Spielt vorgeburtliche Epigenetik eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung von Homosexualität?
Ein 2012 erschienener Artikel der Biologen W. R. Rice, U. Friberg und S. Gavrilets wurde in vielen Medien so wiedergegeben, als habe man jetzt einen Beweis dafür, dass Homosexualität durch vorgeburtlich wirksame epigenetische Faktoren verursacht und festgelegt sei.
Der neuseeländische Forscher Neil E. Whitehead hat den Artikel analysiert und schreibt:
„Meine Schlussfolgerung ist dieselbe wie die der Autoren [Rice et al.], nämlich dass es nur eine Theorie ist. Es gab schon zahllose Versuche – in mindestens 13 unterschiedlichen Forschungsgebieten –, um nachzuweisen, dass Homosexualität biologisch festgelegt sei. Alle sind sie gescheitert. Dem neuen Gebiet der Epigenetik wird es wahrscheinlich ebenso ergehen. Die Autoren haben gute Argumente dafür, die Epigenetik in die Mischung von Faktoren, die zur Entstehung von Homosexualität beitragen, einzubeziehen. Ich vermute aber, es wird sich herausstellen, dass sie nur einen geringfügigen Einfluss hat, zusammen mit vielen anderen geringen Einflüssen.“
Der Titel des Artikels, so Whitehead, sei irreführend, denn im Wesentlichen würden die Autoren über den Einfluss vorgeburtlicher Epigenetik auf die Entwicklung der weiblichen und männlichen Genitalien diskutieren. Auf der Basis dieser Überlegungen werde dann eine Theorie aufgestellt, wonach auch sexuelle Empfindungen durch vorgeburtliche Epigenetik beeinflusst würden. Die Vermutung, dass epigenetische Faktoren eine bestimmende Rolle in der Entwicklung der weiblichen und männlichen Genitalien spiele, sei aber unwahrscheinlich, Und dass diese Faktoren eine bestimmende Rolle in der Entstehung homosexueller Empfindungen spielten, sei noch unwahrscheinlicher. Vieles dabei sei Spekulation.
Grundsätzlich gibt es beim Menschen nicht nur vorgeburtlich wirksame epigenetische Faktoren, sondern ebenso nachgeburtlich wirksame. Soziale Einflüsse wie etwa menschliche Beziehungserfahrungen [auch erlebte Traumata] können das Epigenom eines Menschen beeinflussen. Die Autoren des Artikels, so Whitehead, würden auf die Möglichkeit nachgeburtlich wirksamer epigenetischer Einflüsse aber nicht eingehen, sondern nur über vorgeburtliche nachdenken.
„Der Artikel trägt eine Palette von Wissen zusammen und führt in eine mögliche Rolle [vorgeburtlich wirksamer] epigenetischer Faktoren ein. Doch es braucht erst solide Ergebnisse wissbegieriger Forscher, bevor man sagen kann, dass Epigenetik eine wichtige Rolle in der Entwicklung [der Genitalien] weiblich und männlich spielt, ganz zu schweigen von der Entwicklung einer sexuellen Orientierung. Aus meiner Sicht wird es diesem Artikel gehen wie zahlreichen zuvor, in denen man versucht hat, eine bedeutsame biologische Ursache für Homosexualität zu finden: Sie sind alle gescheitert.“
Die vollständige Analyse:
N.E. Whitehead, Ph.D., Is epigenetics a critical factor in homosexuality?
Der Artikel von Rice, W.R., Friberg, U., Gavrilets, S.: Homosexuality as a consequence of epigenetically canalized sexual development. Quarterly Review of Biology, 2012, 87, 4, 343-368.
Weiterführende Literatur:
Whitehead, N., Neither genes nor choice: Same-sex attraction is mostly a unique reaction to environmental factors. Journal of Human Sexuality, 2011, vol. 3, 81–114.
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