Gleichgeschlechtliche Anziehung und mögliche Ursachen

Neuste Zwillingsstudie bestätigt: der genetische Einfluss ist gering

In diesem Artikel analysiert der renommierte neuseeländische Wissenschaftler Neil Whitehead, Ph.D., eine umfangreiche finnische Zwillingsstudie von 2008. Whitehead kommt dabei zu dem Schluss: Der genetische Einfluss ist sehr gering und wo er besteht, ist er nur ein indirekter Einfluss.

Die Ergebnisse der Studie bleiben wegweisend. Auch Zwillingsstudien, die nach 2008 (bis Februar 2016) durchgeführt wurden, können keinerlei neue oder andere Ergebnisse aufweisen.

Whitehead weist zudem hin auf eine Schlussfolgerung der finnischen Forscher: Aufgrund ihrer Studienergebnisse sind sie der Auffassung, dass die neuen Theorien über vorgeburtliche Hormonabweichungen als Ursache für homosexuelle Empfindungen nicht haltbar sind.

Ich interessiere mich besonders für Zwillingsstudien, denn durch sie kann man etwas über die möglichen Ursachen homosexueller Empfindungen erfahren. Die jüngste Studie (2008)1 ist drei Mal umfangreicher als jede bisherige Zwillingsstudie, sie hat sogar mehr Probanden als alle bisherigen Zwillingsstudien zusammen.

Erfahren wir etwas Neues durch die neue Studie? Kurz gesagt: nein. Sie bestätigt lediglich die Ergebnisse der methodisch genausten, in jüngster Zeit veröffentlichten Studien, wonach genetische Faktoren einen geringen Einfluss und nicht-genetische [sehr individuell erlebte Umwelt-]Faktoren einen großen Einfluss haben.

Der Titel der Studie lautet: „Potential for Homosexual Response is Prevalent and Genetic.“ Der Durchschnittsleser schließt daraus, dass Homosexualität bisweilen verborgen sein kann, aber häufig vorkommt und vorwiegend genetisch bedingt ist. Der Titel repräsentiert aber nicht die tatsächlichen Studienergebnisse.

Es ist die fünfte Zwillingsstudie zur Homosexualität mit systematisch gewonnenen Probanden, Männer und Frauen getrennt; bisher gab es zwei australische2 und zwei amerikanische Studien.3

Die neue Studie ist aus Finnland. Anhand der zentral gespeicherten Daten, wie das in den skandinavischen Ländern üblich ist, konnte eine große, wirklich zufällig ausgewählte Probandengruppe befragt werden: 6.001 weibliche und 3.152 männliche Zwillinge. Der Schwerpunkt der Studie lag auf dem Thema Aggressionen. Zum Thema Homosexualität beschränkte sich die Studie auf zwei Fragen: „Welchen homosexuellen Kontakt hatten Sie im letzten Jahr?“ (Frage 1). Und sinngemäß: „Wenn Sie ein sexuelles Angebot von einem Ihnen sympathischen Menschen des gleichen Geschlechts bekämen (und niemand würde das erfahren), würden Sie es annehmen?“ (Frage 2).

Ehe ich fortfahre, möchte ich auf eine kleine Schwierigkeit hinweisen. Leider verwenden alle Studien unterschiedliche Fragen, um den Grad einer homosexuellen Anziehung zu erfassen. Manche fragen nach der Gesamtzahl der Partner, in dieser Studie wurde nur nach der Häufigkeit der Kontakte im letzten Jahr gefragt. In anderen Studien wird gefragt, wie oft die Probanden homosexuelle Fantasien haben. In dieser Studie wurde gefragt, ob man sich (möglicherweise erstmalig) einen sexuellen Kontakt mit einem gleichgeschlechtlichen Partner vorstellen kann. Nach Aussage der Forscher erfasst man damit „mögliche Homosexualität“. Sie und ich würden daraus aber eher schließen, dass die Antwort nicht einfach homosexuelle Anziehung erfasst. Ganz offensichtlich erfasst sie auch Bisexualität. Das Netz der Frage ist so weit gespannt, dass sie auch ein Test dafür sein kann, ob jemand für Neues offen ist, ob er neugierig oder sensationslüstern ist – und weniger, was die tatsächliche sexuelle Orientierung der Person ist. In der Studie beantworteten deshalb auch 32,8 Prozent der Männer und 65,4 Prozent der Frauen die Frage nach den Fantasien mit „ja“, obwohl bei der Frage nach den tatsächlichen homosexuellen Kontakten sich nur 3,1 Prozent der Männer und 1,2 Prozent der Frauen als homosexuell aktiv bezeichneten.

Die Ergebnisse:

Frage 1: tatsächlicher Kontakt

Gene Geteilte Umwelt Nicht geteilte Umwelt
Männer 27% (2.7-38) 0% (0-18) 73% (62-85)
Frauen 16% (8.3-24) 0% (0-3.6) 84% (76-91)

Frage 2: Möglichkeit (in der Phantasie)

Gene Geteilte Umwelt Nicht geteilte Umwelt
Männer 37% (12-47) 0% (0-19) 63% (53-73)
Frauen 46% (32-52) 0% (0-11) 54% (48-60)

Tabelle 1. Relativer Einfluss der verschiedenen Faktoren. Fehlerbereiche in Klammern (Konfidenzniveau 95% ).

Aus der Tabelle ersieht man, dass der geschätzte genetische Einfluss nur wenige Zehntelprozente beträgt, während die Fehlerbereiche (in Klammern) sehr groß sind. Das bedeutet möglicherweise, dass der genetische Einfluss bei Null liegt. Zu exakt demselben Ergebnis kamen auch die früheren Studien. Außerdem wird deutlich, dass die Einflüsse der nicht miteinander geteilten Umwelt (d.h. die Umweltfaktoren, die für jeden Probanden individuell sind) stark überwiegen. Mit anderen Worten: Individuell erlebte Umweltfaktoren tragen am stärksten zur Entstehung homosexueller Empfindungen bei.

Ist ein genetischer Einfluss von 27% wichtig? Nein. Bei Zwillingsstudien gilt ein solcher Wert als schwach bis mäßig. Und jeder Einfluss ist nur indirekt, vergleichbar mit der angeborenen Neigung, sehr empfindlich auf die Meinung anderer Menschen zu reagieren. Aber wahrscheinlich ist selbst dieser schwache oder mäßige genetische Einfluss stark übertrieben.

Zwillingsforscher untersuchen in der Regel auch die Geschwister eineiiger Zwillinge, da sie von den Genen her wie zweieiige Zwillinge sind. Der Vergleich Geschwister und Zwilling ist sehr interessant, denn man erhält Aufschluss über die spezielle Zwillingsumgebung. Beispielsweise: Haben sich die Zwillinge gegenseitig bei der Entstehung homosexueller Empfindungen beeinflusst? Führt die genetische Ähnlichkeit zwischen eineiigen Zwillingen und ihren Geschwister zu einer schwachen Ausprägung homosexueller Anziehung auch bei den Geschwistern? In dieser Studie wurden die Geschwister untersucht, ebenso wie die ein- und zweieiigen Zwillinge. Die Ergebnisse waren nichtssagend, mit anderen Worten: Man fand keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Genen und Homosexualität. (Auch wenn die Forscher nicht genau schreiben, was dabei das Problem war, muss es doch erheblich gewesen sein. In der Wissenschaftssprache der Studie heißt es nur: „…attempts at fitting uni-variate and bi-variate extended-family scripts for categorical data were not successful…“) Normalerweise würde das ausreichen, um eine Studie zum Nachweis genetischer Einflüsse als gescheitert zu bezeichnen. Stattdessen, und das ist das Unglaubliche, lassen die Forscher die Geschwister für den Rest der Studie einfach weg, nehmen nur die Zwillinge und präsentieren dann einen errechneten genetischen Einfluss. Wenn man aber alle Daten berücksichtigt, zeigt sich überhaupt kein genetischer Einfluss.

Das ist methodisch ein ungewöhnliches Problem: Mit allgemeiner Zustimmung der wissenschaftlichen Welt und der Gutachter der Studie sagen die Forscher implizit: „Nun, es gibt hier Ungereimtheiten, für deren Klärung man noch einige Jahre brauchen wird. In der Zwischenzeit sagen wir, was bei Anwendung traditioneller Methoden die Ergebnisse wären, wenn wir diese [die Ungereimtheiten] ignorieren.“ Wissenschaftler mögen davon irgendwie profitieren, aber Laien schütteln den Kopf.

Wie üblicherweise bei diesen Studien, lag der Einfluss der Familie („miteinander geteilte Umwelt“) bei Null, wie aus der Tabelle ersichtlich ist. Ich behaupte jedoch, wie ich es auch in der Vergangenheit gesagt und geschrieben habe, dass sich viele Familienfaktoren in der nicht miteinander geteilten Umwelt verbergen. Diese Umweltfaktoren sind hochindividuell und für den Einzelnen bedeutend. So mag ein abwesender Vater für viele Personen ein wichtiger Einflussfaktor sein, für den einen Zwilling aber gerade nicht.

Nach meinen Berechnungen bestärken die Ergebnisse in der Tat die Schlussfolgerung, die ich auch aus früheren Studien gezogen habe: Wenn ein eineiiger männlicher oder weiblicher Zwilling homosexuelle Empfindungen hat, besteht nur eine etwa 10%ige Wahrscheinlichkeit, dass auch der andere Zwilling diese Gefühle hat. Mit anderen Worten: In Bezug auf homosexuelles Begehren unterscheiden sich eineiige Zwillinge in der Regel.

Trotz meiner Kritik an der Studie enthält sie einige wichtige Punkte: Die Probandenauswahl ist die repräsentativste bisher. Die Forscher sind der Auffassung, dass die Theorien über vorgeburtliche Hormone als Ursache für Homosexualität nicht haltbar sind, denn sonst müsste die Übereinstimmungsrate bei eineiigen Zwillingen [in Bezug auf den Faktor „geteilte Umwelt“] größer sein. Tatsächlich ist sie aber geringer [als die Faktoren „Gene“ und „nicht-geteilte Umwelt“], siehe Tabelle. Außerdem setzt die Studie den bereits etablierten Trend fort: Je aktueller und methodisch genauer eine Studie ist, desto geringer ist der gefundene genetische Einfluss auf die Entwicklung homosexueller Empfindungen. Einstweilen sollte der Leser davon ausgehen, dass genetische Einflüsse als Ursache für Homosexualität gering sind und andere, sehr individuell erlebte Faktoren einen weit größeren Einfluss haben.

Zum besseren Verständnis wurden wenige Ergänzungen in eckigen Klammern hinzugefügt.

Der Artikel wurde 2008 veröffentlicht unter dem Titel „Latest Twin Study Confirms Genetic Contribution to SSA is Minor.“ Siehe: http://www.freerepublic.com/focus/f-news/2258801/posts

In einer wesentlich umfangreicheren Analyse der neuen Zwillingsstudien bis zum Jahr 2011 kommt Neil Whitehead zu keinem anderen als dem hier vorgelegten Ergebnis. In der Korrespondenz (Februar 2016) teilt er mit, dass auch die Analyse der Zwillingsforschung nach 2011 keine anderen Ergebnisse ergibt.

Neil E. Whitehead, Neither Genes nor Choice: Same-Sex Attraction Is Mostly a unique Reaction to Environmental Factors. In: Journal of Human Sexuality, 3, 81-114, 2011.


  1. Santtila, P., Sandnabba, N.K., Harlaar, N., Varjonen, M., Alanko, K., & von der Pahlen, B. (2008). Potential for homosexual response is prevalent and genetic. Biological Psychology, 77 (1), 102-105. 

  2. Buhrich, N., Bailey, J.M., & Martin, N.G. (1991). Sexual orientation, sexual identity, and sex-dimorphic behaviors in male twins. Behavior Genetics, 21, 75-96.
    Bailey, J.M., Dunne, M.P., & Martin, N.G. (2000). Genetic and Environmental influences on sexual orientation and its correlates in an Australian twin sample. Journal of Personality and Social Psychology, 78, 524-536. 

  3. Hershberger, S.L. (1997). A twin registry study of male and female sexual orientation. Journal of Sex Research, 34, 212-222. Bearman, P.S., & Bruckner, H. (2002). Opposite-sex twins and adolescent same-sex attraction. American Journal of Sociology, 107, 1179-1205. 

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