Die radikale Reformbewegung der Kibbuzfrauen

Eine Zusammenfassung der anthropologischen Studie *Gender and Culture* von Melford E. Spiro[^1]

1. Einführung

In seiner empirischen Langzeitstudie beschreibt der Anthropologe Melford E. Spiro die Kibbuz-Bewegung in Israel.

Er beschreibt die revolutionäre feministische Bewegung der Kibbuzgründer, ihre Ideale, ins­besondere ihr Ideal von einer radikalen Gleichheit von Frau und Mann. Dieses Ideal führte zur Abschaffung jeglicher auf Geschlecht basierender Arbeitsteilung und damit zu einer revolutionären Umformung von Ehe, Familienstruktur und Kindererziehung.

Zwischen 1950 und 1975 (und dann bis 1994) wird Spiro Zeitzeuge einer „weiblichen Gegenrevolution“: Die im Kibbuz geborenen Frauen setzten eine Rückkehr zu einer auf Geschlecht basierenden Arbeitsteilung durch. Auf ihr Drängen wurde die Kindererziehung erneut radikal reformiert. Die Frauen bestanden darauf, in hohem Maß wieder selbst für ihre Kinder zu sorgen. Ehe und Familie wurden dadurch wieder zu eigenständigen Einheiten mit eigener Bedeutung.

Anders als die Gründer war die neue Generation der Kibbuzfrauen nicht mehr der Auffassung, Gleichheit bedeute: „Alle tun das Gleiche“, sondern vielmehr: „Jeder tut, was ihm am besten entspricht, bei gleicher Wertschätzung von Verschiedenheit.“

Warum fand die radikale Reformbewegung statt? Hier bezieht Spiro seine umfangreichen Untersuchungen an Kibbuzkindern ein und beschreibt, wie diese eine „kopernikanische Wende“ in seinem eigenen Denken bewirkten.

Melford Spiro führte seine Untersuchungen in sieben Kibbuzim durch, vorwiegend jedoch in Kirjat Yedidim (Pseudonym). Da alle anderen aus dieser Zeit verfügbaren Ergebnisse - verschiedene Studien, die umfangreiche Studie von Tiger/Shepher (1975) sowie die Inhalte der von den Kibbuzim selbst herausgegebenen Publikationen - alle in dieselbe Richtung weisen, so Spiro, können seine Ergebnisse als repräsentativ für die gesamte Kibbuzbewegung gelten.

2. Die Ziele der Kibbuzgründer

Die Gründer der Kibbuzbewegung, Frauen und Männer, wollten Anfang des 20sten Jahrhunderts in Israel den „neuen Menschen“ schaffen. Er sollte frei sein von Gier nach Gütern und Besitz, frei von partikularistischen Interessen, nur am Wohl des Ganzen orientiert, frei zur Selbstentfaltung und frei von jedem Willen zur Macht über andere. Neben einer radikalen ökonomi­schen Gleichheit sollte vor allem eine radikale soziale Gleichheit der Geschlechter gelebt werden. Die Kinder, befreit von der Herrschaft der Eltern, sollten in Kinderhäusern von ausgebildeten Pädagogen erzogen werden. Frauen sollten vom „Joch“ der Familien- und Kinderversorgung befreit werden, um sich ebenso wie die Männer im beruflichen, öffentlichen und politischen Leben verwirklichen zu können. Für die Kibbuzgründer war jede auf Geschlecht basierende Arbeitsteilung Zeichen von Ungleichheit und damit von Ungerechtigkeit.

Unter Gleichheit verstanden sie Unterschiedslosigkeit. Um diese durchzusetzen, nahmen sie eine radikale Umformung der Institutionen Ehe und Familie vor und setzten ein Leben „ohne Geschlechtsrollenunterschiede“ durch.

Anders als die „das Patriarchat“ bekämpfenden Feminis­tinnen waren die Kibbuzgründer nicht der Auffassung, dass Geschlechtsrollen­unterschiede von Männern entwickelt worden seien, um Frauen zu unterdrücken und von „einflussreichen“ öffentli­chen Positionen fernzu­halten. Für die Kibbuzgründer war vielmehr die Geschlechterungleichheit eine Folge der „biologischen Tragödie der Frau“. Damit meinten sie die Begrenzungen, die die Frau durch ihre biologische Fähigkeit, schwanger zu sein und stillen zu können, erlebt. Dadurch dass Frauen die primären Ansprechpartner für ihre kleinen Kinder sind, so die Kibbuzgründer, sind sie „im Joch der häuslichen Arbeit gefangen“, während der Mann „frei“ für außerhäusliche Tätigkeiten ist. Da die häuslichen Tätigkeiten Zeit und Energie beanspruchen, nehmen sie Frauen die Möglichkeit, ihre künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten ausbauen und politische Leitungsämter zu übernehmen.

a) Die Ehe
Die Ehe wurde zwar nicht abgeschafft, ihre Bedeutung aber minimiert. Heiratszeremonien waren absolut verpönt. Einziges Zeichen der Ehe war, dass das Paar einen gemeinsamen Raum als Wohnung erhielt, oft mussten sie diesen noch mit einem Junggesellen teilen. Soziale Einheit war das autonome Individuum. So besaßen die Ehepartner auch ihre Kibbuzmitgliedschaft unabhängig voneinander.

Bewusst saß man bei Gemeinschaftsveran­stal­tungen und beim Essen nicht nebeneinan­der und nannte einander auch nicht „mein Mann“ oder „meine Frau“, sondern „Genosse“ oder „Kameradin“.

Um den Männern gleich zu sein, wollten die Frauen auch wie Männer aussehen und vermieden weibliche Kleidung, Make-up etc. Jede Betonung von Weiblichem wurde als unlauteres Mittel, um über die sexuelle Attrak­tivität Ansehen zu gewinnen, verachtet.

b) Die Familie
Im Kibbuz gab es eine Gemeinschaftsküche, -essraum, -wäscherei und Gemeinschaftsräume für die Freizeit. Für den „neuen Menschen“ im Kibbuz sollte es keine partikularistischen Familieninteressen oder partikularistische Mutter-Kind-Beziehung mehr geben. Die Kibbuzgemeinschaft war die „neue Familie“, in der die Kinder dem Kibbuz angehören sollten, nicht einem einzelnen Ehepaar. Das Streben nach privatem Glück wurde als moralischer Fehler gesehen, Liebe und Zuneigung sollten zuallererst dem Kibbuz insgesamt gelten. „Für unsere Eltern war nicht die Familie, sondern der Kibbuz, der Mittelpunkt. Dem Kibbuz widmeten sie ihr Leben, aber glücklich waren sie dabei nicht,“1 äußerte sich später ein prominentes Mitglied von Kirjat Yedidim.

Alle Entscheidungen des Kibbuz wurden gemeinsam in der Generalversammlung nach basisdemokratischen Prinzipien gefällt.

c) Die Kinderhäuser
Von Geburt an wurden die Kinder in Kinderhäusern von ausgebildeten Erzieherinnen erzogen. Wenn die Kinder, so meinten die Gründer, nicht mehr im emotionalen Mittelpunkt der Mütter stehen würden, könnte der Konflikt zwischen emotionaler Bindung der Mütter an ihre Kinder einerseits und dem Streben nach Selbstverwirklichung im Beruf andererseits endlich positiv gelöst werden. Denn diesen inneren Konflikt sahen sie als wichtigstes Hindernis auf dem Weg zur Gleichheit an.

d) Landwirtschaftliche Arbeit
Gleichheit bedeutete für die Kibbuzgründer: Frauen und Männer tun das Gleiche, Frauen haben in statistisch gleicher Weise wie die Männer Anteil am beruflichen, öffentlichen und politischen Leben. Das war ihr Ziel.

Da die Kibbuzim landwirtschaftliche Kollektive waren, hatte die Arbeit in der landwirtschaftlichen Produktion das höchste Ansehen. Wie die Gründer geplant hatten, arbeiteten nun Frauen und Männer dort in gleicher Weise.

Doch in der Realität mussten die Frauen ständig beweisen, dass sie diese Arbeit ebenso gut machen konnten wie die Männer. Sie arbeiteten meist mit unermüdlichem Einsatz, großem Eifer und einem gewissen Fanatismus. Oft arbeiteten sie länger als die Männer, machten weniger Pausen und studierten nachts die Fachzeitschriften. Und doch waren die Ergebnisse nicht wie erhofft.

Bald stellte sich heraus, dass die Frauen die körperlich schweren Arbeiten in der Landwirtschaft und das Hantieren mit den schweren Maschinen doch nicht so effizient durchführen konnten wie die Männer.

Zudem: Die Frauen und Männer im Kibbuz wünschten sich Kinder. Nach mehreren Fehl­geburten rieten die Ärzte den Frauen, nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern im Gemüse­garten zu arbeiten. Das war der erste kleine Schritt zur Wiederherstellung geschlechts­abhängiger Arbeitsteilung.

Die Kinder waren der Auslöser. Um Kinder stillen zu können, suchten sich die Frauen Arbeits­gebiete, die in der Nähe der Kinderhäuser lagen. Gemäß der Kibbuzideologie stillten sie dabei oft nicht nur die eigenen Kinder, sondern auch diejenigen, deren Mütter selbst nicht genug Milch hatten. Immer mehr verließen die Frauen die Landwirtschaft und begannen, im Dorf zu arbeiten: als Erzieherin im Kinderhaus, als Köchin in der Gemeinschaftsküche und in anderen Dienstleitungsbereichen.

Da die meisten Kibbuzim sehr arm waren, waren sie dringend auf möglichst hohe Produktivität angewiesen. Produktiv aber war nur die landwirtschaftliche Arbeit. Da Männer dort effizienter und ertragreicher arbeiteten und ihre Arbeit nicht durch Schwangerschaft oder Stillen unterbrochen wurde, nahm die Rollenaufteilung zwischen Frau und Mann weiter zu.

Schon 1950 arbeiteten in Kirjat Yedidim nur noch 12 Prozent der Frauen in der Landwirtschaft, 88 Prozent in Dienstleistungsbereichen, als Lehrerin oder Erzieherin. 1975 waren im Kibbuz Artzi, einem der radikalsten der Kibbuzim, nur noch 9% der Frauen in der Landwirtschaft tätig.

3. Die radikale Reformbewegung

Was bereits vor 1950 begonnen hatte, ging zwischen 1950 und 1975 und auch danach noch weiter. Die Sabra-Frauen, d.h. die im Kibbuz geborenen Frauen, initiierten eine radikale Reformbewegung. Sie setzten eine Rückkehr zu einer auf Geschlecht basierenden Arbeitsteilung durch. Auf ihr Drängen wurde die Kindererziehung erneut radikal reformiert. Die Sabra-Frauen bestanden darauf, in hohem Maß wieder selbst für ihre Kinder zu sorgen. Ehe und Familie wurden dadurch wieder zu eigenständigen Einheiten mit eigener Bedeutung.

Die Mütter setzten es durch, dass ihre Kinder nicht mehr gleich nach der Geburt ins Kinderhaus kamen, sondern von den Müttern zuhause versorgt wurden, bis sie acht Monate alt waren. Die Mütter reduzierten ihre Arbeitszeit und nahmen zusätzlich für alle Kinder im Vorschulalter noch eine Stunde Extra-Pause, die „Stunde der Liebe“, wie man es nannte. Anders als am Anfang durften die Eltern jetzt jederzeit in die Kinderhäuser kommen, um ihre Kinder zu sehen. Verbrachten die Kinder anfangs täglich zwei Stunden mit ihren Eltern, so waren es 1975 täglich vier bis fünf Stunden, in denen die Eltern ihren Kindern ungeteilte Aufmerksamkeit gaben. Am Abend aßen die Kinder auch nicht mehr im Kinderhaus, sondern gemeinsam mit den Eltern im Gemeinschaftsraum. Samstags und feiertags verbrachten sie den ganzen Tag mit ihren Eltern und oft den Großeltern. Am Abend brachten die Eltern, nicht mehr die Erzieherinnen, die Kinder zu Bett.

Die weitreichendsten Veränderungen fanden erst nach 1975, nach Beendigung dieser Studie statt und sind an anderer Stelle dokumentiert.2 Obwohl schon 1976 sich die Mehrheit der Mütter dafür einsetzte, dass ihre Kinder auch zuhause schliefen, sollte es noch Jahre dauern, bis sich das durchsetzen konnte.

a) Die Sabra-Frauen
Den Sabra-Frauen ging es um eine radikale Reform - in der Ideologie und Kultur ebenso wie in der Sozialstruktur. Kulturell war es eine Abkehr von einem radikalen Gleichheits­feminismus hin zur Betonung der Weiblichkeit.

Sie wandten sich gegen die Auffassung ihrer Gründer, Geschlechtsrollenunterschiede seien nur kulturell konstruiert. Viele Sabras waren überzeugt, dass psychische und andere Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen auch biologisch mitbestimmt seien.

Viele Sabra-Frauen meinten, dass sich Frauen eher verwirklichen, wenn sie mit Menschen arbeiten und ihnen helfen können; Männer eher, wenn sie mit Maschinen arbeiten und Dinge tun können, die ihnen ein Gefühl von Leistung und etwas Beherrschen geben.

Eine Sabra-Frau erklärte im Interview:

„Ich meine, eine Frau sollte die Arbeit tun, die ihr entspricht - nicht auf dem Traktor und nicht auf dem Feld. Von ihrer Natur her können Frauen nicht aktiv in der landwirtschaftlichen Produktion sein, vor allem nicht, wenn Familienleben und Arbeit integriert werden sollen.“3

Anders als die Gründerinnen sahen die Sabra-Frauen die Fürsorge für ihre Familie und die Kinder nicht als Hindernis auf dem Weg zur Emanzipation und Gleichheit, sondern als einen Weg zu persönlicher Erfüllung.

Die Überzeugung ihrer Mütter und Großmütter, dass Gleichheit nur erreicht werden könne, wenn Frauen und Männer das Gleiche tun, lehnten die Sabra-Frauen ab. Gleichheit bedeutete für sie nicht mehr: „Alle tun das Gleiche“, sondern: „Jeder tut, was ihm am besten entspricht bei gleicher Wertschätzung von Verschiedenheit.“

Dazu einige repräsentative Stimmen:

Ruth, die unermüdlich in der Landwirtschaft gearbeitet hatte, dann in der Küche und zuletzt als Sozialarbeiterin:

„Kühe oder Hühner füttern war landwirtschaftliche Arbeit und deshalb ‚gut‘; Menschen ernähren war Dienstleistung und deshalb ‚schlecht‘. Es kam der Tag, an dem ich entschied, dass das verrückt sei. Ich begann in der Küche zu arbeiten und ich liebte es.“4

Eine junge Sabra:

„Auch wenn die Geschlechter in künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen die gleichen Fähigkeiten haben mögen, kommen die Männer doch meist weiter, weil die Frauen so stark von ihrer Hauptaufgabe, der Kindererziehung und Fürsorge zuhause, beansprucht sind. Alles, was eine Frau ist und hat, ist auf diese Aufgabe ausgerichtet: ihre Freuden, ihre Gedanken, ihre Nerven. Diese Aufgabe ist für sie die wichtigste Sache der Welt. Für eine Frau ist es natürlich, Kinder zur Welt zu bringen und für ein stabiles Familienleben zu sorgen. Das gibt ihr ein Gefühl der Erfüllung. Indem sie Leben schenkt, überwindet sie den Tod.“5

Eine der Gründerinnen, als sie schon älter war:

„Ich glaube, dass es deshalb Unterschiede zwischen der weiblichen und der männlichen Physiologie und Psychologie gibt, weil die Frau die Aufgabe hat, schwanger zu werden und Kinder großzuziehen. Eine Frau spürt, dass sie der Familienmittelpunkt ist und macht die Familie zu dem, was sie ist. Diese Rolle kann sie nicht aufgeben. Und im Grunde will sie das auch nicht. (...)“6

Eine Frauenrechtlerin aus einem der radikaleren Kibbuzim in den 1970er Jahren:

„Was die Gleichheit zwischen Mann und Frau angeht, können wir die Tatsache nicht leugnen, dass es nicht nur körperliche, sondern auch emotionale Unterschiede gibt. Weil sie die Einstellungen und Lebensweisen auch der Kibbuz-Frauen beeinflussen, dürfen die besonderen Aufgaben der Kibbuz-Genossin innerhalb ihrer Familie nicht ignoriert werden.“7

Eine junge Frau auf einer Kibbuzkonferenz zum Thema Gleichheit im Sinn von Unterschieds­losigkeit:

“ (...) Ich bin im Kibbuz geboren und hatte nie das Bedürfnis nach solcher Gleichheit. Was Arbeitsaufteilung und Verwaltungspositionen angeht, empfinde ich die Geschlechtsrollen­unterschiede als natürlich und überhaupt nicht als diskriminierend... Muss eine schwangere Frau wirklich einen Panzer fahren können? Was die theoretischen Möglichkeiten angeht, gibt es solche Gleichheit. Allerdings wird sie gar nicht beansprucht.“8

Die Kibbuzfrauen zeigten: Männer und Frauen können ökonomisch, politisch und gesellschaftlich gleichberechtigt sein, auch wenn sie nicht dasselbe tun.

b) Die Ehe
1975 waren traditionelle Heiratszeremonien wieder üblich geworden, die Frauen nannten ihre Männer wieder „mein Ehemann“. Die Ehepartner saßen beieinander und zeigten damit öffentlich, dass sie zusammengehörten. Die Ehe war wieder eine eigenständige Einheit mit eigenem Wert.

Die Zunahme der Bedeutung von Ehe und Familie hatte Auswirkungen auf die Einstellung im Kibbuz zu Scheidungen und außerehelichen Affären. Hatte man zuvor eine bewusst permissive Einstellung gezeigt, wurden Scheidung und außereheliche Affären jetzt in einem negativen Licht gesehen. Man sah sie weniger als moralische Probleme denn als Unglück, Tragödie und als etwas Zerstörerisches an. Anders als am Anfang setzten die Kibbuzleiter jetzt einiges ein, um Scheidungen zu verhindern. Auch hier waren die Frauen Vorreiter für die neue Einstellung und begründeten es mit dem Wohl der Kinder.

c) Die Familie
Die Gründer hatten gemeint, wenn die Frau von allen innerfamiliären Aufgaben befreit und vollzeitlich außer Haus berufstätig wäre, würde auch für sie der Beruf bedeutungsvoller werden als die Familie.

Doch 1975 gaben in einer anderen Studie die meisten Kibbuzfrauen an, die Familie sei für ihre persönliche Erfüllung bedeutsamer als die Arbeit.

In der ersten Generation der Sabra-Frauen und Sabra-Männer gaben 68% der Frauen, aber nur 32% der Männer an, ihre Rolle als Ehepartner und Eltern sei ihnen wichtiger als ihre Arbeit.

Eine 30jährige Buchhalterin antwortete auf die Frage, ob für sie die Familie oder der Beruf wichtiger sei: „Was für eine Frage! Die Familie ist wichtiger als alles andere. Schauen Sie, meine Arbeit ist mir sehr wichtig. Ich möchte unbedingt arbeiten; aber nicht ein Viertel meiner Gedanken, die ich in meine Familie investiere, investiere ich in meine Arbeit.“9

Beständig äußerten die Sabra-Frauen ihren Wunsch nach einem größeren Zuhause, das sie kreativ gestalten konnten. Auf ihr konstantes Drängen wurde in der Generalversammlung eine massive Aufstockung der Gelder für Wohnungen und Wohnungsausstattung bewilligt. Jede Wohnung bekam jetzt eine eigene Küche. Die Wohnung, ursprünglich notdürftiger Aufenthaltsort, da das eigentliche Leben in den öffentlichen Räumen stattfinden sollte, bekam eine neue zentrale Bedeutung. Mittelpunkt des Lebens war wieder die Familie. Oft lebten jetzt auch die Großeltern, wenn auch in einer eigenen Wohnung, mit im selben Haus.

Wie nichts anderes zeigt die Verschiebung der Gelder vom öffentlichen zum privaten Bereich die Aufwertung der Bedeutung von Ehe und Familie in der Gegenrevolution.

Die Frauen taten jetzt Dinge, die eine Generation zuvor noch undenkbar gewesen waren: Sie machten den Kindern auch an ihrem freien Tag das Frühstück, nähten für sie und backten Kuchen für die Familie. Anders als die Gründer sahen die Sabras die Fürsorge für ihre Familie und Kinder nicht mehr als Hindernis auf dem Weg zur Emanzipation, sondern als Quelle tiefer Selbsterfüllung.

d) Politische Leitungsämter
Die statistisch gleiche Beteiligung von Frauen an Politik und Ökonomie war eines der zentralen Ziele der Gründer. Die meisten Männer setzten sich dafür ein, dass Frauen in Leitungspositio­nen und Verwaltungsgremien tätig waren und waren auch von ihren Fähigkeiten überzeugt. Doch 1969 waren im zentralen Leitungsorgan von Kirjat Yedidim neun Männer und nur vier Frauen tätig, im Finanzausschuss acht Männer und nur eine Frau. In verschiedenen Gremien, etwa dem Gremium für Betriebsmittel, gab es gar keine Frau. Das Gremium für Kinderfürsorge dagegen hatte neun Frauen und zwei Männer. 1975 waren in der Leitung der Kibbuzföderation, zu der Kirjat Yedidim gehörte, 71% der Stellen von Männern belegt. Weder eine eingesetzte Kommission, die das „Problem der Ungleichheit“ untersuchte noch verbindliche Quotenregelungen konnten das ändern.

Die meisten Frauen und Männer im Kibbuz waren überzeugt: Männer und Frauen haben unterschiedliche motivationale Interessen und Bedürfnisse. Die Frauen sind intensiver mit ihrer Familie beschäftigt und wollen das auch sein. Männer dagegen sind mehr mit den Angelegenheiten des Kibbuz als Ganzem beschäftigt.

e) Die Großmütter
Obwohl 1950 sich viele Gründerinnen noch abschätzig über die neuen Einstellungen der Sabra-Frauen äußerten, zeigte sich im Lauf der Zeit Bemerkenswertes: Die Gründerinnen, jetzt Großmütter, begannen die neuen Familien­regelungen sichtbar zu genießen. Als junge Frauen und überzeugte Gleichheits-Feminis­tinnen hatten sie die Kollektiverziehung bejaht. Dass die Emanzipation der Frau, so wie sie sie verstanden, eine Schwächung der Mutter-Kind-Bindung implizierte, hatten sie zumindest in Kauf genommen.

In einer Umfrage im Kibbuz Artzi 1974 gaben nicht nur die meisten Sabra-Frauen, sondern auch die meisten Gründerinnen an, dass die Familie ihnen wichtiger sei als die Arbeit.

Die Großmütter schienen teilweise regelrecht vernarrt in ihre Enkel zu sein und rivalisierten sogar mit den Müttern um die Zuneigung der Kinder. Viele Beobachtungen sprechen dafür, dass es sich dabei weniger um eine Veränderung in den Gefühlen der Großmütter handelte, als um eine neue Freiheit, diesen Gefühlen auch Raum geben zu können.

Eine Sabra-Frau kommentierte diese Entwicklung: „Diese Großmütter drücken jetzt alle ihre natürlichen Empfindungen aus, die sie als Mütter unterdrückten. Damals mussten sie ihre Kinder als dem Kibbuz gehörend ansehen. Heute, wo ihre Töchter und Enkelinnen sagen: ‚Unsinn, meine Kinder gehören zu mir‘, stimmen die Gründerinnen ihnen zu.“ Und: „Viele dieser Großmütter verhalten sich jetzt wie die Mütter und können sein, was ihnen früher nicht erlaubt war oder sie sich selbst nicht erlaubten.“10

Eine Großmutter beschrieb 1975, wie sie früher ihre Kinder abends ins Kinderhaus gebracht hatte und sie dort weinen hörte. Sie sei dann nicht mehr umgekehrt, „aber, es war sehr schwer, sehr schwer.“11

Eine andere Gründerin hatte schon 1925 in ihrem Tagebuch aufgezeichnet:

„Ist es richtig, das Kind nachts ins Kinderhaus zurückgehen zu lassen, gute Nacht zu sagen und es sich und fünfzehn oder zwanzig anderen zu überlassen? Diese Trennung vor dem Schlafen ist so ungerecht. (...) Die Nachtschwestern in den Kinderhäusern wechseln ständig. Wenn ich Nachtwache habe, zieht sich mein Herz jedes Mal zusammen, wenn ein Kind ruft, manchmal aus dem Schlaf heraus: Nachtwache! Nachtwache! Was spielt sich in der Seele eines Kindes in diesem Augenblick zwischen Schlafen und Wachsein ab? Und wer weiß denn, was wichtiger für das Kind ist, das bewusste Leben am Tag oder das unbewusste in der Nacht?“

4. Was hat die radikale Reformbewegung ausgelöst?

Die Trendwende fand in der gesamten Kibbuzbewegung statt. Was hat sie ausgelöst? Warum gaben die Sabra-Frauen die Arbeit in der Landwirtschaft und in den Verwaltungsgremien mehr­heitlich auf, obwohl ihnen doch alle Türen offenstanden? Warum kehrten sie zu einer auf Geschlecht basierenden Arbeitsteilung zurück?

Um diese Frage zu beantworten, bezieht sich Spiro auf seine umfangreichen Untersuchungen mit Kibbuzkindern, von denen hier nur ein Ausschnitt dargestellt werden kann.

a) Die Hypothese
1951 untersuchte Spiro im Kibbuz Kirjat Yedidim 41 Kinder im Alter zwischen 13 Monaten und 5 Jahren, davon 22 Jungen und 19 Mädchen.

Da die frühen 1950er Jahre die Trendwende von der kollektivistischen zur familiären Periode markierten, war diese Kindergruppe die letzte Sabra-Kohorte, die noch ganz im Kinderhaus erzogen wurde.

In den Kinderhäusern galt das Prinzip der Gleichheit im Sinn der Unterschiedslosigkeit. Ziel der Erziehung war die Minimierung geschlechtli­cher Unterschiede, sei es im Verhalten oder Erleben der Kinder. Abgesehen von ihrem täglichen, zweistündigen Besuch bei den Eltern spielten, schliefen, aßen und duschten die Kinder gemeinsam und saßen beim Toilettentraining zur selben Zeit auf dem Töpfchen. Sie erhielten dieselben Spielsachen und arbeiteten ohne Unterschiede auf dem Kinderbauernhof. Ihnen wurden dieselben Werte eingeprägt und dieselben Verantwortungen übergeben. Abgesehen von Unterschieden in Kleidung und Namen machten die Erzieherinnen keinerlei wahrnehmbare Unterschiede in der Betreuung der Jungen und Mädchen.

Das Lernumfeld der Jungen und Mädchen war also in hohem Maß gleich, ihre Sozialisation „identisch“.

Wenn geschlechtsabhängige Verhaltens­unterschiede kulturell erworben sind, wäre zu erwarten, dass diese Kinder keine oder nur geringe geschlechtstypische Unterschiede zeigen würden. Umgekehrt: Wenn geschlechtsbedingte Unterschiede doch festzustellen wären, müssten sie eher auf präkulturelle als auf kulturbedingte Einflüsse zurückzuführen sein. Wenn es darüber hinaus, so die Hypothese, Übereinstimmungen gäbe zwischen geschlechtsabhängigem Verhalten im Kindes- und im Erwachsenenalter und ersteres in „präkulturellen Bedürfnissen“12 wurzelt, so müsste auch das Erwachsenenverhalten in präkulturellen Bedürfnissen wurzeln.

5. Die Spiele der Sabra-Kinder

Um zu untersuchen, ob die Kinder in einer auf Gleichheit eingestellten Kultur geschlechts­abhängige Verhaltensunterschiede zeigten, untersuchte Spiro sowohl das Spielverhalten als auch das Alltagsverhalten der Kinder.

a) Spielverhalten

Jungen und Mädchen, 13 Monate bis 5 Jahre\
Vergleich zwischen verschiedenen Spielkategorien

Spiel-Kategorie Jungen Mädchen
1. Spielzeug überhaupt 41% 30%
b) großes Spielzeug 17% 9%
a) kleines Spielzeug 24% 21%
2. Bewegung 16% 12%
3. Sand und natürliche Objekte 16% 14%
4. Fantasiespiele 14% 20%
5. Verbale und visuelle Spiele 10% 19%
6. Sonstige Spiele 3% 5%

Hinweis: x2=20,04; d.f.=5; p=<.01

Aus Tabelle 1 ist ersichtlich, in welche Kategorien Spiro die Spiele der Kinder einteilte.

Zunächst wurde unterschieden, ob ein Kind überhaupt mit dem vorhandenen Spielzeug spielte oder nicht. Das Spielzeug wurde dann in „großes“ (das den Kindern als Fahrzeug diente, auf das sie klettern konnten usw.) und in „kleines“ (das sie in der Hand halten konnten) eingeteilt.

Spiele im Sandkasten mit Sand oder mit anderen natürlichen Objekten wie Erde, Steinen oder Ästen wurde in „Sand und natürliche Objekte“ zusammengefasst. „Bewegung“ umfasste Laufen, Springen, Turnen usw.

Doch wurde ja auch ohne Spielzeug gespielt. Die Kategorie „verbale und visuelle Spiele“ umfasste Gesang, Gespräche, das Betrachten von Bilderbüchern und Erzählen von Geschichten. „Fantasiespiele“ bezog sich auf Tätigkeiten, bei denen das Kind seine Vorstellungskraft einsetzte und vorgab, eine andere Person oder Objekt zu sein. Wenn es etwa einen Hund spielte, bewegte es sich auf allen Vieren und ahmte das Bellen und Beißen des Tieres nach. Fantasie kam auch in anderen Kategorien vor, etwa wenn ein Kind auf dem Dreirad vorgab, ein Auto zu fahren, wurde aber nur dann unter „Fantasiespiel“ eingeordnet, wenn das Kind sich mit seinem Fantasieobjekt identifizierte und es nachahmte.

Zunächst fiel auf, dass Jungen Spielzeug überhaupt häufiger benutzten als die Mädchen (41% gegenüber 30%). Der größte Unterschied lag beim „großen“ Spielzeug: Die Jungen bevorzugten es fast doppelt so häufig wie die Mädchen (17% gegenüber 9%).

Ähnliche Unterschiede fanden sich in den Kategorien, in denen kein Spielzeug zum Einsatz kam. So waren die Jungen häufiger beim Bewegungsspiel zu finden, während Mädchen öfter „Fantasiespiele“ sowie „verbale und visuelle Spiele“ wählten.

Bewegungsspiele und das Spielen mit „großem“ Spielzeug haben gemeinsam, dass sie körperliche Anstrengung und größere Muskelaktivität erfordern.

Nimmt man diese beiden Kategorien zusammen, zeigt sich, dass die Jungen diese Verhaltensweisen deutlich häufiger zeigten als die Mädchen (33% gegenüber 21%).

Auch Fantasiespiele und verbal-visuelle Spiele weisen eine gemeinsame Dimension auf: Beide sind künstlerisch-gestaltend. In diesen Kategorien spielten die Mädchen viel häufiger (39% gegenüber 24%).

Die Ergebnisse zeigen, dass körperlich anstrengende Tätigkeiten eher männliche sind, künst­lerisch-fantasievolle eher weibliche. (x2-Test: Der Unterschied ist auf der Ebene .001 signifikant.)

Diese dichotomen Unterschiede spiegeln Verhaltensorientierungen wider, die je nach theoretischer Perspektive benannt werden können als mechanisch/künstlerisch, aktiv/passiv, realistisch/intuitiv, konkret/fantasievoll u.a.

b) Lerntheoretische Konzepte
Die maßgeblichen Theorien, die davon ausgehen, dass Jungen und Mädchen von Natur aus gleich veranlagt und geschlechtsabhängige Verhaltensunterschiede nur kulturell erworben sind, sind lerntheoretische Konzepte wie die sozial-kognitive Lerntheorie von Mischel (1968) und die kognitive Entwicklungstheorie von Kohlberg (1966).

Die sozialen Lerntheorien (Theorien der geschlechts­typischen Verstärkung) besagen, dass Kinder durch den Prozess der „sozia­len Verstärkung“ Rollenmodelle des eigenen Geschlechts bevorzugen und gleichzeitig die zugehörigen Verhaltensweisen nachahmen. Geschlechtstypisches Verhalten, so die Theorien, wird belohnt, gegengeschlechtliches Ver­halten bestraft. Die Kinder lernen so, diejenigen Verhaltensweisen auszuüben, die in ihrem jeweiligen Umfeld als für ihr Geschlecht angemessen gelten.

In der kognitiven Entwicklungstheorie von Kohlberg wird betont: Sobald Kinder wissen, dass sie ein Junge oder Mädchen sind, ahmen sie gleichgeschlechtliche Rollenmodelle nach, weil das, was dem eigenen Selbst entspricht, für sie einen höheren Wert hat als das Fremde. Jungen mit Wertschätzung für Männliches ahmen demnach männliche Rollenvorbilder nach, die Mädchen umgekehrt.

Doch keine dieser Theorien kann im Wesentlichen die beobachteten, geschlechtsabhängigen Verhaltensunterschiede der Kinder im Kibbuz erklären.

Die Tatsache, dass die Jungen große Spielzeuge und Bewegungsspiele bevorzugten, die Mädchen hingegen Fantasiespiele und verbal-visuelle Spiele, hatte keine maßgebliche Entsprechung im Verhalten der Erwachsenen. Anfang der 1950er Jahre arbeiteten immer noch Frauen in der Landwirtschaft, Männer auch in künstlerischen Bereichen. Zudem wurde keine der von den Kindern gezeigten Verhaltensweisen von den Erzieherinnen geschlechtsabhängig belohnt oder bestraft.

Ebensowenig kann die kognitive Entwicklungstheorie die Vorliebe der Jungen für Schubkarren erklären, denn die häufigste Person, die die Kinder täglich mit Schubkarren sahen, war nicht ein Mann, sondern die in der Nähe der Kinderhäuser arbeitende Gärtnerin.

c) Die Fantasiespiele
Als zweites analysierte Spiro die Inhalte der Fantasiespiele der Kinder hinsichtlich der Frage, ob es geschlechtsabhängige Präferenzen bei der Wahl der Fantasie-Rollenmodelle gab.

Jungen und Mädchen, 13 Monate bis 5 Jahre\
Im Fantasiespiel gespielte Rollenmodelle

Rollenmodell Jungen Mädchen
Tier 48% 23%
erwachsene Frau infürsorglicher Rolle 26% 47%
erwachsener Mann 16% 13%
Baby oder jüngeres Kind 8% 15%
unbelebtes Objekt 2% 2%

Hinweis: x2=13,24; d.f.=4; p=<.01.

Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, spielten die Mädchen am häufigsten eine Frau in mütterlich-fürsorglicher („beelternder“) Rolle: Mutter, Kinderbetreuerin, Erzieherin. Mit 47% machte dieses Rollenmodell fast die Hälfte der Fantasiespiele der Mädchen aus. Die am häufigsten von den Jungen gespielte Rolle, mit 48% ebenfalls fast die Hälfte, war die eines Tieres.
Selbst wenn man annehmen würde, dass die Vorliebe der Mädchen für weibliche Rollenmodelle (47% gegenüber 13%) doch auf subtile, vom Untersucher nicht wahrgenommene „soziale Verstärkung“ der Erzieherinnen zurückzuführen wäre, kann das nicht erklären, warum die Mädchen dann von allen im Kibbuz verfügbaren weiblichen Rollen ausschließlich die mütterlich-fürsorglichen wählten. Bei ihren täglichen Wegen durch den Kibbuz konnten die Mädchen Frauen in unterschiedlichsten Rollen beobachten. Und warum bevorzugten die Jungen dann nicht männliche Rollenmodelle, sondern wählten Tiere drei Mal so häufig wie männliche Erwachsene (48% gegenüber 16%)? Sollte das, nach den sozialen Lerntheorien, heißen, dass die Nachahmung von Tieren für Jungen im Kibbuz als kulturell angemessener galt als die Nachahmung des Verhaltens männlicher Erwachsener?
Wenn Kinder gemäß der Entwicklungstheo­rie Kohlbergs das Verhalten von Rollenmodellen des eigenen Geschlechts bevorzugen, weil sie den Dingen, die dem eigenen Selbst entsprechen, einen höheren Wert beimessen, wie lässt sich dann die Vorliebe der Jungen für Tiere als Rollenmodelle erklären? Die Jungen wählten Tiere nicht nur drei Mal so häufig wie erwachsene Männer, sondern entschieden sich fast ebenso häufig für Tiere (48%) wie für alle anderen Rollen zusammen. Zudem ahmten sie weniger diejenigen Tiere nach, die sie aus dem Kibbuz kannten, also Schafe, Kühe und Hühner, sondern Schlangen, Hunde, Wölfe oder Pferde.
Sollte das, entsprechend der kognitiven Entwicklungstheorie, bedeuten, dass Jungen nach Etab­lierung ihrer männlichen Identität Tiere vorziehen, weil die Werteordnung im Kibbuz Männlichkeit stärker mit dem Verhalten von Tieren als mit dem Verhalten von Männern assoziiert?

Und wie verhält es sich mit der Identifikation der Kinder mit Modellen des jeweils anderen Geschlechts? Wenn die Etablierung der Geschlechtsidentität gemäß der kognitiven Entwicklungstheorie zur Folge hat, dass das eigene Geschlecht und deren Verhaltensweisen nachgeahmt werden, warum haben sich die Jungen dann wesentlich häufiger für erwachsene Frauen als Rollenmodell entschieden als für erwachsene Männer (26% gegenüber 16%)? Und warum haben die Mädchen nur geringfügig seltener männliche Rollen gespielt als die Jungen (13% gegenüber 16%)?
Weder die sozialen Lerntheorien noch die kognitive Entwicklungstheorie können hier weiterhelfen.

d) Realverhalten
Die Beobachtungen des „Realverhaltens“ der Vorschulkinder, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, untermauerten die von Spiro vorgenommenen Schlussfolgerungen aus dem Spielverhalten. Auch sie wiesen auf zwar überlappende, aber dennoch geschlechtsabhängig unterschiedliche Verhaltensweisen in den Bereichen Fürsorglichkeit, Konfliktpotential und spontane Aggression hin.

6. Sozial konstruiert oder präkulturell?

Zu Beginn seiner Studie geht Spiro noch davon aus, dass Geschlechtsunterschiede im Wesentlichen erlernt seien. Doch seine Studie führt ihn zu einem anderen Schluss: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die von den Sabra-Kindern bei ihren Spielen gezeigten, geschlechtsabhängi­gen Unterschiede kulturell erworben sind. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre Wurzeln in panhumanen, zum Menschen und Menschlichen unabänderbar gehörenden, präkulturellen Dispositionen haben. Nur so lassen sich die umfangreichen Beobachtungen schlüssig erklären.

Geht man davon aus, dass geschlechtsabhängige Unterschiede ihre Wurzel in präkultur­ellen Bedürfnissen haben, bedeutet das: Mädchen und Jungen bevorzugen jeweils diejenigen Rollen, durch die ihre geschlechtsabhängig unterschiedlichen präkulturellen Bedürfnisse am besten befriedigt werden.

Die Mädchen spielten also deshalb mütterlich-fürsorgliche (elterliche) Rollen, weil sie so ihre eigenen auf Fürsorglichkeit ausgerichteten präkulturellen Bedürfnisse am besten stillen konnten. Da die Mädchen mütterliche Rollen fast ebenso oft spielten wie alle anderen Rollen zusammen, ist anzunehmen, dass das Bedürfnis nach einer mütterlich-fürsorglichen Rolle ihr stärk­stes Bedürfnis war.

Entsprechend könnte auch die Vorliebe der Sabra-Jungen für Tiere erklärt werden, allerdings ist das hier nur spekulativ möglich. Wie bereits gesagt, bevorzugten die Jungen nicht die Tiere, die es im Kibbuz gab, sondern Pferde, Hunde, Schlangen, Frösche und Wölfe, Tiere also, die entweder wild oder gefährlich oder beides waren. So liegt nahe, dass diese Tiere aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung gewählt wurden. Wie oft in Träumen oder im Rorschach-Test ist auch hier anzunehmen, dass diese Tiere die eigenen aggressiven Impulse der Jungen symbolisierten oder aber die aggressiven Impulse, die sie auf andere projizierten. Dafür spricht auch, dass mit zunehmendem Alter die Vorliebe der Jungen für Tiere abnahm; im Alter von fünf Jahren wurden sie durch männliche Rollenmodelle ersetzt.

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann gesagt werden: Im Verhalten der Kinder wurden einige zentrale Verhaltensmomente der Reformbewegung „vorweggenommen“.

Da das geschlechtsabhängige Verhalten der Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach in präkulturellen Bedürfnissen wurzelt, ist anzunehmen, dass auch die Gegenrevolution primär von präkulturellen Bedürfnissen motiviert war.

Die offene Frage ist daher weniger, warum die Sabras die Gegenrevolution durchsetzten, sondern mehr, warum ihre Mütter und Großmütter so rigoros gegen die menschliche Natur vorgingen.

Die langjährigen Erfahrungen aus der Kibbuzbewegung unterstützen die These, dass viele der Verhaltensunterschiede zwischen Mann und Frau, die universell in menschlichen Gemeinschaften vorkommen, weniger eine Folge kultureller als eine Folge präkultureller Determinanten ist. Obwohl die spezifischen Ausprägungen dieser Geschlechtsunterschiede, wie sie sich etwa im Familiensystem oder in beruflichen Rollen finden, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sind, weisen die Universalität sowie das grundsätzliche Muster doch darauf hin, dass geschlechts­typische Unterschiede zu einem großen Teil auf präkulturelle Dispositionen zurückzuführen sind.

7. Die präkulturellen Bedürfnisse

Welche Auswirkungen hat nun das Vorhandensein präkultureller Bedürfnisse für das Funktionieren von Gesellschaften mit ihren kulturabhängigen Gegebenheiten? Hier hat die Sozialisierung eine Schlüsselfunktion - allerdings nicht, wie die sozialen Lerntheorien annehmen, als Mittel zum Erwerb kulturell angemessener Bedürfnisse, sondern nur zur Aneignung kultureller Normen, innerhalb derer die Befriedigung dieser präkulturellen Bedürfnisse kulturell angemessen sichergestellt werden kann.

Dafür, dass die Jungen sich am zweithäufigsten für Frauen in fürsorglicher, elterlicher Rolle entschieden, können die kulturellen Theorien keine wirkliche Erklärung geben, ebenso nicht für die Tatsache, dass die Mädchen fast ebenso häufig wie die Jungen Männer als Rollenmodelle spielten. Für die präkulturellen Theorien stellen diese Beobachtungen jedoch kein Problem dar.

Präkulturelle Theorien gehen davon aus, dass sich Weibliches und Männliches überlappen. Männer und Frauen unterscheiden sich nicht durch kategorisch voneinander abweichende Bedürfnisse, sondern nur durch Unterschiede in der relativen Stärke dieser Bedürfnisse. Geschlechtstypische Unterschiede sind graduelle, keine grundsätzlichen Unterschiede. Es geht bei geschlechts­abhängigem Verhalten nicht um ein „entweder - oder“, sondern um ein „sowohl - als auch“, nur sind die Schwerpunkte geschlechtsabhängiger Verhaltensweisen bei Jungen und Mädchen verschieden.

Es überrascht daher nicht, dass nicht nur die Mädchen, sondern auch die Jungen in ihren Fantasiespielen das Bedürfnis hatten, eine fürsorglich-elterliche Rolle zu spielen.

8. Mutterschaft als präkulturelles Bedürfnis

Spiro schreibt, dass seine Studie in seinem eigenen Denken eine „kopernikanische Wende“ herbeigeführt habe. 1951 hatte er belegen wollen, dass eine neue Kultur einen neuen Menschen schaffen kann. Was er 1975 vorfand, war umgekehrt der Einfluss der im Wesentlichen gegebenen menschlichen Natur auf die Kultur. 1951 war er überzeugt, dass Unterschiede im Verhalten von Mann und Frau sozial konstruiert seien. 1975 hatten ihn seine langjährigen Beobachtungen überzeugt, dass wesentliche Geschlechtsunterschiede angeboren sind.

Als zentral für die Reformbewegung muss das Bedürfnis nach „Elterlichkeit“ gelten. Es war bei Mädchen und Jungen, Frauen und Männern im Kibbuz vorhanden, doch war es bei den Frauen stärker.

Die Gründer gingen davon aus, dass Mutterschaft eine sozial konstruierte Rolle sei. Sie versuchten, die „Elterlichkeit“, insbesondere die Rolle der Frau in der Familie und die Bedeutung der Mutterschaft, zu minimieren.

Doch in Wirklichkeit ist das Bedürfnis der Frau, Mutter zu sein, ein präkulturelles Bedürfnis. Nicht nur biologisch, sondern auch psychisch und kognitiv mütterlich sein zu wollen, hängt damit zusammen, dass die spezifische Leiblichkeit des Mädchens eine Entsprechung in seinem Denken und Fühlen hat. Die Gebärmutter ist der „innere Raum“, in dem neues Leben fürsorglich-behütet wachsen will. Das ist für das Mädchen nicht nur eine biologische Tatsache, sondern hat seine Entsprechung in seinem Fühlen, Denken und Wünschen.

Der Psychoanalytiker Eric Erikson war der Auffassung, dass unterschiedliches Erleben von Jungen und Mädchen im Grundplan ihres Körpers verankert ist. Er ging davon aus, dass das „eigene körperliche Selbst“ Verhalten, Erleben und Denken von Jungen und Mädchen unterschiedlich beeinflusst.15

Das Mädchen findet in seiner Leiblichkeit eine motivationale Disposition zu Schwangerschaft und Mutterschaft. Aufgrund des kreativen inneren Raums „zeichnet sich im Mädchen schon Vorfreude ab“ und die Spiele in der Kinderzeit sind eine Art „Probe für die spätere Mutterschaft... die undeutlich in der Ferne aufscheint.“[^16]

9. Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Anhänger des Kulturdeterminismus gehen davon aus, dass es keine präkulturellen Unterschiede gibt. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau seien sozial konstruiert und Gesellschaften könnten ebenso gut Geschlechtsrollengleichheit wie Geschlechtsrollenunterschiede erreichen. Vertreter der prä­kulturellen Theorien sind dagegen der Auffassung, dass Ersteres nicht nachhaltig gelingen kann, weil sich die geschlechtsabhängigen präkulturellen Bedürfnisse irgendwann wieder durchsetzen werden.

Natürlich können Gesellschaftssysteme, die Geschlechtsrollenunterschiede berücksichtigen, verknöchern und ausbeuterisch werden. Auch wenn Geschlechtsrollenunterschiede Folge von präkulturellen Bedürfnissen sind, bedeutet das nicht, dass alle Geschlechtsrollenunterschiede aus dispositionellen Anlagen folgen. Die Kibbuz­bewegung hat aber gezeigt: Wenn eine Gesellschaft geschlechtstypische Unterschiede nicht respektiert, so ist mit einer von der Basis aus­gehenden „radikalen Reform“ zu rechnen.

Natürlich gibt es immer auch Frauen, die eher männliche Interessen haben, und Männer umgekehrt. Wenn eine Gesellschaft rigide ist und diesen Menschen keine kreativen Entfaltungsmöglichkeiten gibt, können sich psychische Probleme ergeben. Niemand darf deshalb zu einem be­stimmten Geschlechtsrollenverhalten gezwungen werden.

Umgekehrt gilt ebenso: Wenn eine Gesellschaft Frauen überredet, dass Gleichheit nur erreicht werden kann, wenn Frauen wie Männer werden und berufliche Karrieren wie Männer anstreben, und dabei weibliche Begabungen und Aufgaben wie die Mutterschaft als minderwertig abtut, als etwas, das den Frauen nur von einem sexistischen Umfeld aufgezwungen worden sei, können die Folgen sehr destruktiv sein. Es kann dann sein, dass Frauen, die sich darauf einlassen, dadurch einer bedeutsamen Quelle der Freude und tiefer Selbsterfüllung beraubt werden.

Mehr noch: Die Studie von Ruth Moulton zeigt: Wenn eine Ideologie die Frau überreden will, dass Gleichberechtigung nur durch Aufhebung aller Geschlechtsrollenunterschiede möglich sei, die Frau aber andere motivationale Grundlagen bei sich erlebt, kann der daraus resultierende innere Konflikt zu Depressionen und anderen ernsthaften psychischen Problemen führen.[^17]

10. Ausblick

Einzelne Studien können keine Gesellschaftstheorie begründen. Aber sie können bestehen­de Auffassungen herausfordern und in Frage stellen. Die Kibbuzstudie kann das Vorhandensein prä­­kultureller Geschlechtsrollenunterschiede nicht beweisen. Aber sie fordert diejenigen heraus, die in der gegenwärtigen intellektuellen und politischen Diskussion präkulturelle Determinanten verneinen.

Für die Sabra-Frauen bedeutete Gleichheit nicht „austauschbar, unterschiedslos“, sondern „gleiche Wertschätzung bei Verschiedenheit.“ Heute heißt es: Verschieden ist ungleich und ungleich ist ungerecht. Die Kibbuzstudie stellt genau das in Frage.


  1. Spiro, M., Gender and Culture, ebd., S. XXIII. 

  2. Die Entwicklungen nach 1975 beschreibt Spiro in seinem Artikel: Spiro, M., Gender und Gesellschaft, in diesem Heft abgedruckt S. 11. 

  3. Spiro, M., Gender and Culture, New Brunswick, Transaction, 3. Aufl. 2003, S. 18. 

  4. Spiro, M., ebd., S. 20. 

  5. Shain, Rochelle, The Functional Nature of the Sexual Division of Labnor on an Israeli Kibbutz. Ph.D. disser­tation, University of California, 1974, S. 215. 

  6. Shain, R. ebd., S. 215. 

  7. Amirah Sartani in: Anonymous, The women in the Kibbutz. Givat Haviva: Department of Women Kibbuz Artzi of Hashomer Hatzair, 1974, S. 5. 

  8. Spiro, M., a.a.O., S. 53. 

  9. Spiro, M., a.a.O., S. 31. 

  10. Spiro, M., a.a.O., S. 41. 

  11. Spiro, M., a.a.O., S. 37. 

  12. Der Begriff der präkulturellen Bedürfnisse (precultural needs) ist ein Zentralbegriff bei Spiro. Er versteht darunter biologische (direkt genetisch bedingte), psy­chobiologische und psychosoziale Dispositionen: „Obwohl letztere beiden erworben sind, sind sie nicht weniger panhuman als die direkt genetisch vererbten, weil die Erfahrungen, durch die sie erworben werden, von invarianten Merkmalen des menschlichen Organismus oder von invarianten Merkmalen menschlicher Gesellschaft abhängen. Invariante Merkmale menschlicher Gesellschaften wie etwa die zweigeschlechtliche Familie, gemeinschaftliches Leben, Sozialisationssysteme usw. sind institutionelle Antworten auf anpassungsfähige Anforderungen des Menschen (etwa auf seine Bindungsbedürfnisse). Diese Anforderungen gehören zur biologisch-menschlichen Spezies..., sie sind also nicht weniger Teil der ‚menschlichen Natur‘ als die genetisch vererbten, ...sie sind invariante Merkmale menschlicher Persönlichkeit und panhumane Grundlage für menschliches Verhalten.“ Spiro, M., a.a.O., S. 101.
    [^14]: Wörtlich: parenting woman.
    [^15]: Erikson, E. H., Kindheit und Gesellschaft, Klett, Stuttgart, 1968, S. 95.
    [^16]: Bardwick, Judith, M., Psychology of Women, New York, Harper and Row, 1971, S. 15.
    [^17]: Moulton, 1977. 

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