Die Erfindung des Opfers
- Die Vervielfachung des Opferbegriffs
- Aufmerksamkeit und Anteilnahme
- Vorfall aus dem sächsischen Mittweida
- Täter und eigentliche Täter
- Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
- Opferstatus
- Minderheiten fordern Betroffenheit
- Die größte Opferformation: die Frauenbewegung
- Opferanwältin: Alice Schwarzer
- Weibliche Namensgebung
- „Das Geschlechter-Paradox“
- Gender Mainstreaming
- Immer mehr Benachteiligte
- Audismus: Diskriminierung von Gehörlosen?
- Konkurrierende Opferclans
- Aufspaltung der Gesellschaft
Die Aufwertung des Opfers war ursprünglich einmal ein beachtlicher Fortschritt in der Zivilisationsgeschichte. Jahrtausendelang war der Mensch gezwungen, anderen durch Stärke zu imponieren; sein Bestreben ging stets dahin, dominant zu erscheinen, auch dominanter, als er sich tatsächlich fühlte. Was hätte er dabei gewinnen können, sich schwach und angreifbar zu machen? Der Schwache lädt dazu ein, ihn zu erniedrigen, er muss fürchten, dass man sein Feld verwüstet und ihn seiner Habe beraubt. Auch im Tierreich ist keine Gattung bekannt, die durch demonstrative Schwäche herausfordert. Es gibt wohl Arten, die sich möglichst unsichtbar machen, um ihren Feinden zu entgehen, aber das Vorzeigen von Wehrlosigkeit ist nur als Unterwerfungsgeste bekannt, um nach einem verlorenen Kampf Schonung zu erwirken, nicht zur Vorteilsgewinnung.
Die Vervielfachung des Opferbegriffs
Heute dagegen ist das Opfer in seinen vielen neuen Spielarten ein respektierter Vertreter unserer Zeit geworden. Es ist längst aus der geschützten Sphäre der Selbsthilfegruppen und Therapiekreise in die Alltagswelt hinausgetreten. Man begegnet ihm am Arbeitsplatz als Mobbingopfer oder Opfer sexistischer Beleidigung und Benachteiligung. In der Familie taucht es als Opfer der Doppelbelastung auf, als Leidtragende oder Leidtragender emotionaler Vernachlässigung und später dann, wenn alles auseinandergeflogen ist, als Scheidungsopfer. Es gibt das Stressopfer, das Opfer von Spiel- und Sexsucht, das Stalkingopfer und natürlich, ganz allgemein, das Opfer der Verhältnisse.
So hat sich der Opferbegriff mit seiner Vervielfachung erstaunlich erweitert, die Politik ist damit vor neue Aufgaben gestellt. Anders als das klassische Opfer von Krieg, Gewalt und Terror, das in einer traumatischen Erfahrung völlig gefangen ist und sich demzufolge von der Umwelt abschließt, sucht das Opfer in seiner neuen, modernen Form den Kontakt nach außen. Es begreift seine Geschichte als exemplarisch und damit verallgemeinerbar, folglich gibt es keinen Grund, sich der Opferrolle zu schämen oder sie zu bemänteln. Das Zeigen von Schwäche wird, im Gegenteil, als Stärke gewertet: Der Austausch über das eigene Erleben schafft Verbindung und Nähe und erlaubt anderen, sich anzuschließen und zugehörig zu fühlen; die subjektive Betroffenheit ist Ausweis sozialer Kompetenz und damit Voraussetzung gesellschaftlicher Akzeptanz.
Aufmerksamkeit und Anteilnahme
Der neuartige Opferstatus ist darum in mehrfacher Hinsicht von Gewinn. Er verspricht Entlastung, indem er die Verlagerung von Schuldanteilen ermöglicht und die eigene Verantwortung minimiert. Nichts ist ja an einer Niederlage deprimierender als die Einsicht, dass man sich sein Versagen selber zuzuschreiben hat. Welche Erleichterung, wenn es plötzlich eine Erklärung gibt, die Gründe außerhalb der eigenen Person findet, wenn es Vorurteilsstrukturen sind, die einen kleingehalten und dafür gesorgt haben, dass einem der Respekt versagt wird, den man erwarten darf, oder die Position, die einem nach eigener Einschätzung zustände!
Der Opferstatus sichert Aufmerksamkeit und Anteilnahme, das ist sein zweiter Vorteil. Opfer gelten grundsätzlich als bedauernswerte Mitmenschen, die unseren Beistand verdient haben. Die Kultur des Mitleids verlangt, dass wir uns an ihrem Schicksal nicht ergötzen, wie es frühere Generationen vielleicht getan hätten, sondern ihnen Anteilnahme und Achtung entgegenbringen. Die Anteilnahme besteht zunächst darin, geduldig zuzuhören, das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung. Jedes Opfer hat eine Geschichte, die es loswerden will, eine Kränkung, von der es nicht loskommt und die seinem Leben eine Wende gegeben hat. Umstehenden mag das auslösende Ereignis auf den ersten Blick banal vorkommen, sogar nichtig, es kann eine Zurückweisung sein, eine verletzende Bemerkung, manchmal eine unbedachte Geste, das Opfer erlebt die Situation gleichwohl als so gravierend, dass es nun entsprechende Beachtung und Hilfe erwartet.
Der „Knacks“, wie Roger Willemsen die Opfererfahrung in seinem gleichnamigen Erfolgsbuch nennt, drängt hinaus in die Öffentlichkeit, der „Knacks“ will besprochen und bearbeitet werden. Weil aber nicht jeder sofort zum Anwalt rennen mag, braucht es Foren sozialer Selbstverständigung. Früher war das in erster Linie die Selbsthilfegruppe, heute sind es in annähernd gleichem Maß das Partygespräch und die öffentlichen Therapiesitzungen der Massenmedien. Ein Großteil des Vormittagsprogramms der Privatsender besteht inzwischen aus einem moderierten Täter-Opfer-Ausgleich, bei dem betrogene Hausfrauen auf ihre untreuen Ehemänner stoßen oder das Mobbingopfer auf seine Quälgeister. Ein anderes, eher mittelschichtsgemäßes Vehikel sind die biographischen und semiprivaten Aufbereitungen des eigenen Schicksals in Buchform. Auf den Bestsellerlisten finden sich Bücher, die vom Leben mit einer schweren Krankheit berichten oder von den Ängsten von „Moppel-Ich“ und „Runzel-Ich“.
Das Bild des Opfers ist so mächtig, dass im Zweifel sogar die Evidenz der Tatsachen zurücktreten muss, um der Idee Platz zu machen. Wer in die Opferkategorie fällt, hat die professionellen Opfervertreter auf seiner Seite, egal, was andere dazu sagen. Je größer die Einwände, desto entschlossener das Engagement: Gerade der Widerstand, so scheinen die Opferanwälte zu meinen, beweist in solchen Fällen die Berechtigung des Anliegens.
Vorfall aus dem sächsischen Mittweida
Im vergangenen Jahr verlieh das „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ auf Vorschlag der ehemaligen SPD-Sprecherin und parlamentarischen Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast seinen „Ehrenpreis für Zivilcourage“ an eine Achtzehnjährige aus dem sächsischen Mittweida, weil ihr Neonazis mit dem Messer ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt hatten, nachdem sie sich schützend vor ein fünfjähriges Aussiedlerkind stellte. So lautete jedenfalls die Geschichte, die Frau Sonntag-Wolgast in der Zeitung gelesen hatte und von der sie auch nicht abzubringen war durch das Gutachten eines hinzugezogenen Gerichtsmediziners, demzufolge die junge Frau sich die Verletzungen höchstwahrscheinlich selber beigebracht hatte. Wenige Wochen nachdem die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Vortäuschung einer Straftat aufnahm, fuhr die Initiatorin des Berliner Bündnisses nach Mittweida und überreichte ihren Preis. Noch kurz vorher hatte sie der Bürgermeister der Stadt eindringlich beschworen, die Veranstaltung abzusagen, weil alle Hinweise gegen die Geschichte des Opfers sprächen.
Frau Sonntag-Wolgast sagte zur Begründung, es gehe darum, „Zivilcourage zu loben, und nicht um die Frage, ob das Mädchen sich diese Verletzung, von der immer wieder die Rede ist, selber beigebracht“ habe. Außerdem habe sie sich mit dem Mädchen vorher zu einem Gespräch getroffen, sie erscheine ihr „glaubwürdig“. Die grüne Bundestagsabgeordnete Monika Lazar, Sprecherin ihrer Partei „für Strategien gegen Rechtsextremismus“ und gemeinsam mit Sonntag-Wolgast Laudatorin, erklärte drei Monate später, als die Staatsanwaltschaft wegen der Beweislast offiziell Anklage erhoben hatte: „Im Prinzip stehen wir zu der Entscheidung. Wir haben uns gesagt, das ist Zivilcourage, wie wir sie uns vorstellen.“ Und sie fügte hinzu: „Es hätte gutgehen können.“
Im November erkannte das Amtsgericht Hainichen, der ganze Vorfall habe sich nie zugetragen, und verurteilte die Preisträgerin zu 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Das „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ hat den Vorfall auf seine Weise aufgearbeitet; wer im Suchfeld der Webseite „Ehrenpreis für Zivilcourage“ den Namen der Ausgezeichneten eingibt, bekommt zur Antwort: „Es konnten keine Inhalte gefunden werden.“ Dafür gibt es viele Hinweise, wie man „unter dem Regenbogendach“ des Bündnis für Demokratie und Toleranz – auch ohne Selbstverstümmelung – aktiv werden könne, um das „zivilgesellschaftliche Engagement für Demokratie und Toleranz in unserem Land sichtbar zu machen“.
Täter und eigentliche Täter
Das Opfer braucht den Täter. Ohne Herr kein Knecht, ohne Repression keine Unterdrückung. Der Täter verkörpert alles, was als inakzeptabel erscheint, er ist der moderne Paria. Zwei Gruppen lassen sich dabei grob unterscheiden: Es gibt den Täter im kriminologischen Sinne, also den Delinquenten, der in Konflikt mit dem Gesetz geraten ist. Dieser Tätertypus, früher zum Leben als Außenseiter verurteilt, darf heute Schonung erwarten. Weil seine Gesetzesüberschreitung inzwischen als gesellschaftlich bedingt verstanden wird, scheidet er als richtiger Täter aus; er ist an den Umständen seines Lebens gescheitert, sonst wäre er ja nicht delinquent geworden. Das entbindet ihn der Verantwortung für das eigene Tun und weist der Gesellschaft die Schuld zu – er ist, so gesehen, selber ein Opfer. Daneben gibt es den Täter in einem umfassenderen, soziologischen Verständnis. Seine Vergehen sind schwerer zu fassen, weil sie sich der Beschreibung durch Strafnormen weitgehend entziehen, das macht sie aber erst recht verachtenswert. Dieser Täter verstößt gegen das demokratische Gebot von Toleranz und Entgegenkommen, er hegt Vorurteile, die als längst überwunden galten, und verhält sich diskriminierend, wo Offenheit und Einfühlungsvermögen gefordert, ja eigentlich selbstverständlich wären. So verletzt er die Gefühle anderer, beschädigt ihre Selbstachtung und fügt ihnen seelischen Schaden zu, was weit schwerer wiegt als ein schlichter Handtaschenraub oder ein Einbruch zur Mittagszeit, wenn alle aus dem Haus sind.
Dies ist der Tätertypus, der auf Nachsicht nicht hoffen darf. Erklärungen, die sein Vergehen in milderem Licht erscheinen lassen, gar Mitleid erregen könnten, gibt es nicht. Er ist der Täter in seiner reinen Form, der öffentliche Gegner, den es namhaft zu machen gilt – als Frauenfeind, Ausländerfeind oder Schwulenfeind. Nicht immer ist er gleich zu erkennen. Er kommt mitunter auf leisen Sohlen daher, verkleidet in das Gewand eines Kollegen oder vermeintlichen Freundes. Er verrät sich durch die Witze, die er erzählt, schlüpfrige Bemerkungen, die seinen wahren Geist offenbaren. Manchmal ist es nur ein Wort, das er fallen lässt und das ihn entlarvt. Er kann aus sich herausgehen, wo er sich sicher fühlt, er braucht ein Umfeld, das ihn trägt. Deshalb muss man seinen Spielraum einengen, ihn wie jeden Triebtäter zwingen, seine Neigungen zu kontrollieren und in Schach zu halten.
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Die Europäische Kommission hat jetzt in Form des Antidiskriminierungsrechts eine ganze neue Gesetzgebung angestoßen, die den Tatbestand gesellschaftlich unerwünschter Einstellungen und Vorurteile in Paragraphen fasst und unter Strafe stellt. In Deutschland gilt das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“, das die Richtlinien aus Brüssel auf die hiesigen Verhältnisse umsetzt, seit August 2006; es ist eines der ersten Gesetze, auf das sich die Große Koalition verständigt hat und das jede Form „der Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ sucht, wie es gleich im ersten Absatz heißt. Nicht die Verweigerung eines Mietvertrags ist danach ahndungsfähig (das wäre, selbst wenn es vielen wünschenswert erscheinen mag, praktisch schwer zu bewerkstelligen) – verboten aber ist die Verweigerung aus den falschen Motiven. Wer eine türkische Familie nicht will, weil sie ihm zu laut oder zu wenig solvent erscheint, darf auch weiterhin jemand ihm genehmeren wählen. Wer den Bewerber allerdings ablehnt, weil er diese Eigenschaften mit der türkischen Herkunft in Zusammenhang bringt, sie also ethnisch zuordnet, hat sich gesetzwidrig verhalten. Das Gleiche gilt für eine Einstellung oder Beförderung: Jeder Personalchef kann Nasenring oder Netzhemd beim Vorstellungsgespräch für einen Abteilungsleiterposten unangebracht finden, er muss nur über die sexuelle Orientierung hinwegsehen, die damit gegebenenfalls zum Ausdruck gebracht wird.
Das ist eine Neuerung, deren Ausmaß von der Mehrheit der Bürger noch nicht richtig verstanden wird und auf die sie vorbereitet werden muss. Es geht nicht um Schimpfworte oder abträgliche Bemerkungen, dafür gibt es bislang schon ausreichend Handhabe in Form von Beleidigungsparagraphen: Es sind Gedankenverbrechen, die nun erstmals juristisch verfolgt werden können und für die die Bevölkerung noch nicht ausreichend sensibilisiert ist. Ein erster Schritt sind die Belehrungen über die veränderte Rechtslage, die in allen Unternehmen ausgeteilt werden und in denen die Belegschaft über sozial unerwünschtes Verhalten aufgeklärt wird. Viele Unternehmen bieten Seminare zum Gleichstellungsgesetz an und Fortbildungen für die Führungskräfte.
Wir stehen erst am Anfang einer aufregenden Entwicklung. Schon gibt es Überlegungen, den Katalog der Diskriminierungstatbestände auszuweiten und den Kreis der Opfer breiter zu fassen. Warum bei Geschlecht, Rasse oder Herkunft stehen bleiben und nicht politische Gesinnung hinzunehmen? Oder neben Behinderungen auch Suchterkrankungen? Es ist schwer einzusehen, warum jemand Nachteile erleiden soll, weil er alkoholabhängig ist oder eine verhängnisvolle Liebe zu Nikotin entwickelt hat. Vielleicht werden wir eines nicht allzu fernen Tages erleben, wie jemand vor Gericht zieht, weil er die ständige Diskriminierung von Rauchern am Arbeitsplatz nicht mehr ertragen mag. Als im Frühjahr 2005 der Bundestag zur Expertenanhörung zum Gleichstellungsgesetz bat, brachte der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes Bedenken gegen die Aufnahme des Alters als Kategorie vor. Er begründete seinen Einwand damit, dass sich gerade jüngere Arbeitnehmer auf diesen Passus berufen könnten, weil sie für die gleiche Arbeit in Deutschland meist weniger verdienen als Ältere, die schon lange im Unternehmen sind, und bei Entlassungen immer zu den ersten gehören, denen die Tür gewiesen wird. Der Gewerkschaftsvertreter wurde dahingehend beruhigt, dass es so weit schon nicht kommen werde, aber niemand weiß tatsächlich zu sagen, wie eine Klage ausgehen würde. Die „Frankfurter Allgemeine“ berichtete im Sommer 2006 von einem Arbeitgeber, der einen kostenlosen Werkskindergarten für seine Mitarbeiter einrichten wollte, worauf ein homosexuelles und daher kinderloses Betriebsratsmitglied Ausgleichsansprüche anmeldete, mit der durchaus zutreffenden Begründung, dass er ja von der sozialen Wohltat nichts habe, somit also ein Fall von „Entgeltdiskriminierung“ vorliege. Der Arbeitgeber verzichtete lieber auf den familienfreundlichen Plan, als sich in die Gleichstellungsdiskussion zu verstricken.
Opferstatus
Um Opfer zu werden, reicht es nicht, dass man sich geschädigt fühlt. Was nützt es, sich im Unrecht zu sehen, wenn niemand anders das genauso sieht? Erst die Anerkennung durch die Umwelt begründet den Opferstatus und verschafft einem die Vorteile, die damit möglicherweise einhergehen.
Der einfachste Weg zu Anerkennung ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der Zusammenschluss mit Gleichgesinnten. Die Größe der Opfergemeinschaft ist dabei nicht entscheidend, wichtiger ist eine starke Identität, die durchsetzungsstark macht und einem das nötige Auftreten verschafft. Sie kann in einer gemeinsamen Opfergeschichte begründet sein, einer langen Gruppenerfahrung von Diskriminierung und Ausgrenzung wie bei den Aids-Kranken, den Vertriebenen oder den Sadomasochisten, einer bis heute ausgegrenzten Minderheit, der man, wie der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, nur wünschen kann, dass „Skepsis und Vorbehalte einem freundlichen Miteinander weichen“, wie er anlässlich eines großen, europaweiten SM-Treffens erklärte. Manchmal reicht auch eine soziale Erfahrung, die verbindet und die Außenwelt so beeindruckt, dass sie Notiz nimmt: Das Los der jungen Mutter, die sich von ihrem Freund losgesagt hat, ist dafür ein Beispiel, das Schicksal jugendlicher Hausbesetzer und immer wieder das Leben mit Hartz IV.
Minderheiten fordern Betroffenheit
In aller Regel ist das Opfer in der Minderheit, gehört es zu den Wenigen, nicht zu den Vielen, das ist entscheidend. Schon das Wort Minderheit fordert Betroffenheit. Es ist ein Signalbegriff, der Schutzinstinkte auslöst und an ein latentes Unbehagen der Mehrheitsgesellschaft appelliert, an eine Selbstunsicherheit des Souveräns, die allen westlichen Demokratien eigen ist, zu deren Wesen ja ein geschärftes Bewusstsein für die Probleme ungehinderter Machtausübung gehört. Mehrheiten sind so betrachtet immer auch verdächtig, weil sie in Gefahr sind, repressiv zu wirken. Jede Mehrheitsentscheidung ist eine Entscheidung gegen die Stimmen der zahlenmäßig Unterlegenen und damit tendenziell rechtfertigungsbedürftig. Minderheiten gelten im Umkehrschluss als potenziell gefährdet und sind damit moralisch privilegiert. Was ihnen an numerischer Größe fehlt, machen manche von ihnen durch Selbstvertrauen und Umtriebigkeit wett. Für den, der daraus Vorteile gewinnen will, kommt es jetzt darauf an, auch zur richtigen Kleingruppe zu gehören.
Nicht jede Minderheiten-Zugehörigkeit qualifiziert automatisch für den Opferstatus. Erben, Jäger und die deutsche Hausfrau zum Beispiel schaffen es nie auf die Liste bedrohter Arten. Sie stehen zwar zuverlässig am Pranger, als Subjekte, deren reine Existenz schon irgendwie gesellschaftsschädlich ist; sie hätten also reichlich Grund, sich diskriminiert zu fühlen, doch ihre Opferlobby hat versagt: kein Minderheitenbonus. Auch Investmentbanker und Manager haben spätestens seit dem vergangenen Jahr einen schweren Stand, daran können gelegentliche Interventionen Wohlmeinender nichts ändern. Als der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff im vergangenen November vor einer generellen Verurteilung warnte, musste er sich von den Grünen in Gestalt der Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer die „einseitige Parteinahme für die Manager“ vorhalten lassen: Dass sich Wulff „pauschal vor einen Berufsstand“ stelle, „aus dessen Reihen in den letzten Monaten nachweislich fahrlässig und sogar kriminell gehandelt wurde“, sei auf keinen Fall akzeptabel, befand die Dame scharf – woraus man ersehen kann, dass es sogar Minderheiten gibt, für die ausdrücklich ein Diskriminierungsgebot besteht. Umgekehrt sind Ausländer immer dabei, wenn es um gefährdete Gruppen geht, die der Fürsorge bedürfen, dazu natürlich die Alten, auch wenn sie rein demographisch gefährlich nahe an die Grenze kommen, ab der man nicht mehr von einer Minderheit reden kann.
Die größte Opferformation: die Frauenbewegung
Die eigentliche Herausforderung am Opferstatus ist, ihn sich zu erhalten, wenn man ihn einmal gewonnen hat. Seiner Natur nach ist er temporär und alle Bemühungen, die er auslöst, sind auf seine Überwindung gerichtet. Das proklamierte Ziel ist ja nicht, sich als Opfer in der Gesellschaft einzurichten, sondern sich zu emanzipieren und zur Mehrheit aufzuschließen; mit der Normalität geht aber unweigerlich der Verlust der Sonderrolle einher, die einen heraushebt und besonders macht, auch besonders bedauernswert. Die Kunst besteht darin, sich zu befreien und trotzdem Opfer zu bleiben, als Benachteiligte oder Benachteiligter mithin die Benachteiligung zu beenden, ohne den Kreis der Benachteiligten zu verlassen. Zugegeben, das hört sich nach einem Unterfangen an, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, aber es ist erreichbar, wie der Blick auf die größte Opferformation unserer Zeit, die Frauenbewegung, zeigt. Man muss nur den richtigen Dreh raus haben.
Wer verstehen will, wie Opferpolitik im Idealfall funktioniert, sollte sich deshalb die Geschichte des Feminismus ansehen. Die Emanzipation der Frauen ist ein spektakulärer Triumph, sie sind mit Abstand die erfolgreichste Opfergruppe der Welt.
Gut 50 Jahre sind jetzt vergangen, seit in Deutschland das „Letzendscheidrecht“ des Ehemannes fiel, das ihm „in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten“ die Autorität zuwies: „Er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung“, hieß es bis 1958 in Paragraph 1354 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Das ist noch nicht so lang her, aber es wirkt wie eine Ewigkeit. Auch das allgemeine, gleiche Wahlrecht für Frauen ist nicht so alt, wie man glauben sollte: In Großbritannien, dem Mutterland der Demokratie, gibt es dies erst seit 1928, in Frankreich seit 1945, in Italien seit 1946, da war Deutschland, das es 1918 einführte, sogar einmal deutlich fortschrittlicher. In der Schweiz waren Frauen noch bis 1971 von Wahlgängen ausgeschlossen; das Fürstentum Liechtenstein, in Europa vor allem als Steuerparadies bekannt, führte das Frauenstimmrecht zum 1. Juli 1984 ein – 19 Jahre nachdem sogar schon in Afghanistan der weibliche Teil der Bevölkerung erstmals wählen durfte.
Was für eine Reise! Die Frauen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen; sie stellen heute 63 Prozent der Studienanfänger in Medizin, in den Rechtswissenschaften sind es 57 Prozent. Sie haben das Bildungssystem weitgehend im Griff, wie der Blick in ein beliebiges Lehrerzimmer zeigt, und weite Teile der Kultur. Selbst in den Streitkräften steigt der Frauenanteil beständig, seit ihnen der Dienst an der Waffe erlaubt ist und damit das letzte Relikt der gesetzlichen Ungleichbehandlung, das die Zeitläufe bis ins Jahr 2000 überlebt hatte, geschleift wurde. Auch das Land wird seit über vier Jahren von einer Frau regiert, und zwei Drittel der Bevölkerung finden, dass sie es gut macht. Im ersten Kabinett Merkel saßen neun Männer und sieben Frauen, womit sich das Geschlechterverhältnis weitgehend angeglichen hatte. Das höchste Amt im Staat ist dieses Jahr zum sechsten Mal von einer Frau angestrebt worden; der Wahlausgang hing in jedem Fall weniger am Geschlecht als an den politischen Mehrheitsverhältnissen.
Der Kampf um die Gleichberechtigung, in der Politik, am Arbeitsplatz und in der Familie, hat viele Fronten und Helden. Er reicht zurück zu den Suffragetten am Übergang zum 20. Jahrhundert, die für die rechtliche Gleichstellung stritten. Sie sind die Mütter der Bewegung, mutige Einzelkämpferinnen zumeist, von den Zeitgenossen verspottet und verhöhnt, aber am Ende siegreich, weil ihre Argumente treffend waren. Doch ihr Einsatz war nur das Vorgefecht zum eigentlichen Geschlechterkrieg. Der erste Schuss, dessen Echo eine Revolution im Geschlechterverhältnis auslösen sollte, fällt, nachdem die juristische Emanzipation weitgehend abgeschlossen ist. Er geht nicht im Hörsaal los oder auf den Barrikaden des parlamentarischen Betriebs, sondern in der Idylle des Vororts, dort, wo die Durchschnittsfamilie lebt. Und der Grund dafür ist nicht revolutionäres Bewusstsein oder besonderes politisches Engagement, sondern Langeweile und Frustration über das ereignislose Mittelschichts-Leben.
Am Anfang der modernen Frauenbewegung steht der Vorschlag einer sechsunddreißigjährigen Hausfrau und dreifachen Mutter aus Illinois, für die amerikanische Frauenzeitschrift „Mc Call’s“ einen Artikel über ein Wiedersehenstreffen ihrer Abschlussklasse vom Smith College zu verfassen, einer besonders prestigeträchtigen Mädchenschule an der Ostküste. Die Gelegenheitsautorin Betty Friedan, die am Smith einen Abschluss in Psychologie erworben hat und sonst für „Cosmopolitan“ schreibt, bereitet dazu 1957 mit zwei Freunden einen detaillierten Fragebogen vor. „Wie hast du dich verändert?“, will sie von ihren Mitstudentinnen wissen, „was sind die größten Enttäuschungen in deinem Leben heute?“, „was würdest du im Rückblick gerne anders machen?“ Die 200 Antworten, die Friedan auswertet, offenbaren, was sie das „Vorort-Syndrom“ nennt: Die meisten sind schrecklich unglücklich mit ihrer Rolle als Hausfrau und wünschen sich, sie hätten mehr aus ihrer Ausbildung gemacht.
„Mc Call’s“ ist enttäuscht über das Stück, die Redaktion hatte sich etwas Fröhliches erwartet. Das „Ladie’s Home Journal“, dem Friedan den Artikel darauf anbietet, schreibt den Artikel so gründlich um, dass sie ihn lieber zurückzieht. Die Frauenzeitschrift „Redbook“ lehnt mit der Begründung ab: „Nur absolut neurotische Hausfrauen können sich mit so etwas identifizieren.“ Friedan gibt es auf, ihre Geschichte herumzureichen, und verarbeitet ihre Beobachtungen zu einem Buch. Sechs Jahre später liegt „Der Weiblichkeitswahn“ in den Buchhandlungen – und die Frauenbewegung ist geboren. Das Buch ist vom Start weg ein Riesenerfolg, drei Millionen Exemplare verkauft Friedan, weil viele Frauen sich in dem, was sie beschreibt, wiedererkennen.
Friedans Text gilt nicht der Abrechnung mit den Männern, damit beginnen erst die Nachfolgerinnen. Er ist eher eine Ermutigung, sich nicht zufriedenzugeben mit dem Leben als Hausfrau und zu entdecken, was noch in einem steckt. Zeit genug ist ja da: Die Hausarbeiten, die Frauen noch bis vor kurzem in Trab hielten, erledigen nun immer ausgefeiltere technische Geräte, die Einzug in jeden Winkel der Mittelschichtshaushalte halten. Der Feminismus ist auch eine Folge des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs, der alle westlichen Gesellschaften in den fünfziger Jahren erfasst und zu einer bis dahin unbekannten Ausweitung des Massenwohlstands führt, jedenfalls wäre er ohne diese ökonomischen Voraussetzungen kaum denkbar.
Opferanwältin: Alice Schwarzer
In Deutschland fällt die Aufgabe, das Land wachzurütteln, einer unerschrockenen Neunundzwanzigjährigen mit halblangen, blonden Haaren zu, die in Paris studiert hat und von dort eine unerhörte Botschaft mitbringt: Den Frauen gehöre nicht nur die Hälfte des Himmels, sondern auch die Hälfte der Welt. Alice Schwarzer, Psychologin und freie Journalistin wie Friedan, begnügt sich, anders als die Amerikanerin, nicht mit der Ermutigung ihrer Geschlechtsgenossinnen. Sie will die Verhältnisse ändern, die nach ihrer Meinung die Frauen klein halten, und deshalb formuliert sie ihre Botschaft als Angriff: gegen die Männer, die ihre Macht nicht teilen wollen, gegen die Herrschaftsstrukturen, die sie Patriarchat nennt. Schwarzer traut sich was. Sie ist von einer erstaunlichen Angriffslust, dazu fleißig, belesen, eloquent, eine Naturgewalt, die in kürzester Zeit quasi im Alleingang den Feminismus in Deutschland etabliert. Rudolf Augstein macht ihr ein Angebot, als Reporterin zum „Spiegel“ zu kommen, aber kann sich am Ende nicht gegen die Redaktion durchsetzen, die dagegen votiert. Die „Spiegel“-Leute verhindern so mutmaßlich die erste Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins. Das Zeug dazu jedenfalls hätte sie gehabt, wie sie dann bei „Emma“ beweist, der ersten feministischen Frauenzeitschrift, die sie 1977 mit den Erlösen aus ihren Büchern und der Hilfe von Freunden gründet und seit nunmehr 32 Jahren mit großem Einsatz am Leben hält.
Von Anfang an fährt Schwarzer schweres Geschütz auf: Die Männergesellschaft ist auf Ausbeutung der Frau ausgerichtet, als billige Arbeitskraft und Sexlieferantin zu Hause. Und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind Machtbeziehungen, aus der die Frau am besten entkommt, indem sie sich anderen Frauen zuwendet. Das ist die heimliche Pointe in ihrem Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“, einer Sammlung von 17 Kurzporträts „ganz normaler Frauen“, welches sie 1975 vorlegt und das ihr wüste Beschimpfungen einträgt. „Frustrierte Tucke“ („Süddeutsche Zeitung“) und „Männerhasserin“ („Bild“) gehören noch zu den freundlicheren.
Schwarzer weiß, wie man Punkte setzt und sich als Opferanwältin eindrucksvoll präsentiert. Sie ist Spartakus und Amazone zugleich, eine Kombination, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Als sie im Februar 1975 in einem WDR-Studio auf die Autorin Esther Vilar trifft, die gerade mit ihrem Buch „Der dressierte Mann“ auf Tour ist, einer Art antifeministischem Gegenmanifest, wirft sie der Konkurrentin „Verrat“ an der Sache vor und bezeichnet sie, einmal in Fahrt, gleich noch als „Sexistin“ und „Faschistin“. „Wenn Sie in Ihrem Buch das Wort Frau durch Jude oder Neger ersetzen“, blafft sie die Schriftstellerin an, „dann wäre Ihre Schrift reif für den ‚Stürmer’.“ Der Fernsehauftritt macht Schwarzer über Nacht berühmt – und gibt den Ton vor, mit dem fortan das Frauenschicksal verhandelt wird. Die Neger, das lässt sich danach sagen, hatten es noch vergleichsweise gut: Sie mussten immerhin nicht regelmäßig sexuelle Frondienste leisten.
Sicher, die Faktenlage ist von Anfang an etwas dünn, jedenfalls für diese Spitzenstellung in der Opferhierarchie. Nach der Sterbetafel von 1974 liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen in Deutschland bei 74,5 Jahren, sie leben damit sechs Jahre länger als ihre Unterdrücker, nicht gerade ein Hinweis auf ein entbehrungsreiches Sklavendasein. Auch sind Frauen streng genommen keine Minderheit, in allen westlichen Gesellschaften stellen sie mit etwa 51,5 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung. Aber darum geht es jetzt nicht: Schwarzers Anwürfe spekulieren auf eine allgemeine Unzufriedenheit über die Aufgabenverteilung im Geschlechterverhältnis. Als Erste artikuliert sie damit eine mächtige Unterströmung des Zeitgeistes, die sich über die zurückliegenden Jahre gebildet hat, und wird deshalb auch von Frauen gelesen, die morgens brav die Pausenbrote für die Kinder schmieren und dann das Geschirr in die Spülmaschine räumen.
Weibliche Namensgebung
Die Vorkämpferinnen der Frauensache haben Erstaunliches geleistet. Keine soziale Bewegung hat vergleichbare gesellschaftliche Veränderungen bewirkt, es gäbe also allen Grund, stolz zu sein auf das Erreichte. Die Emanzipation hat alle Lebensbereiche erfasst, selbst das Wetter. Auf Initiative von Frauenverbänden tragen Sturmtiefs seit 1998 in ungeraden Jahren männliche Namen und in geraden weibliche, um einer Diskriminierung vorzubeugen. In der Hauptstadt gibt es jetzt einen Senatsbeschluss, dass neue Straßen nur noch nach Frauen benannt werden dürfen, damit die Gleichberechtigung irgendwann auch im Stadtbild erreicht ist. Wahrscheinlich existiert längst auch eine Verordnung, die das Namensrecht bei neuentdeckten Galaxien und fernen Sternen im Sinne der Gleichstellung regelt oder die Vergabe von Autonamen, streng sortiert nach Abgaswerten.
„Das Geschlechter-Paradox“
Doch seltsam, irgendetwas scheint schiefgelaufen zu sein mit der Emanzipation. Frauen stellten 2007, dem jüngsten statistisch erfassten Jahr, 50,6 Prozent der Hochschulabgänger und 55 Prozent der Abiturienten – aber das reicht nicht. In jeder Regierungsstelle, jeder Behörde und jedem größeren Unternehmen kümmern sich Gleichstellungsstellen hingebungsvoll um die Gleichstellung; es gibt „Girl’s days“ genannte Zukunftstage, es gibt Frauenquoten, „forschungsorientierte Gleichstellungsstandards“, auf die sich alle universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen verpflichtet haben, und jede Menge Gesetze und Leitlinien, die eine Diskriminierung in der Alltags- und Berufswelt auszuschließen suchen. Das Bundesbildungsministerium hat allein in diesem Jahr seine Ausgaben für „Strategien zur Durchsetzung von Chancengerechtigkeit von Frauen“ auf über 20 Millionen Euro ausgeweitet, das Familienministerium konnte seinen Etat für die Gleichstellungspolitik auf 13,3 Millionen Euro ausbauen, im nächsten Jahr gibt es 14,5 Millionen; im Internet lässt sich ein „Gender Index“ herunterladen, auf dem der Stand der Gleichberechtigung für jeden Landkreis in Deutschland vermessen ist (Bitterfeld, Leipzig Land und Starnberg sind danach die diskriminierungsfreiesten Gegenden der Republik) – doch immer noch müssen sich die Frauen als Opfer der Gesellschaft fühlen.
Sicher, Frauen verdienen im Schnitt nach wie vor weniger als Männer und sie besetzen weniger Führungspositionen. Aber dies hat oft nicht mehr mit einer gesellschaftsspezifischen Benachteiligung zu tun, sondern eher mit vorherigen Karriereentscheidungen. Weil viele Frauen neben der Arbeit noch andere Interessen verfolgen, ein Leben mit Kindern und Familie zum Beispiel, sind ihre Berufsbiographien zwangsläufig unregelmäßiger als die ihrer männlichen Kollegen, die nur das eigene Fortkommen im Kopf haben. Etwa 60 Prozent der berufstätigen Frauen lehnen nach Schätzung der kanadischen Psychologin Susan Pinker („Das Geschlechter-Paradox“) Beförderungen ab oder nehmen einen schlechter bezahlten Job an, um beruflich zufriedener und zeitlich flexibler zu sein. Das hat Folgen: Auszeiten und Tempowechsel sind auf dem Weg nach oben hinderlich und führen zumindest mittelfristig zu Gehaltseinbußen, auch wenn diese in der Lebensbilanz kein Nachteil sein müssen. Es ist eine kluge und statistisch gesehen zudem lebensverlängernde Entscheidung, sich seinem Arbeitgeber nicht mit Haut und Haaren zu verschreiben – nur kann man dann anderseits kaum erwarten, dass man mit derselben Geschwindigkeit Karriere macht wie jemand, der dem Unternehmen rund um die Uhr zur Verfügung steht.
Männer zahlen einen Preis für diese Form der Selbstauslieferung: Das Risiko, dass sie vor Erreichen der Pensionsgrenze einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall erliegen, ist deutlich höher als bei Frauen. Sie leiden häufiger an Schlafstörungen und Bluthochdruck. Bei alkoholbedingten Erkrankungen und Selbstmorden das gleiche Bild: Von den 9402 Suiziden, die das Statistische Bundesamt für 2007 ausweist, wurden 75 Prozent von Männern begangen. Genau besehen führen die Männer nahezu jede Statistik an, die selbstschädigendes Verhalten dokumentiert: Sie stellen 95 Prozent der Gefängnisinsassen und 73,5 Prozent der Verkehrstoten, auch die Mehrzahl der Obdachlosen und der unterbezahlten Hilfsarbeiter sind Männer.
Die Tatsache, dass nach den Kriterien des Opferdiskurses Männer oft ebenfalls zu den Unglücklichen und Geknechteten gehören, ja, dass die empirischen Beleg für die gesellschaftliche Benachteiligung des Mannes wenigstens in mancher Hinsicht geradezu überwältigend sind, konnte auch die Frauenbewegung nicht ganz ignorieren. Wenn allerdings alle auf irgendeine Weise Opfer sind, dann entfällt die Empörungsgrundlage, und so ist der Ruf nach Gleichberechtigung selbstverständlich nicht gemeint gewesen. Deshalb müssen Frauen irgendwie noch entrechteter sein, noch malträtierter. „Ja doch, auch Männer sind Opfer“, konzedierte bereits Alice Schwarzer im Nachwort zu ihrem Buch „Der kleine Unterschied“ leicht genervt: „Aber die Frauen sind noch die Opfer der Opfer.“ Damit war die Opferordnung wiederhergestellt, und sie hat seitdem so nahezu unverändert Bestand.
Gender Mainstreaming
In dem Maße, indem die objektiv messbare Benachteiligung, jedenfalls für die große Mehrheit der Frauen, in den Hintergrund tritt, gewinnt ein Konzept an Bedeutung, das unter dem englischen Namen „Gender Mainstreaming“ Einzug in den Verwaltungsalltag in Deutschland gefunden hat. Die wenigsten Frauen dürften wissen, was die Bezeichnung bedeutet oder wie man sie korrekt ausspricht, obwohl das Verfahren angeblich ihren ureigensten Interessen dient. Der Journalist Volker Zastrow hat als Übersetzung „Politische Geschlechtsumwandlung“ vorgeschlagen, aber das hat sich nicht durchsetzen können.
„Gender“ ist im Englischen ein Gegen- und Ersatzbegriff für „Sex“, Geschlecht. Weil dies im deutschen Sprachgebrauch immer das biologische Geschlecht meint, musste ein neues Wort her, denn die Vertreter der „Gender“-Theorie glauben nicht an die Geschlechtsunterschiede, die nach allgemeiner Auffassung mit den primären oder sekundären Merkmalen einhergehen. Für sie ist das biologische Geschlecht ohne Bedeutung, jedenfalls in dem schicksalhaften Sinn, der ihm zugeschrieben wird: Wenn sich Männer und Frauen unterschiedlich verhalten, dann nur, weil sie so erzogen wurden. „Gender“ beschreibt das Geschlecht als ein gesellschaftliches Konstrukt; es entsteht aufgrund einer gewalthaften Zuweisung, die mit der Einteilung von Neugeborenen in Mädchen und Jungen beginnt und mit der Einübung von Geschlechterrollen seinen Lauf nimmt.
Der Gedanke, dass man nicht als Frau geboren, sondern erst dazu gemacht werde, findet sich schon bei Simone de Beauvoir, er ist so gesehen ein feministischer Gemeinplatz. Neu ist die Radikalisierung, die behauptet, dass es so etwas wie biologische Festlegungen gar nicht gebe, weswegen alle Verhaltensweisen aufgrund der Geschlechtsidentität politischer Manipulation zugänglich seien. Wenn Geschlecht nur ein Lernprogramm ist, kann man es auch umschreiben, und exakt diesem Ziel ist das „Gender Mainstreaming“ verpflichtet, das inzwischen Leitprinzip für alle Bundesbehörden ist, wie sich der Geschäftsordnung der Bundesministerien entnehmen lässt. Der Anspruch, der in dem Wort „Mainstreaming“ steckt, ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Es geht um nicht weniger, als die neue Vorstellung in der Mitte der Gesellschaft zu verankern – ein anspruchsvolles Vorhaben, schließlich widerspricht es der Erfahrung von nahezu jedem, der Kinder hat, und der überwältigenden Menge der wissenschaftlichen Literatur. So ist es dann auch ein Glück, dass ein Großteil der Autoren der „Gender“-Theorie lesbisch und damit in Bezug auf die Familienrealität vorurteilslos ist.
Das „Gender“-Konzept rückt das Ziel der „Geschlechtergerechtigkeit“ in weite Ferne. Solange Mädchen mit Puppen spielen und Jungs mit Feuerwehrautos, lässt sich nicht von Gleichberechtigung reden – womit der Opferstatus auf unabsehbare Zeit verlängert wäre. Erst wenn die Geschlechterschablonen aufgebrochen sind, die Menschen in Männer und Frauen teilen, ist Gleichheit erreicht und entfällt auch die Notwendigkeit staatlicher Intervention. Es leuchtet ein, dass man dem Ziel einer geschlechtsneutralen Gesellschaft nicht allein mit Quoten beikommt. Wenn die Macht- und Entscheidungsstrukturen in Politik und Wirtschaft auf männliches Rollenverhalten ausgelegt sind, nützt es herzlich wenig, dass immer mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Nicht Anpassung an Rollenvorgabe, sondern die Befreiung davon ist das Merkmal einer geschlechtergerechten Welt, und deshalb zielt die neue Methode darauf, „auch versteckte Benachteiligungen zu erkennen und zu vermeiden“, wie es in einem Faltblatt der „Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau“ zur Erklärung heißt. „Man kann also sagen: ‚Gender Mainstreaming‘ ist eine ‚präventive Methode’ der Politik“, wird dort stolz verkündet.
Wir stehen erst am Anfang. Zwölf Bundesländer haben sich bislang dem neuartigen Präventionsprogramm verschrieben, das CSU-regierte Bayern genauso wie der rot-rote Senat in Berlin. In jedem Bezirksamt der Hauptstadt hängt am Schwarzen Brett mittlerweile ein Fortschrittsbericht der „Gender-Geschäftsstelle“. An der Berliner Humboldt-Universität hat die Regierung eigens ein „Kompetenzzentrum“ eingerichtet, in dem acht Wissenschaftler darüber wachen, dass „Gender Mainstreaming“ korrekt in den Staatskörper eingepflanzt wird. Das Bundesverkehrsministerium hat unlängst für 324 000 Euro „Gender Mainstreaming im Städtebau“ untersuchen lassen; das Bundesumweltministerium gab für 180 000 Euro eine Studie zu „Gender Greenstreaming“ in Auftrag, die unter anderem feststellte, dass es geschlechterpolitisch sinnvoll wäre, wenn es „Motorsägenkurse für Frauen“ gäbe. Im Familienministerium liegt eine „Machbarkeitsstudie Gender Budgeting auf Bundesebene“, über die nun im Finanzministerium entschieden werden muss: Wird sie umgesetzt, muss künftig jeder einzelne Haushaltsposten danach abgeklopft werden, ob er geschlechterpolitisch korrekt aufgestellt wurde.
An der Spitze des Fortschritts marschiert, wie immer, der Universitätsbetrieb. An deutschen Hochschulen gibt es inzwischen 23 „Gender Studies“-Institute und -Einrichtungen, darüber hinaus hat sich die „Gender“-Forschung an nahezu jedem geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl etabliert, und sie wächst gegen den Trend. Während in Deutschland von 1995 bis 2005 in den Sprach- und Kulturwissenschaften 663 Professorenstellen entfielen, wie kürzlich im „Handelsblatt“ nachzulesen war, wurden allein in Nordrhein-Westfalen 40 Professuren für das „Netzwerk Frauenforschung“ geschaffen, darunter auch eine für „feministische Ökonomie“ in Münster.
Die Überwindung der Biologie ist in jeder Hinsicht ein kühnes Unterfangen. Verhaltensweisen lassen sich weitaus schwerer ändern als die Besetzungslisten von Vorständen, Aufsichtsräten oder Parteigremien. Das gilt zumal, wenn sie, anders als von der „Gender“-Theorie angenommen, tief im Erbgut verankert sind. Die Natur ist eine sperrige Materie. Nimmt man „Gender Mainstreaming“ ernst, spricht deshalb einiges dafür, dass wahre Gleichberechtigung erst erreicht ist, wenn die biologischen Differenzen eingeebnet sind, wenn sich also auch äußerlich nicht mehr unterscheiden lässt, wer Mann und wer Frau ist. Erst die freie Wahl der sexuellen Identität, unabhängig von natürlichen Vorgaben, erlöst uns aus den Klischees der „heterosexuellen Matrix“, wie es bei den Gender-Vordenkern heißt, und eröffnet die Möglichkeit zur Begegnung der Geschlechter jenseits des „Rollendrills“.
Es wird auf den Webseiten und Publikationen der diversen staatlichen Genderberatungsstellen nicht so deutlich ausgesprochen, aber wesentliche Anstöße verdankt das „Gender Mainstreaming“ der aus der Lesbenbewegung entstandenen „Queer-Theorie“, die nicht nur dem Patriarchat den Kampf angesagt hat, sondern insgesamt der „heteronormativen Gesellschaft“, die Menschen ausgrenzt, die nicht den „klassischen Mann-Frau-Stereotypen“ entsprechen, also Lesben, Schwule, Bisexuelle und überhaupt alle „Gendernauten“, die zwischen den Geschlechtsgrenzen flottieren. So gesehen sind auch Ehe und Familie als repressive Rollenmodelle abzulehnen, weil sie als Lebensform dominierend wirken, und daher ist es nur folgerichtig, dass die Nachwuchsorganisation der Grünen auf ihrem Bundeskongress im November vergangenen Jahres das Verbot der Ehe verlangt hat – und damit ein Ende der „unsäglichen Subventionierung heterosexueller Liebe durch das Ehegattensplitting“, wie es im Forderungskatalog heißt.
Wenn man einmal angefangen hat, über die Benachteiligung der Andersgeschlechtlichen nachzudenken, kommt man zu einer ganzen Reihe von Reformvorschlägen, um das Schicksal auch dieser Minderheiten zu erleichtern. Dazu gehört eine „geschlechtsneutrale Erziehung“, bei der schon in der Schule über die Vorzüge homo-, bi- und transsexueller Partnerschaft aufgeklärt wird, wie es die Grüne Jugend verlangt, die Abschaffung von „Geschlechtsangaben in Pässen“ und die Einführung einer „gegenderten Sprache“ im Rahmen der nächsten Rechtschreibreform. Wer wirklich fortschrittlich denkt, schreibt „KlempnerInnen“ oder „BäckermeisterInnen“ nicht mehr allein mit großem „I“, um seine Sensibilität in diesem Punkt zu bekunden: „Klempner_Innen“ ist die gendermäßig korrekte Schreibweise, weil sie über den Unterstrich auch alle sexuell Uneindeutigen einschließt.
Immer mehr Benachteiligte
Es mag dem Uneingeweihten eigenartig vorkommen, dass die Schar derer, die sich gesellschaftlich benachteiligt sehen, größer wird, je mehr die Gleichberechtigung voranschreitet. In der Tat könnte man als Ergebnis von fünf Jahrzehnten staatlicher Gleichstellungsbemühungen für die Zukunft weniger Gleichstellungsarbeit erwarten, aber das hieße, den Selbsterhaltungstrieb der Opferpolitik zu verkennen. Mit jeder Opfergruppe, die erst im gesellschaftlichen Diskus und dann auch im verwaltungstechnischen Vollzug als solche anerkannt wird, weitet sich nicht nur der Opferkreis, sondern auch das Spektrum dessen, was als Diskriminierung zu gelten hat. Je sensibler sich eine Gesellschaft für die Kränkungen und Zurücksetzungen ihrer Mitglieder zeigt, desto mehr ermutigt sie, auch geringste Verfehlungen zur Anzeige zu bringen, und deshalb wächst der Bedarf nach Quotenregelungen, Gleichstellungsprogrammen und Fördergeldern proportional zum Bemühen, jede Form der Benachteiligung zu vermeiden.
Man kann das belächeln, aber es ist Alltag in Deutschland. Nahezu wöchentlich finden sich irgendwo Menschen zusammen, die unter dem Banner vermeintlicher oder tatsächlicher Stigmatisierung für ihre Anliegen Unterstützung zu mobilisieren versuchen. Gestern sind es die ehemaligen Staatsbediensteten in Ostdeutschland, die sich um die vollständige Anrechnung ihrer DDR-Berufsjahre gebracht sehen. Heute die Dicken, die finden, dass ihre Umwelt unzulässigen Druck auf sie ausübt, dem Schlankheitswahn zu folgen. In den USA hat sich bereits ein „Fat Acceptance Movement“ gebildet, das für gesetzlichen Schutz vor Gewichtsdiskriminierung kämpft. Für Befürworter wie die Juristin Anna Kirkland von der University of Michigan geht es dabei um die grundlegende Frage, wie eine Gesellschaft mit „Anderssein“ umgeht – in diesem Fall nicht einer anderen Sexualität oder Hautfarbe, sondern der Abweichung von der biomedizinischen Norm.
Vor ein paar Monaten hat die Britin Beckie Williams eine Kampagne ins Leben gerufen, um Frauen mit großen Brüsten Stimme und Aufmerksamkeit zu verleihen. „Busts 4 Justice“ hat innerhalb kürzester Zeit 8000 Mitglieder gewonnen. Anlass gab die Kaufhauskette Marks & Spencer, die plötzlich für alle Büstenhalter ab Körbchengröße F einen Aufpreis von zwei Pfund verlangte – ein Fall „krasser Diskriminierung“, wie Williams und ihre Mitstreiter beklagen, da die Größe des Busens kaum zu beeinflussen sei, jedenfalls nicht auf natürlichem Wege. Selbst rechtsextreme Frauen, die wegen ihrer Gesinnung berufliche Nachteile befürchten oder erleiden, haben inzwischen eine „Solidaritätsorganisation“, an die sie sich wenden können. Seit vergangenem Jahr gibt es für „politisch verfolgte Frauen aus dem nationalen Spektrum“ die Selbsthilfegruppe „Jeanne D.“, die „Opfern politischer Willkür“ über das Internet psychosoziale Hilfe, Beratung und Rechtsbeistand bietet: „Das soziale und politische Engagement ist von hoher Bedeutung, um betroffenen Frauen Mut zuzusprechen“, heißt es tongenau in der Selbstdarstellung: „Wir möchten der Bevölkerung aufzeigen, was uns innerhalb eines demokratischen Systems widerfuhr. Wir möchten Politiker, Juristen und mögliche Förderer auf uns aufmerksam machen, um eine Einflussnahme auf die Gesellschaft und die Politik zu nehmen.“
Audismus: Diskriminierung von Gehörlosen?
Es ist, wie sich zeigt, nicht immer ganz einfach, den Überblick zu behalten. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Gehörlose den fortschreitenden Einsatz von Cochlear-Implantaten bei Kindern und Jugendlichen als Herabwürdigung ihrer Lebensweise verstehen könnten? Was in der medizinischen Welt als technisches Mittel gegen Taubheit gefeiert wird, gilt bei den Vertretern der „Deaf Culture“ als Versuch einer „chirurgischen Assimilation“ nach den Gesundheitsnormen der Mehrheitsgesellschaft. Die Taubheitsaktivisten sehen sich und ihresgleichen nicht als Behinderte, sondern als Angehörige einer linguistischen Minderheit mit einer reichen Kulturtradition, die sogar das Glück hat, gegen Lärm immun zu sein. Der Präsident des Weltverbands der Gehörlosen, Markku Jokinen, geht so weit, die Anpassung durch Sprachtraining, Hörgeräte und Innenohr-Transplantate als „kulturellen Genozid“ zu bezeichnen, weil mit der Taubheit eine Sprache, soziale Ausdrucksformen und ein Selbstverständnis verschwinden würden, die wie die Lebenswelten der Mati Ke in Australien oder der vom Aussterben bedrohten brasilianischen Flussindianer einmalig und unwiederbringlich seien. Jokinen bezieht sich ausdrücklich auf die „UN-Völkermord-Konvention“, die unter anderem als Völkermord wertet, „wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt“, ein Definitionsmerkmal, das der Finne durch die Bemühungen von Staat und Wissenschaft, gehörlosen Kindern den Weg in die Welt der Hörenden zu ebnen, nahtlos erfüllt sieht.
Es gibt, nach dem Vorbild von Sexismus, Rassismus und Antisemitismus, auch schon ein Wort, das die Diskriminierung von Gehörlosen bezeichnet. „Audismus“ lautet es, und der junge Forschungszweig der „Disability Studies“, der gerade an den Hochschulen Einzug hält, definiert Behinderung in Anlehnung an die „Gender“-Theorie zeitgemäß als eine sozialhistorische Konstruktion, womit Begriffe wie Gesundheit oder körperliche Unversehrtheit ihren Sinn als Standards verlieren. „Taubsein ist vergleichbar mit Frausein, Christsein oder Jüdischsein“, heißt es auf einer Webseite über „Deafhood“, der neuen Gehörlosen-Bewegung, die Taubheit als Lebensstil versteht, auf den es stolz zu sein gilt, und nicht als Einschränkung, die es zu kurieren gelte.
Man darf gespannt sein, was als Nächstes kommt: Die Bewahrung von Kurzsichtigkeit und Brille als identitätsstiftendes Symbol der seit Schulzeiten ausgegrenzten Minderheit der Streber? Das Beharren auf dem Recht zu Impotenz als Assimilationsverweigerung der Leidtragenden sexueller Leistungsnormen? Pickel als subversiver Verstoß gegen die Schönheitsideale der kapitalistischen „Clerasil“-Kultur?
Rein theoretisch müsste die Bewegung irgendwann an ihr Ende kommen: Wenn jeder Opfer ist, dann gibt es keine Täter mehr. Aber so läuft es nicht. So wie Arbeit immer mehr Arbeit schafft und damit nahezu unendlich vermehrbar ist, so lässt sich auch die Opfermenge beliebig ausweiten. Weil jeder gleich mehrfach Opfer sein kann, übersteigt die Zahl derjenigen, die sich benachteiligt oder diskriminiert fühlen, die der Weltbewohner bereits um 400 Prozent, wie Charles Sykes vom „Wisconsin Policy Research Center“ ausgerechnet hat.
Es kann dabei nicht ausbleiben, dass sich die Opfer im Wege stehen. Alle wollen Beachtung. Man gönnt sie ihnen. Aber die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist, im Gegensatz zu den Erwartungen, begrenzt, so setzt notwendigerweise ein Verdrängungsprozess ein. Einige Opfer werden wichtiger genommen als andere, manche schieben sich nach vorn, einige fallen zurück. Das ist nicht schön, aber unvermeidlich.
Konkurrierende Opferclans
Es kommt darauf an, eine gute Ausgangsposition zu besetzen, das sagen einem die Anwälte. So beginnt ein Wettbewerb, bei dem jede Gruppe ihre besondere Benachteiligung herausstellt und sich von der Konkurrenz abzugrenzen sucht. Die Opfer rechter Gewalt wollen nicht mit den Opfern linker Gewalt in einen Topf geworfen werden, die Muslime legen Wert darauf, dass sie verfolgter sind als die Juden.
Monatelang gab es Gezerre um das Denkmal im Berliner Tiergarten, das an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen erinnern soll. Ursprünglich war ein Steinkubus vorgesehen mit einem Film von zwei sich küssenden Männern, seit 2003 gibt es dazu einen Bundestagsbeschluss. Dann erhoben die Lesbenverbände Einspruch, angeführt von „Emma“. Zwar hat die Forschung keine Hinweise erbracht, dass Frauen wegen ihrer lesbischen Neigungen einer systematischen Verfolgung ausgesetzt waren, das verhinderte, wenn man so will, das sexistische Frauenbild der Nazis. Aber das zählte nicht: Jetzt küssen sich im Berliner Tiergarten abwechselnd ein männliches und ein weibliches Paar; alle zwei Jahre wird der Film gewechselt, damit sich die Frauen als Opfergruppe nicht zurückgesetzt fühlen.
Man kann als Außenstehender leicht Fehler machen, das fängt mit der Sprache an. Der „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“ zum Beispiel findet es beleidigend, wenn man von Zigeunern spricht, deshalb hat sich in Deutschland im offiziellen Sprachgebrauch „Sinti und Roma“ eingebürgert. Die „Sinti Allianz“ in Köln wiederum plädiert für die Beibehaltung des alten Begriffs, weil das nun einmal über Hunderte von Jahren die herkömmliche Bezeichnung war. Außerdem sind die Sinti zwar die größte Gruppe der Zigeuner, aber beileibe nicht die einzige, es gab und gibt die Lalleri, die Kalderasch, die Lovara, um nur einige zu nennen. Die Jenische, also das fahrende Volk, wollen auf keinen Fall Roma und Sinti genannt werden, weil sie sich dadurch ausgeschlossen fühlen, auch opferpolitisch als Verfolgte des NS-Regimes. Sie haben mit den anderen Gruppen nur oberflächlich zu tun.
Aufspaltung der Gesellschaft
Es scheint unvermeidlich, dass sich die Gesellschaft immer weiter entlang der Grenzlinien der konkurrierenden Opferclans aufspaltet. An die Stelle des Staates mit einem auf das Gemeinwohl verpflichteten Bürger als handelndem Subjekt tritt die Stammesgesellschaft, in der die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe alle anderen Loyalitätsverhältnisse überragt oder gar ersetzt. Der britische Jurist Neil Addison hat auf die Gefahren hingewiesen, die mit der „Kultivierung der Opferrolle“ einhergehen: Statt sich auf Verbindendes zu besinnen und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen über den Weg der Verhandlung und Benennung gemeinsamer Anliegen zu suchen, werden die Bürger ermuntert, sich über ihr Anderssein zu definieren und das Besondere zu betonen, das sie trennt. „Das Problem ist, dass wir uns irgendwann nicht mehr als Bürger derselben Gesellschaft verstehen, sondern als Minderheiten, die alle gegen die Gesellschaft Schutz einklagen“, schreibt Addison. Diese Umdeutung des gerade in linken Quartieren vielbeschworenen Verfassungspatriotismus zu einem Gruppen- und Partikularstolz zeitigt einen eigentümlichen Effekt: Wer sich tolerant und nachsichtig zeigt, etwa als religiöse Gemeinschaft gegenüber dem demonstrativen Unglauben der Umwelt, wird deutlich weniger offiziellen Beistand erfahren als derjenige, der laut gegen Kritik protestiert und jede gotteslästerliche Äußerung als Kränkung zur Anzeige bringt. Je beleidigter und empörter eine Gruppe auftritt, desto sicherer sind ihr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und die Schutzangebote des Staates, eine Erfahrung, die muslimische Glaubensvertreter in Europa zuletzt ein ums andere Mal eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben.
Das alles funktioniert fabelhaft, aber es hat mit der Grundidee eines demokratischen Gemeinwesens, wie es die Verfassungsväter vor Augen hatten und wie es noch den Gesellschaftstheoretikern der Frankfurter Schule vorschwebte, nicht mehr viel gemein. Diese neue Gesellschaft ist, allen Bekenntnissen zur Gleichheit zum Trotz, durch eine Hierarchie gekennzeichnet, die weit archaischer und strenger ist als die alte, die sie ersetzt; es ist die Randgruppen-Hierarchie der Stammesökonomie.