess – ein Zeugnis

„Wir schauen noch wie in einen unklaren Metallspiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Noch erkenne ich alles nur bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, so wie ich jetzt schon selbst von Gott erkannt worden bin.“
– 1 Kor 13, 12 nach Roland Werner, Das Buch

Als Mädchen geboren, habe ich lange, tief und intensiv gerungen mit der Frage, wer ich bin und wie ich leben kann: Junge oder Mädchen, Mann oder Frau? Beglückend erlebte ich, wenn ich als Junge erkannt wurde. Das passierte bereits, als ich alleine vom Kindergarten nach Hause ging, da war ich etwa 5 Jahre alt. Ich las lieber Bücher wie „Sturm auf Gipfel und Gletscher“ als typische Mädchenliteratur und interessierte mich für Physik und Astronomie. Mit einem Kumpel habe ich gerne Fußball gespielt. Die Aufforderung, doch die Toilette für die Herren zu nutzen, machte mich glücklich, denn ich war als Mann erkannt. Das bin ich: ein Junge, ein Mann, alle sehen es, ist doch klar…

Ausgangspunkt

…bis auf die Tatsache, dass an entscheidender Stelle ein Körperteil fehlte. Die kindliche Hoffnung, der Penis wüchse noch nach, erfüllte sich leider nicht. Stattdessen setzte irgendwann die Pubertät ein, und mit ihr das Wachsen der Brust und die Periode. Das war eine unerträgliche Katastrophe. Dass es eine Katastrophe war, behielt ich für mich. Ich war ein stiller Mensch. Zudem gab es im äußeren Leben zum damaligen Zeitpunkt für uns in der DDR genug anderes Umwälzendes zu bewältigen. Es war die Zeit der friedlichen Revolution. Ich war 13, als die Mauer fiel, und 14, als der Beitritt zur BRD erfolgte.

Einer Maschine vergleichbar habe ich gut funktioniert, wie ein Rädchen im Getriebe. Für das, was das Menschsein ausmacht, war ich in vielerlei Hinsicht jedoch sprachlos. Ohne Sprache sein heißt ohne Verstehen sein. Man hat keine Fassung, keine Form für das, was man Fühlen nennt, und das, was man Beziehung zwischen Menschen nennt. Das macht einsam. Außerdem hatte ich so etwas wie ein Credo aufgenommen und lebte es: Schaffe immer alles ganz allein, sei nie auf andere angewiesen. Echte Freunde gab es nicht, allerdings wusste ich auch nicht, wie Freundschaft geht. Ich war mir fremd, fühlte mich fremd unter den Menschen, das Leben selbst war mir fremd. Das war ein Zustand des Nicht-mit-mir-und-den-anderen-verbunden-Seins. Der englische Begriff „Alienation“ drückt es für mich am besten aus: wie ein Außerirdischer von einem anderen Stern. Ich passte nicht hinein und fand mich nicht gut zurecht. Vertrauen ins Leben und in Menschen gab es in mir nicht.

Es ist ein Dilemma, wenn man etwas anderes ist, als der Körper zu sein vorgibt. Ich mochte mich so nicht zeigen, habe mich und meinen Körper gehasst. Es kam mir vor, als wäre ich tot, während alle anderen lebten. Ich habe funktioniert. Es ist mir lange gelungen, nach außen eine harte Schale zu tragen und nichts an mich heranzulassen. „Du bist immer so hart zu dir“ hat mal jemand gesagt. „Blutleer“ finde ich ein sehr passendes Wort.

Etwas anderes als der Körper zu sein vorgibt

Der eine Mensch, von dem ich mich verstanden fühlte, war gestorben. Ich war zum Studium aus dem Elternhaus aus- und an einen anderen Ort gezogen. Jede Menge Fragen an das Leben und den tieferen Sinn meines Daseins trieben mich um. Der Gott, von dem in der Bibel geschrieben steht, trat in mein Leben, mitten in diese Umbrüche hinein. Zunächst in Gestalt eines Kommilitonen, der mir von ihm erzählte und der mich einlud, diesen Gott kennen zu lernen. Alles Aberglaube und Einbildung, so dachte ich. Oder etwa nicht? Junge, intelligente, aufgeschlossene und weltoffene Menschen halten an einer tausende Jahre alten Religion fest und richten ihr Leben aus an jemandem, den sie nicht sehen können - wie verrückt ist das denn? Zu verlieren hatte ich nichts, und da ich ernsthaft die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt hatte, wollte ich jetzt ihre Antwort hören. Heute, 28 Jahre später, kann ich nur sagen: wer diesen Gott fragt, bekommt Antworten. Vielleicht nicht die, die er hören will, denn dieser Gott ist nicht verfügbar. Aber er antwortet. Kurz und gut: Ich bin damals Christ geworden und habe um die Taufe gebeten.

Damit war aber mein Dilemma noch nicht gelöst. Früher noch ohne Worte, kann ich heute ausdrücken, was in mir vorging. Zuweilen schien es, als befände ich mich in einem abgeschlossenen Raum, und wagte ich nach draußen zu schauen, sah ich das Leben an mir vorbeiziehen. Sehnsüchte zogen an mir in verschiedene, ja geradezu entgegengesetzte Richtungen: eine Sehnsucht, einfach nur dazu gehören zu können, eine Sehnsucht, einfach nur „normal“ zu sein - wie alle anderen auch, eine Sehnsucht, einfach in Ruhe gelassen zu sein von dem Zwiespalt zwischen äußerem Schein und inneren Sein, eine Sehnsucht, einfach nur leben zu können, eine Sehnsucht, allem radikal ein Ende zu machen, mein Leben eingeschlossen. Das lebendige Leben anderer, vor allem die Gruppe der Christen, die ich kennengelernt hatte, zog mich mächtig an, und so machte ich mich auf die Suche nach diesem Leben.

Eine mir wohl gesonnene Person, der ich einen winzigen Blick auf mein Problem gewährt hatte, riet mir, therapeutische Hilfe zu suchen. Sie selbst könne als Mensch da sein für mich, habe aber nicht die Kompetenz, mich so zu begleiten, dass ich vorwärtskäme. Ich informierte mich über die notwendigen Schritte zur Geschlechtsanpassung nach geltender Rechtslage (um das Jahr 2004). Zu Beginn, so fand ich heraus, müsste ich eine Psychotherapie absolvieren, in deren Rahmen ich auch den vor der Hormoneinnahme und weiteren Anpassungsschritten geforderten mehrmonatigen sog. Alltagstest, also Leben im Alltag als Mann, durchführen konnte.

Ergebnisoffen und aufrichtig

So erkundigte ich mich über die verschiedenen Arten von Therapien, ihre Methoden und Schwerpunkte der Behandlung, überlegte, welche Form für mich am ehesten in Frage käme und suchte gezielt nach einem Therapeuten. Mir war wichtig, dass es ein Mann war, der mit dem Thema Transsexualität bereits Erfahrungen hatte. Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass der Weg in Richtung äußerer Geschlechtsangleichung ging, dennoch wollte ich ausdrücklich einen ergebnisoffenen Begleiter. Denn ich wusste um dieses leise „eigentlich ziemlich“ - die wenigen Prozente Unsicherheit über diesen radikalen Schnitt - in mir. Darüber hinaus hatte ich persönliche Begegnungen mit einem Menschen, der geschlechtsangleichende Schritte unternommen hatte: Psychotherapie, Hormoneinnahme, Namens- und Personenstandswechsel, geschlechtsangleichende Operation. Dieser Mensch hatte mehrere Jahre in den so veränderten Bedingungen gelebt und war mittlerweile auf der Suche nach einem Weg zurück zu einem Leben im angeborenen Geschlecht. Das konnte ich für mich nicht ignorieren, konnte nicht vorschnell nur den Weg der Geschlechtsangleichung als einzig möglichen heraus aus meinem Dilemma festlegen. Ich wollte wahres, echtes Leben finden. Dazu brauchte ich ein aufrichtiges Gegenüber, das bereit war, mich bei der Suche nach Klarheit, bei meiner Entscheidung und bestenfalls bei den ersten Schritten nach meiner Entscheidung zu unterstützen. Am Ende der Recherche hatte ich eine Adresse und überwand mich, Kontakt aufzunehmen. Die zwei juristischen Staatsprüfungen, die ich bestanden hatte, waren ein Klacks gegen die Hürde, die ich überwinden musste, dieses Wagnis einzugehen. Ich betrachte es als Wunder und Geschenk, dass dieser Therapeut mein Begleiter wurde - der erste und einzige, den ich hatte. Wir beide wussten nicht, wie lang und wohin der Weg führen würde. Als wir die Begleitung beendeten, waren es elf Jahre geworden.

Einige wenige Anmerkungen zur Haltung meines Therapeuten, die es mir erst ermöglichte, mich zu öffnen. Er hatte Geduld, Prozessen die Zeit zu lassen, die sie tatsächlich brauchten. Begleiter war er, er ging meinen Weg, mein Tempo, meine Richtung und jede Richtungsänderung mit. Er bestimmte nicht, was ich zu tun oder zu lassen hatte. Mein Weg, meine Verantwortung, meine Entscheidungen. Er war bereit, allem in mir zu begegnen, alles wahr sein zu lassen, nichts zu bewerten. Jeder Anteil, der sich in mir zeigte, war ihm willkommen, auch wenn ich den Teil hasste. Er traute sich, schmerzhafte Fragen zu stellen, brach aber nicht bei mir ein. Er hielt zwischen allen Stühlen mit mir aus, stundenlanges Schweigen war für ihn kein Problem. Er hielt meine und seine Hilflosigkeit aus. Neben diesem Begleiter gab es andere sehr hilfreiche Umstände für meinen Weg: ich lebte in einer christlichen Lebensgemeinschaft, einem „Netz“ von wohlwollenden Menschen um mich herum, hatte Arbeit und meine Herkunftsfamilie, die mir deutlich machte, dass sie zu mir standen und die Tür zu ihnen immer offen bliebe, egal welchen Weg ich ginge.

Schöpfungsgemäß und wahrhaftig

Parallel zur Auseinandersetzung in der Therapie beschäftigte mich die Schöpfungsordnung Gottes, wie die Bibel sie uns berichtet. „Da schuf Gott den Menschen in seinem Bild, im Bilde Gottes schuf er ihn; Mann und Weib schuf er sie. Und Gott segnete sie. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut…“ (1 Mo 1, Die Heilige Schrift, ins Deutsche übertragen von Naftali Herz Tur-Sinai) Das provozierte meine Frage an Gott: Meinst du das ernst: „…es war sehr gut…“ für mich? Hast du dich nicht geirrt mit meinem Körper? Es war nicht gut!

Hin und wieder sind mir auf dem Weg des Ringens mit mir selbst bildhafte Worte zugesagt worden von anderen Menschen. Einige davon sind sehr wesentlich für den Prozess gewesen - Bilder sagen oft mehr als Worte, wenn man sie zu lesen gelernt hat. So wurde mir am Anfang meines intensiven Suchens folgendes gesagt: „Du bist wie Lazarus, der aus dem Grab gerufen wird ‚Lazarus, komm heraus[’] und der herauskommt und dem die Binden abgenommen werden.“ (Vergl. das Evangelium nach Johannes 11, 1 ff, insb. V. 43+44.) Ein Mann war tot, wurde aus dem Grab herausgerufen und ihm wurden die Totenbinden abgenommen. Ein zweites Wort trat etwa ein Jahr später hinzu: „Talita kum - Mädchen steh auf!“ (Vergl. das Evangelium nach Markus 5, 35 ff, insb. V. 41 und Lukas 8, 49 ff.). In das 12-jährige Mädchen kehrte - wie bei Lazarus durch den Ruf Jesu - das Leben zurück. Beide Bildworte habe ich mir nicht gesucht. Sie wurden mir von Christen gesagt, die nichts von meinem inneren Ringen wussten. Es entfaltete sich mir erst später, dass beide Bilder zusammen eine feine Illustration war für den Weg, der vor mir lag.

Ich wollte die Wahrheit über mein Leben wissen. Mein Ziel war, eine Entscheidung zu treffen, ob und wie ich leben kann, und diese Entscheidung dann im konkreten Leben umzusetzen. Deshalb begann ich die Psychotherapie, stellte mich meinen wirklichen Lebensrealitäten und setzte mich mit dem Vorfindlichen auseinander. Zwei Richtungen waren, nüchtern betrachtet, denkbar. Entweder mit Hilfe von Hormonen und chirurgischen Eingriffen die weiblichen Geschlechtsmerkmale entfernen und den Körper möglichst männlich erscheinen lassen, um so etwas wie Frieden mit mir zu schließen und leben zu können. Oder versuchen, mit unverändertem Körper zu leben. Ersteres lag mir viel näher und bei unserem Abschied nach elf Jahren bestätigte mir mein Therapeut, dass auch er lange Zeit sicher war, dass es darauf hinauslaufen würde. In mir gab es nicht den Hauch einer Idee, wie Leben als Frau im weiblichen Körper gehen könnte. Eine Vorstellung, wie ich als Mann leben wollte, hatte ich.

Die Entscheidung lag bei mir

Eine Entscheidung zwischen diesen Wegen zu treffen, war dennoch brutal schwer. Ich war zerrissen zwischen dem, was ich empfand, und dem, was mein Kopf als richtig und bedenkenswert erkannt hatte. Einerseits war ich ein Junge, bin ein Mann und brauchte den dazu passenden Körper. Andererseits gibt es, rein biologisch betrachtet, Menschen mit zwei X-Chromosomen - Frauen, und Menschen mit einem X und einem Y-Chromosom - Männer. Es gibt Formen genetisch bedingter Abweichung bei manchen Menschen, Intersexualität. Nur wenige Menschen sind davon betroffen und jeder einzelne von ihnen muss mit sich und seinem Körper einen Lebensweg finden. Zu ihnen gehöre ich nicht, denn ich habe eindeutige körperliche Geschlechtsmerkmale. Das Zeugnis der Bibel ist auch eindeutig. Die Frage an mich war: wollte ich die Gabe annehmen, die mir gegeben war, auch wenn ich keine Vorstellung davon hatte, wie das Leben in dieser Ordnung für mich gehen könnte? Konnte ich den Körper akzeptieren, wie er ist, und mich darin begrenzen lassen? Oder war die einzige für mich lebbare Antwort der Weg, den Körper dem Empfinden anzupassen?

Das Dilemma und die Schwierigkeit dieser Entscheidung fasst sich für mich am besten im folgenden Bild. Ich stehe auf einer Mine jener Bauart, die bei Entlastung detoniert und alles zerfetzt, was auf ihr war und sie belastet hat - nicht die Last sprengt, sondern die Entlastung, die Bewegung in die eine oder andere Richtung! Ich hatte einmal einen Film gesehen, der damit endete, wie ein Soldat auf eben so einer Mine lag, und die herbeigerufenen Experten sagten: die Mine ist nicht zu entschärfen. (Film No Man´s Land von Danis Tanović, 2001)

Neue Zugänge zum eigenen Innern

Mit der vorsichtigen Öffnung kamen innere Bilder und Träume, die mich vor mir selbst erschrecken ließen. Ich brachte Frauen um, schnitt zu Eisklumpen gefrorene Föten aus Leibern. Erkenntnisse wurden ausgesprochen: Ich wollte nicht geboren sein! Ich war sehr wütend! Ich hasste Frauen! - Ursache, um auch alles Weibliche an mir zutiefst zu hassen - und da ich das Weibliche und den Rest von mir nicht unterschied, umfasste der Selbsthass mich ganz. Mein Erleben von Abgeschnittensein bezog sich offenbar auf mehr als das Stecken im falschen Körper: Es betraf das ganze Leben, die weibliche Hälfte der Menschheit und damit auch die eigene Mutter. Dieses Erleben erfuhr eine Verortung in meiner Biographie, eine Szene, in der es möglicherweise erstmals existenziell aufgetreten war, und die mir ins Bewusstsein trat: Die Familie lebt in einem Mehrfamilienhaus, oberstes Stockwerk. Bei der hinteren Ausgangstür aus dem Haus gibt es einen kleinen Hof. In dem Hof steht täglich viele Stunden ein Kinderwagen mit dem Baby der Familie. Das Baby schreit, aber keiner hört. Das Baby verstummt unten im Hof allein. Verstärkt wird dieses Erleben durch die Tatsache, ab dem Alter von 5 Monaten in die Krippe gegeben worden zu sein. Das war damals typisch in der DDR, und die Eltern dachten, sie täten das Beste für ihr Kind, denn so hatte man es ihnen beigebracht. Ein weiteres kam hinzu. Als ich erfuhr, dass meine Mutter eigentlich einen älteren Bruder gehabt hätte, dieser aber tot zur Welt gekommen war, verbündete ich mich innerlich mit ihm - ich wollte sein wie er.

Als ich versuchte, bis auf den Grund von Hass und Wut zu schauen, kamen mir tiefe Ängste entgegen: Angst vor dem Leben, Angst verlassen zu werden. Wenn ich mir die Folgen anschaue, komme ich inzwischen zu der Vermutung, dass das kleine Kind eine Art Überlebensmechanismus entwickelt hatte: dicke Mauern in mir; ich drinnen, der Rest der Welt draußen. Keine (zu dichte) Bindung eingehen, um nicht verlassen werden zu können. Und ich „scheiße“ auf dieses Leben und beende es, wenn es mir passt. Man kann das durchaus Stolz nennen. Als Teenager fasste ich einen Beschluss, mein Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beenden. Ich lehnte das Leben ab, soweit es mich betraf. Diese Mechanismen sind verständlich, um Schmerz zu vermeiden, hatten allerdings einen wesentlichen Nachteil. Sie verhinderten, dass ich mögliche Annäherungsversuche von anderen annehmen und ihnen nachgehen konnte. So verhinderten sie auch mögliche positive Erlebnisse und Erfahrungen.

Andere Verletzungen speziell durch Frauen kamen hinzu, beispielsweise mussten wir im Schwimmunterricht in der Schule nackt (!) antreten. Im Sportunterricht gab es keine freie Kleiderwahl und die Lehrerin „überwachte“ auch noch den Zyklus! Lange Hosen durfte man nämlich nur dann anziehen, wenn man blutete. Das war übergriffig, aber ich blieb damals sprachlos und ließ es über mich ergehen. Was konnte dem Hass entgegengesetzt werden?

Ein neuer Umgang mit der Scham

Bahnbrechend für mich war zu akzeptieren, was mir geschehen war. Jeder Tag, den ich gelebt hatte, hatte mich geprägt, ob ich das wollte oder nicht. Besser war, dies anzunehmen und damit statt dagegen zu leben. Zu benennen, dass mir mütterliche Nähe, Geborgenheit und Wärme gefehlt hatten, und aufkommenden Schmerz diesmal aushalten. Anders als früher war ich nicht mehr allein, sondern in gewisser Weise „in Sicherheit“ beim therapeutischen Begleiter. Ich hatte mich den Ängsten und Mechanismen zu stellen und neue konstruktive Wege zum Umgang damit suchen.

Hinter dem Wunsch, mein Leben zu beenden, stand in Wahrheit nicht, dass ich nicht mehr leben wollte, sondern, dass ich so nicht mehr leben wollte. Und damit die nicht ganz unberechtigte Frage, ob für mein Dilemma eine Lösung gefunden werden könnte, die nicht so endgültig ist wie der Tod. Diese Todessehnsucht taucht zuweilen noch heute auf. Lebensverneinung und Vernichtungswillen nehme ich jetzt aber als wichtiges Hinweiszeichen, dass irgendetwas gerade nicht stimmig ist. Ich frage mich dann: was konkret ist nicht erträglich, was verursacht, dass ich mit dem Leben Schluss machen will - und eigentlich nur eine bestimmte Situation oder einen Zustand beenden will? Lebensangst und Angst davor, Verantwortung zu übernehmen, liegen oft darunter, nicht selten gekoppelt mit der großen Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt.

In mir verborgen gab es ein Bild meiner Mutter, auch das musste ich benennen und wahr sein lassen: Ich sah sie wie eine Hohlfigur, bei der man mit Bleistift nur die Umrisse gezeichnet hatte. Diese Figur hatte immer irgendetwas zu tun, war sehr fleißig, sorgte sich um vieles und versuchte immer, alles gut zu machen. Aber irgendwie war nichts drin. Die Beschäftigung mit den Biographien meiner Eltern brachte für mich deutlich zum Vorschein, dass sie Menschen mit ihrem eigenen Gewordensein sind und selbst Grenzen haben. Beide, Mutter und Vater, haben das Beste für ihr Kind gewollt. Ein Mensch kann immer nur das weitergeben, was er selbst empfangen, erfahren und gelernt hat - im Guten wie im Schlechten. Und ein Mensch kann nur das weitergeben, was der andere auch annimmt. Alles, was meine Eltern hatten und konnten, haben sie gegeben - mehr hatten sie nicht. Dafür wollte und konnte ich nun dankbar sein. Meine eigene Fähigkeit, ihre Annäherungsversuche und Liebeserweise anzunehmen, war durch die dicke Mauer in mir extrem eingeschränkt gewesen.

Das Erbe der Mütter antreten

Dankbar erinnerte ich mich daran, dass es einen besonderen Menschen gegeben hatte, bei dem ich das Gefühl hatte, verstanden worden zu sein: meine Oma. Unsere Familie lebte mit ihr gemeinsam in einer Wohnung bis zu ihrem Tod kurz vor meinem 18. Geburtstag. Ihr Satz war: „Ich habe einen Engel und einen Engel mit B davor.“ Der Engel war meine blondgelockte Schwester, mit dem Bengel war ich gemeint. Was ich nun nicht abstreiten konnte: sie war eine Frau, auch wenn ich sie so nie angesehen hatte. Schrittweise lernte ich unterscheiden zwischen dem, was vergiftend in meinem Leben war, und dass ich es verknüpfte mit Frauen, die in meinem Leben eine Rolle spielten. Mit meinem Geschlecht aber hatte das nichts zu tun!

Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass ich, wollte ich leben, „das Erbe annehmen“ müsste. Das Erbe, mit diesem Körper mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren worden zu sein, und das Erbe meiner Mutter und Großmütter. Nur über das, was ich in Händen hielt, könnte ich dann auch verfügen, so der Gedanke. Erst einmal musste ich Ja dazu sagen - und dann entscheiden, wie ich mit dem Erbe weiter verfahren wollte. Das Gift wollte ich auf jeden Fall loswerden.

Es gab auch Gutes in meinem Leben durch Frauen - und Frauen haben einen besonderen Stellenwert in der Schöpfung durch das, was sie in einzigartiger Weise verkörpern. Beides wurde sichtbar für mich. Zu dieser Erkenntnis half mir eine „neue Mutter“. Jesus sagte zu seiner Mutter Maria: „Siehe, das ist dein Sohn“, zum Jünger sagte er: „Siehe, das ist deine Mutter“ (Vergl. das Evangelium nach Johannes 19,26+27). In ähnlicher Weise wurde mir angeboten, dass die Mutter Jesu auch meine Mutter sein könne.

In der Betrachtung darüber, was ihr Leben für Jesus und die Welt bedeutete, wandelte sich mein Frauenbild. Frauen haben die Gabe, dass in ihnen neues Leben heranwachsen kann, und zwar ganz ausschließlich nur in ihnen! Eigentlich ist das etwas Wundersames, Wunderbares. Sie können empfangen, nähren, in besonderer Weise nah sein und wörtlich ihr Leben teilen. Durch eine Frau hindurch nahm Gott menschliches Fleisch und Wesen an, weil sie sich mit ihrem ganzen Sein zur Verfügung gestellt hat. In dieser besonderen Weise kann nur Frau etwas von der Beziehung zwischen Gott und Mensch verkörpern. Wenn dieses Bild den Menschen fehlt, fehlt der Welt etwas Wesentliches. Frauen sind überlebenswichtig für alle.

Wie nebenbei wandelte sich damit auch das Bild, das ich von meiner Mutter hatte: ich erkannte nach und nach, was alles Lebendiges in ihr ist, und sah, was vermutlich schon immer da war, ich aber leider nicht wahrgenommen hatte. Es gab Liebe, Wärme, Wunsch nach mütterlicher Nähe zu mir, soweit es ihr eben möglich war. Es ist etwas heil geworden. Das, was fehlte, ist mir geschenkt worden - zuerst durch Maria und durch Frauen in meiner Umgebung, dann sogar durch meine leibliche Mutter - denn jetzt konnte ich es annehmen.

War dann mein Mann-Sein eigentlich ein Nicht-Frau-Seinwollen? Ich weiß es nicht. Mit dem Schwinden des Hasses wurde es jedenfalls möglich, neue Gedanken zu denken. „Alles schmerzt sich durch bis auf den eigenen Grund und die Angst vergeht“. Der Satz ist nicht von mir, aber ich kann aus eigenem Erleben bezeugen, dass er wahr ist.

Die innere Hausgemeinschaft befrieden

Ein ganz wesentlicher Schritt in Richtung Selbstannahme war, dass ich mich auf ein vom Therapeuten vorgeschlagenes „Experiment“ einließ, die Begegnung mit dem inneren Kind (nach Luise Reddemann). Diesem Impuls folgend, kamen mit der Zeit verschiedene Anteile in mir zum Vorschein, die vorher gut unter Verschluss waren und wo ich nur ein großes Nichts hatte. Ich entdeckte sozusagen mein Innenleben, eine ganze innere Welt!

Diesen Anteilen eigneten je unterschiedliche Eigenschaften, Gaben, Fähigkeiten, Geschlechtsmerkmale. Manche mochte ich, andere hasste ich. Die Anteile standen beziehungslos nebeneinander. Einer dieser Anteile wollte alle anderen vernichten. Meine überaus herausfordernde Aufgabe bestand darin anzuerkennen, dass jeder dieser Anteile in mir ist, darüber hinaus alle willkommen zu heißen und keinem die Existenzberechtigung abzusprechen (auch nicht den weiblich konnotierten!), sodann die Anteile wie in einer Art „Hausversammlung“ an einen Tisch zu bringen, damit sie sich kennenlernten.

Diese Begegnungen mit allem in mir waren die mühevollsten und schmerzhaftesten Angelegenheiten. Sie brachten die härtesten Auseinandersetzungen, die schrecklichsten und die schönsten inneren Bilder mit sich, die hilfreichsten Träume und viele Tränen. Sie waren wichtige Schlüssel auf dem Weg zu Frieden und Versöhnung. Schwer war insbesondere, die „weichen“ Seiten in mir zu sehen und anzunehmen. Die Entdeckung der inneren Welt war trotz aller Schmerzen, die das bedeutet hat, eines der kostbarsten Geschenke. Sie hat mich letztlich innerlich lebendig werden lassen. Auf diesem ganzen Weg lernte ich nach und nach meine eigenen Gefühle kennen und mir wuchs eine Sprache zu, mit der ich sie erstmals ausdrücken konnte.

Beim Nachdenken über das Leben in vorgegebenen Grenzen beschäftigte ich mich mit Menschen, die eine Behinderung haben. Die von ihnen, die ich bewunderte, hatten ihre Behinderung irgendwie angenommen. Sie versuchten, mit ihr statt gegen sie zu leben, nutzten dabei alle sich bietenden Hilfen und genossen das Leben, das sie so leben konnten. Viele dieser Menschen können das Gute in ihrem Leben sehen und benennen, sie sind dankbare Menschen. Konnte ich die Eigenheiten an meinem Körper, die mir das Leben schwer machten, wie eine Behinderung zu sehen versuchen und das Beste aus der Situation machen?

In der Auseinandersetzung mit meinem Körper ließ ich mich ein auf die Frage, ob es irgendetwas an diesem Körper gibt, was vielleicht doch nicht so schlecht ist. Dabei habe ich entdeckt, wie gut er funktioniert. Trotzdem war er wie „nicht meiner“. Ich beschäftigte mich speziell mit dem weiblichen Körper, den Geschlechtsorganen, den Hormonen: Wo werden sie gebildet, wie ist die Steuerung, worauf wirkt sich der Hormonhaushalt aus. Das gab mir sehr zu denken: sollte ich in dieses gut funktionierende System eingreifen? Ist die Not so groß, dass es nicht anders geht? Dann wäre es den Eingriff auf jeden Fall wert! Würde Gott mich fallen lassen, wenn ich den Weg von Hormoneinnahme und geschlechtsangleichenden OPs wählte? Es stellte sich so etwas ein wie Hoffen, das an Gewissheit grenzt, er würde mich verstehen und nicht verlassen. In der Taufe hatte er mir zugesagt, dass er mich nicht verlassen würde.

Im Spiegel neuen Lebens - mit Neffe und Nichte

Irgendwann fing ich an zu zeichnen: ein Herz, mein Herz, meine Hände. Statt eines Messers zur Selbstverletzung oder einer Flasche zur Schmerzbetäubung fand ich einen Bleistift in meiner Hand vor. Statt zähnefletschende Monster, Schmerzschreie und Hassparolen mit Acrylfarben großflächig und schwarz mit breitem Pinsel auf Riesenblätter hinzurotzen, wie ich es in den ersten Gefühlsaufbrüchen getan hatte (und das war schon ein Fortschritt zur Betäubung gewesen, denn es war überhaupt mal eine Ausdrucksform!), entstanden hier - für mich sehr überraschend - feine leise Linien. Mein Auge beobachtete sehr genau, meine Hand setzte um - so hatte ich noch nie gezeichnet, so hatte ich meinen Körper noch nie angesehen. Es war ein langsames vorsichtiges Herantasten. Viel später zeichnete ich sogar einen Halbakt von meinem eigenen Körper.

Die zwei Schwangerschaften meiner Schwester habe ich aus der Ferne in besonderer Weise erlebt. Meine Schwester ist eine Frau, die ganz selbstverständlich in sich lebt. Mein Neffe ist ein Junge, wie ich gerne einer gewesen wäre, aber nicht war. Meine Nichte ist ein Mädchen, wie auch ich eins gewesen war, aber nicht sein wollte. Auch um dieser Kinder willen wollte ich in Klarheit, wahrhaftig und aufrichtig leben. Wie sollte ich ihnen denn sonst ein Gegenüber werden können? Im Warten auf ihre Geburten ist in mir Liebe zu meinem Neffen gewachsen, ohne Neid auf sein Junge-Sein, und Liebe zu meiner Nichte, ohne Misstrauen von meiner Seite. Vor der Geburt meiner Nichte hatte ich geträumt, und dieser Traum zeigte mir, dass ich bereit und einverstanden war: das Mädchen sollte geboren werden. Eine weitere Einsicht war richtungsweisend: es ist gut, sich an Vorbildern zu orientieren. Am Ende aber musste ich meinen eigenen Weg finden, einen, der zu mir passt. Ich bin nicht der andere, ich bin ich.

Irgendwann unterwegs auf meinem Weg hatte ich entschieden, mich zu bewegen und zu versuchen, mit dem mir Gegebenen zu leben. Einerseits war es das Ergebnis einer nüchternen Abwägung: ich stelle mich den vorfindlichen Realitäten, die ich erst einmal nicht ändern kann. Vielleicht aber war mir gegeben, meine Haltung zu ihnen zu verändern, so meine Hoffnung. Sollte das scheitern, bliebe immer noch die Möglichkeit der Geschlechtsangleichung und ich würde sie ergreifen, das versprach ich mir selbst. Es war der Versuch, dem Leben Raum zu geben, es sich entwickeln zu lassen und mit mir selbst Geduld zu haben.

Andererseits war es alles andere als ein stringenter Weg mit klaren folgerichtigen Schritten. Vielmehr musste die Entscheidung, einmal getroffen, immer wieder neu errungen werden. Zuweilen war sie klar und fest, dann schwankte sie bedrohlich, mal ging es einen Schritt vor, dann wieder zwei zurück. Den meisten Themen begegnete ich mehrfach, je in unterschiedlicher Tiefe, vergleichbar einem Weg durch eine Spirale, bei dem man immer wieder an den gleichen Orten vorbeikommt, aber auf unterschiedlichen Ebenen. Immerhin - es ist keine Mine explodiert.

Auf der Zielgeraden?

Hilfreich war die Entdeckung, dass es im Alltag, z.B. bei der Arbeit, oft gar nicht auf das Geschlecht ankommt. Da war ich als Mensch mit meinen Fähigkeiten gefragt! Schwierig war, die Grenzen des Körpers zu spüren und zu akzeptieren. Das, was meinen Körper zu einem weiblichen macht, versuchte ich so sein zu lassen. Zuallererst sah ich mich jetzt als einen Menschen, und danach als einen Menschen mit einem weiblichen Körper. Ich lebte mit ihm, und das war besser, als in ständiger Abwehr dagegen zu leben. Ich habe alle inneren und äußeren Anteile, denen ich auf meinem Weg begegnet war, als zu mir gehörig angenommen. Die Arbeit am Thema „innere Anteile“ war eine der größten Herausforderungen der Therapie, sie brachte die meisten inneren Bilder und Träume hervor, die für meinen Lebensweg besondere Bedeutung haben. Wer sich auf diesen Weg begibt, wird seine eigenen Erfahrungen machen. Völlig unerwartet und weit darüber hinaus wurde mir geschenkt, dass ich die Anteile meiner inneren „Hausversammlung“ sogar liebgewann, die männlichen und die weiblichen!

Dieses „Alltagsexperiment“ lebe ich seit mehreren Jahren. Bisher stand die Richtung nicht ernsthaft in Zweifel. Ausgeprägte, unerträgliche oder übermächtige Sehnsucht nach Leben als Mann ist bis jetzt nicht mehr aufgetaucht. Heute übe ich mich im Vertrauen, in Beziehungen und Freundschaften. Gefühlsäußerungen anderer Menschen verunsichern mich zuweilen, da ist immer noch eine gewisse Hilflosigkeit vorhanden. Ich blicke nur schlecht, langsam oder gar nicht durch, wenn sich Beziehungen „verknäulen“. Vergleiche ich mich mit anderen, habe ich sicher kleinere Kapazitäten für enge Freundschaften und Bindungen. Eine gewisse Distanz bleibt in vielen Kontakten. Aber ich lebe verbunden, in gefestigten und geklärten Beziehungen zu meiner Herkunftsfamilie und mit den Gefährten, mit denen ich in einer christlichen Lebensgemeinschaft gemeinsam unterwegs bin. Ich bin sehr dankbar, heute mit mir selbst einig zu sein. Ich bin ein glücklicher lediger Mensch und ich bin eine Frau.

Frieden
ist die Fähigkeit
sich selbst so anzunehmen
wie man ist
es ist das Gefühl
dazu zu gehören
und darüber sicher zu sein

Dieses Zeugnis erscheint zusammen mit weiteren kostbaren 38 Lebensberichten von Männern und Frauen, die ihre persönlichen Erfahrungen im Bereich von sexueller Identität und Orientierung abseits des LGBTIQ-Narrativs reflektiert haben und ihren Weg im Glauben gegangen sind und mit anderen gemeinsame gehen.

Markus Hoffmann: Weil ich es will. Homosexualität. Wandlungen. Identität.
39 Lebensberichte. ISBN 978 3 03848258 1 Fontis-Verlag, Basel 2023

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