Die Macht, das Subjekt und das Sexualdispositiv

Michel Foucaults Diskurs der Gegenaufklärung

Wer sich mit der Gendertheorie und den Strömungen in den Humanwissenschaften befasst, wird nicht um den französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) herumkommen. Für die einen ist sein Denken Ausgangspunkt einer positiven Veränderung innerhalb der Gesellschaft, mit der sich gängige Geschlechter- und Herrschaftsverhältnisse, ja sogar struktureller Rassismus verändern lassen.1 Für die anderen hat sein Denken zur Entstehung einer Ideologie2 beigetragen3, die tradierte Werte in Frage stellt.

Jean Améry, österreichischer Schriftsteller (1912 -1978), einer der ersten, der sich kritisch mit den zeitgenössischen Trends der französischen Philosophie und vor allem mit Michel Foucaults Denken auseinandersetzte4, schrieb damals, Foucault sei „der gefährlichste Gegenaufklärer, der seit den Tagen der ‚Lumière‘, der Aufklärung, die Bühne des französischen Geistes verdunkelt und in abgründige Wirrnis gestürzt hat“, dem selbst „gescheite, gebildete und begabte Menschen“ verfielen. Foucaults Worte würden eher hypnotisierend wirken als rational überzeugen, und doch sei es aus „moralisch-politischen Gründen“ nicht möglich „sein Werk als bloßes Modephänomen zu den Akten zu legen“. … „Wem nämlich daran liegt, eine neue linke Position aufzubauen, nachdem die alte wie die neue Linke scheiterten …, der muss von eben jener bürgerlichen, die sozialistische vorbereitenden Aufklärung ausgehen, die Foucaults obskurantistische, zugleich aber auch anarchistische Ideologie am eindrucksvollsten und intensivsten repräsentiert“.5 Für Améry war jenes Prinzip der analytischen Vernunft maßgeblich „das da heißt: ‚der Sinn eines Satzes ist der Weg seiner Verifizierung‘.“ Würden andere Denker so gewappnet die Werke Foucaults lesen, hoffte er, würde Foucaults „Archäologie des Wissens“ … „am Ende als eine jener zahlreichen kulturphilosophischen Spekulationen, die zwar anregen, aber keine wirklichen Erkenntnisse vermitteln“ dastehen.6 Bis heute haben Foucaults Werke nicht an Einfluss verloren. Auf die Frage, warum der Name Michel Foucault in seinem 2019 erschienen Buch Wahnsinn der Massen so oft auftauche, antwortete der englische Publizist Douglas Murray, ihm sei aufgefallen, dass Foucault der meistzitierte Denker in der akademischen Welt von heute ist. Ja, dass er in akademischen Arbeiten etwa viermal häufiger zitiert würde als Einstein.7

Wer sich mit den Aussagen Foucaults und seiner Nachfolger auseinandersetzen möchte, muss verstehen, von welchen Denkvoraussetzungen Foucault ausgeht. Laut Foucault darf man „die politischen Probleme nicht in den Kategorien ’Wissenschaft/Ideologie’ angehen, sondern in den Kategorien ’Wahrheit/ Macht’“8. Er negiert die Prämisse, auf die die analytische Vernunft baut, und möchte die Menschen von der Macht angeblich wissenschaftlicher Erkenntnisse befreien: „Ich habe mir vorgenommen – dieser Ausdruck ist gewiss allzu pathetisch – den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen; dass sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese sogenannte Evidenz kritisieren und zerstören kann. Etwas in den Köpfen der Menschen zu verändern – das ist die Aufgabe des Intellektuellen.“9 Sein Anliegen ist dabei nicht nur die Befreiung der Menschen mit Hilfe neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern, wie ich im Folgenden zeigen möchte, die Befreiung des Menschen aus einem seiner Meinung nach falschen, festgelegten und konstruierten Welt- und Menschenbild.

1 Foucaults Argumentation

Welche Rolle spielt der Mensch innerhalb der Geschichte und der Ordnung der Dinge? Wie generiert der Mensch Wissen über die Welt und vor allem in Bezug auf sich selbst? Welches Wissen wird der Wahrheit zugerechnet und welches Wissen findet kein Gehör? Ist der Mensch überhaupt fähig zur Wahrheitsfindung? Gibt es Wahrheit oder findet der Mensch sich in den unterschiedlichen historischen Epochen, in historisch gewachsenen Wissensordnungen wieder, die zwar Macht auf ihn ausüben, denen er aber eigentlich nicht gehorchen müsste? Das sind Fragen, mit denen sich Foucault beschäftigte. Dabei zweifelte er das Bild vom Wesen und der Rolle des Menschen an, das sich seit der Aufklärung entwickelt hatte und das er in den Humanwissenschaften seiner Zeit vorfand.

Foucault kritisierte nicht, dass der Mensch die materielle Welt um sich herum zur Lösung von Problemen oder der Weiterentwicklung im technologischen Bereich mit seiner Forschung untersucht, diese Rolle kann er aus der Sicht Foucaults durchaus erfüllen. Der Mensch ist in der Lage, die Natur und deren Gesetze zu erforschen, aber „die Erkenntnis des Menschen im Unterschied zu den Wissenschaften der Natur [ist] stets […] mit ethischen Theorien oder politischen Theorien verbunden“. 10 Er bezweifelte also, dass aus dem Wissen Rückschlüsse zu ziehen sind auf das, was für alle Menschen gut ist. In seinen Augen traten die Humanwissenschaften nicht „unter der Wirkung eines drängenden Rationalismus, eines nicht gelösten wissenschaftlichen Problems, eines bestimmten praktischen Interesses“, in Erscheinung, sondern „sind von dem Tag an erschienen, an dem der Mensch sich in der abendländischen Kultur gleichzeitig als das konstituiert hat, was man denken muss, und als das, was zu wissen ist.“11 Laut Foucault ist also die Idee vom Menschen eine reine Konstruktion. Wie auch alle Gedanken und Philosophien, die sich im Laufe der Geschichte über das Wesen des Menschen, seine Herkunft, seine Moral und den Sinn und Ziel des Lebens entwickelten, für ihn Konstruktionen sind.

Foucault lehnte eine lineare teleologische oder kulturoptimistische Sicht ab, nach der die Geschichte, ob nach religiösen oder fortschrittsgläubigen Kriterien, auf ein bestimmtes Ziel hinstrebt.12 Anstelle von Kontinuität sah er Brüche zwischen den einzelnen historischen Epochen. Neue Epochen entstünden nicht auf der Basis tieferer Erkenntnis über das Wesen des Menschen, sondern aufgrund eines veränderten Denkens, das dem Menschen immer aufs neue vorgibt, wie und was er erkennen könne und was sein Handeln bestimmen soll.

Foucault näherte sich der Geschichte wie ein Archäologe, der Artefakte aus verschiedenen Erdschichten nebeneinander aufstellt und untersucht. Er analysierte die Aussagen über das Wissen von den Lebewesen, das Wissen von den Gesetzen der Sprache und das Wissen der ökonomischen Fakten einer in sich abgeschlossenen Epoche und verglich diese Aussagen mit dem gerade herrschenden philosophischen Diskurs.13 Seine leitende Frage formulierte er so: „Was aber, wenn empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur wirklich eine wohldefinierte Regelmäßigkeit besäße? Wenn die bloße Möglichkeit, Fakten zu sammeln, sich zu erlauben, von ihnen überzeugt zu sein, … oder rein spekulativen Gebrauch von ihnen zu machen: was, wenn nicht einmal das der Gnade des Zufalls überlassen bliebe. Wenn Irrtümer (und Wahrheiten), die Anwendung alter Überzeugungen, einschließlich nicht nur wirklicher Enthüllungen, sondern auch der simpelsten Begriffe in einem gegebenen Augenblick den Gesetzen eines bestimmten Wissenscodes gehorchten? Kurz, wenn die Geschichte des nichtformalen Wissens selbst ein System hätte? Das war meine anfängliche Hypothese … .“14

Foucault wollte also herausfinden, ob nicht etwa die Individuen, die verantwortlich für den wissenschaftlichen Diskurs sind, in ihrer Situation, ihrer Funktion, ihren perzeptiven Fähigkeiten und in ihren praktischen Möglichkeiten von Bedingungen bestimmt werden, die sie beherrschen und überwältigen.15 Er stellte fest, dass die wissenschaftlichen Kriterien einzelner Epochen in allen Wissenschaftsbereichen die gleichen sind. Sei es in der Naturwissenschaft, der Sprachwissenschaft oder den Humanwissenschaften, alle Wissenschaftler einer Epoche folgen den gleichen Regeln zur Definition der ihren Untersuchungen eigenen Objekte, zur Ausformung ihrer Begriffe, zum Bau ihrer Theorien.16 Und somit stand für ihn fest: „Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird“.17

Diese empirischen Ordnungen bezeichnete Foucault auch als Episteme.18 Da er eine Diskontinuität zwischen den Epistemen unterschiedlicher Zeitepochen feststellte, stimmte er zwar mit anderen Denkern darin überein, dass die Ordnung der Dinge auf einem a priori aufgebaut sein muss. Dieses a priori konnte für ihn jedoch nur ein historisch gewachsenes sein,19 das sich mit der Zeit immer wieder veränderte. Die unterschiedlichen philosophischen Diskurse der untersuchten Zeitabschnitte lieferten für die Episteme ihrer Zeit jeweils ein anderes historisch gewachsenes a priori und somit wiederum eine nur für diese Epoche gültige Wissensordnung.

Wird ein Mensch in eine Episteme hineingeboren und in ihr sozialisiert, üben das historisch gewachsene a priori und der Diskurs Macht über ihn aus. Er glaubt dem, was ihm durch die Institutionen beigebracht wurde, und erkennt das a priori seiner Zeit als etwas ewig Gültiges an. Solange der Mensch sich dieser Ordnung unterstellt, ist es nicht der Mensch, der anhand seiner Erkenntnisfähigkeit die Ordnungen der Gesellschaft bestimmt, sondern der vorherrschende wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs. Befreit werden kann der Mensch von den Grenzen der alten Episteme, wenn eine neue Episteme entsteht.

2 Wie entstehen neue Episteme und Diskurse?

Auch wenn Foucault von Brüchen zwischen den einzelnen Epistemen sprach, bedeutet das nicht, dass diese Brüche von heute auf morgen entstehen, sondern im Zuge von bestimmten Prozessen. Prozesse, die sowohl vom Menschen, aber auch von Umständen vorangetrieben werden. Foucault beschrieb den Übergang wie einen dunklen Raum. In ihm geschieht etwas, zunächst vielleicht unbemerkt, ein Prozess beginnt, an dessen Ende eine neue Episteme steht: „Dort lässt eine Zivilisation, indem sie sich unmerklich von den empirischen Ordnungen abhebt, die ihr von ihren primären Codes vorgeschrieben sind, und indem sie eine erste Distanz in Beziehung zu ihnen herstellt, sie ihre ursprüngliche Transparenz verlieren, hört auf, sich von ihnen passiv durchqueren zu lassen, ergreift ihre unmittelbaren und unsichtbaren Kräfte, befreit sich genug, um festzustellen, dass diese Ordnungen vielleicht nicht die einzig möglichen oder die besten sind.“20

Um den Prozess in eine neue Episteme überzuleiten, braucht es die Veränderung des Diskurses. Diskursive Praktiken, die diese Aussagen formulieren, haben nach Foucaults Auffassung nicht die Aufgabe, Fakten oder Objekte anhand der Sprache zu repräsentieren, sondern sind als „Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“21 Hier geht es nicht, wie beim radikalen Konstruktivismus, darum, den Gegenstand selber zu dekonstruieren, sondern darum, aufzuzeigen, dass der Gegenstand auch von einem anderen Diskurs kommend gedeutet werden kann.22

3 Dispositive der Macht im Veränderungsprozess

In diesem Veränderungsprozess spielt der Begriff der Macht, wie ihn Foucault versteht, eine entscheidende Rolle. Denn ein Veränderungsprozess geht nicht ohne eine Verschiebung der Machtverhältnisse vor sich. Macht ist für Foucault „gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv“[^23]. Intentional ist sie da, wo Menschen den herrschenden Diskurs benutzen, um ihre eigene Machtposition auszubauen, oder wo Menschen versuchen, die Macht des herrschenden Diskurses durch Kritikausübung und Verbreitung ihrer eigenen Ideen zu brechen. Nicht-subjektiv ist die Macht da, wo ein Diskurs sich so festgesetzt hat, dass er das Leben der Menschen beherrscht. Macht und Diskurs gehören zusammen wie die beiden Seiten einer Medaille. Ein Mensch, der Macht begehrt, muss sich sozusagen diese Medaille erkämpfen: „Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein Nichts sein – die Verbote, die ihn treffen, offenbaren nur allzubald seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht. Und das ist nicht erstaunlich. Denn der Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt – ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht.“[^24]

Innerhalb jeder Episteme sind die Menschen, auch die Herrschenden, in der Macht des jeweils gültigen Diskurses gefangen. Doch wo Macht ist, gibt es zugleich Widerstand gegen diese Macht. Vor allem Menschen, die auf der Schattenseite des herrschenden Diskurses stehen, versuchen Wege zu finden, die Macht der Mächtigen und der Diskurse zu entkräften. Oft haben sie nur geringe Wirkung, selten kommt es zu großen radikalen Brüchen. Nur wo sich ein ganzes Netz von Widerstandspunkten ausbildet, mit Gruppen von Menschen, die sich verbünden und gemeinsam strategisch vorgehen, kann es zu einer Verschiebung der Macht und einer Veränderung des Diskurses kommen: „Wie das Netz der Machtbeziehungen ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht, … so streut sich die Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten. Und wie der Staat auf der institutionellen Integration der Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen.“[^25] So ist die Macht einerseits in den Diskursen, das heißt nicht subjektiv, andererseits ist Macht auch bei denen, die im gegenwärtigen Diskurs die Meinungshoheit besitzen. Macht kann auch bei denen entstehen, die einen neuen Diskurs konstruieren und diesen mit bestimmten Mitteln auszubreiten versuchen. Im Netz der Machtbeziehungen spielen auch Umstände, die den alten Diskurs schwächen, eine nicht unbedeutende Rolle, gerade wenn das Vertrauen in das alte System ohnehin schon ins Wanken geraten ist.

Diskursanalyse

Eine der von Foucault entwickelten Strategien, um gängige Machtstrukturen zu erkennen und gleichzeitig zu entmachten, ist die Diskursanalyse. Mit Hilfe der Diskursanalyse wird der gängige Diskurs kritisiert, relativiert, ihm wird sein Absolutheits- und Wahrheitsanspruch abgesprochen, sodass denen, die im gängigen Diskurs erzogen wurden, Selbstverständliches nicht mehr selbstverständlich erscheint.

In der Diskursanalyse stehen die Prozeduren der Ausschließung, die jedem Diskurs seine Grenzen vorgeben, im Fokus. Manche Ausschließungsverfahren wirken von außen auf den Diskurs ein, andere wirken innerhalb eines Diskurses. Große Ausschließungssysteme, die den Diskurs von außen treffen, sind Verbote, die bestimmen, wer wann was und wo sagen darf, wer welche Handlung mit wem und unter welchen Umständen durchführen kann.

Da Diskurse für Foucault nicht aus einer „prädiskursiven Vorsehung“ heraus entstehen, „welche uns die Welt geneigt macht“, muss man „den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun“.[^26] Auch wenn viele Menschen glauben, dass Diskurse durch die Suche nach und Erkenntnis von Wahrheit entstehen, sind sie für Foucault reine Konstruktionen. Wer sich auf die Suche macht, sich also mit der Geschichte von historisch gewachsenen Diskursen beschäftigt, muss laut Foucault den „Willen zur Wahrheit in Frage stellen; man muss dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurückgeben; endlich muss man die Souveränität des Signifikanten aufheben“.[^27] Historische Analyse sollte daher „nicht mehr die Suche nach den stillen Anfängen, nicht mehr das endlose Rückschreiten hin zu den ersten Vorläufern“[^28] sein, sondern ein Infragestellen des Gewordenseins bestimmter Diskurse. Sie soll die Umdeutung historisch gewachsener Begriffe verdeutlichen, um sie dann mit einer neuen Bedeutung zu füllen. Eine wichtige Methode der Diskursanalyse besteht daher auch in der historischen Darstellung des Gewordenseins von Begriffen: der Genealogie.

Genealogie

Foucault führte mehrere historische Diskursanalysen, sprich Genealogien[^29] durch, in denen er aufzeigen wollte, wie sich bestimmte Diskursserien gebildet haben; welche spezifischen Normen und welche Erscheinungs-, Wachstums- und Veränderungsbedingungen eine Rolle gespielt haben.[^30] Anhand der genealogischen Methode soll sichtbar werden, wie Macht sich eines bestimmten Begriffes oder Diskurses bedient, wie der Wille zum Wissen über einen begrifflichen Diskurs zustande kam und wie dieses Wissen dann strategisch genutzt werden konnte, um Machtwirkungen auf die Gesellschaft auszuüben.

Kleiner Exkurs zum besseren Verständnis: Die Analysen des Mediziners und Philosophen Georges Canguilhem (1904-1995)[^31] dienten Foucault dabei als ein Modell für seine Vorgehensweise: „Sie zeigen, dass die Geschichte eines Begriffs nicht alles in allem die seiner fortschreitenden Verfeinerung, seiner ständig wachsenden Rationalität, seines Abstraktionsanstiegs ist, sondern die seiner verschiedenen Konstitutions- und Gültigkeitsfelder, die seiner aufeinanderfolgenden Gebrauchsregeln, der vielfältigen theoretischen Milieus, in denen sich seine Herausarbeitung vollzogen und vollendet hat.“[^32]

Am prägendsten wurde Foucaults Vorgehen im Kontext Sexualität. Anhand seines Klassikers Sexualität und Wahrheit 1 wird deutlich, wie er die Machtwirkungen hinter den gesellschaftlichen Prozessen aufzudecken sucht und mit neuem Inhalt füllt.

Genealogie des Sexualbegriffs

In seiner Genealogie des Sexualbegriffs will Foucault zeigen, dass der Mensch, trotz der sexuellen Revolution, sich immer noch unter der Macht des gleichen Sexualdispositivs[^33], also auch unter derselben Episteme, befindet. Die Repressionsnarrative der 1968er Jahre suggerierten, dass eines der Hauptmerkmale der Unterdrückung von Sexualität das Verdrängen der Sexualität aus dem gesellschaftlichen Diskurs gewesen sei. Doch Foucault denkt genau das Gegenteil: „Im 17. Jahrhundert: hier soll also ein Zeitalter der Unterdrückung einsetzen. … Von diesem Augenblick an soll es schwieriger und kostspieliger geworden sein, den Sex beim Namen zu nennen. … Betrachtet man aber diese drei Jahrhunderte in ihren übergreifenden Transformationen, sehen die Dinge gleich ganz anders aus: um den Sex herum zündet eine diskursive Explosion.“[^34]

Diese diskursive Explosion führte dazu, dass der ursprünglich aus der Botanik stammende Begriff der Sexualität, der sich in seiner Bedeutung nur auf die Fortpflanzung bezog, mit immer wieder neuen Inhalten und Deutungen füllte. Rund um die Sexualität organisierte sich ein eigenständiger Erkenntnisbereich. Sexualbeziehungen unterlagen zwar in jeder Gesellschaftsform gewissen Regeln, allerdings unter einem, wie Foucault es nennt, Allianzdispositiv: „einem System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung von Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und Güter.“[^35] Durch die Entstehung des Sexualdispositivs und den gleichzeitig stattfindenden Veränderungen der ökonomischen und politischen Strukturen verlor das Allianzdispositiv an Bedeutung: „Das Allianzdispositiv hat wesentlich die Aufgabe, das Spiel der Beziehungen zu reproduzieren und ihr Gesetz aufrechtzuerhalten; das Sexualdispositiv hingegen führt zu einer permanenten Ausweitung der Kontrollbereiche und -formen. Ist für das eine das Band zwischen Partnern mit festem Status entscheidend, so geht es im anderen um die Empfindungen der Körper, die Qualität der Lüste, die Natur auch noch der feinsten oder schwächsten Eindrücke. Während sich schließlich das Allianzdispositiv durch die Rolle, die es bei der Weitergabe oder beim Umlauf der Reichtümer spielt, eng an die Ökonomie anschließt, verläuft der Anschluss des Sexualdispositivs an die Ökonomie über zahlreiche und subtile Relaisstationen – deren wichtigste aber der Körper ist, der produzierende und konsumierende Körper.“[^36]

Ein vorbereitendes Element für das Sexualdispositiv – einen ersten Knotenpunkt der Entwicklung eines ganzen Machtkonstruktes – erkannte Foucault in der klösterlichen Tradition der Beichte. „Das Projekt der ’Diskursivierung’ hatte sich lange zuvor in einer asketischen und klösterlichen Tradition formiert. Das 17. Jahrhundert erst hat daraus eine Regel für alle gemacht.“[^37] Wenn sich auch nicht alle Gläubigen an diese Regel hielten, so wurde ein Imperativ errichtet, „der fordert, nicht nur gesetzwidrige Handlungen zu beichten, sondern aus seinem Begehren einen ganzen Diskurs zu machen.“[^38]

Mit der Emanzipation des Bürgertums und der Industrialisierung im 18. Jahrhundert, „…entsteht ein politischer, ökonomischer und technischer Anreiz, von Sex zu sprechen. Und das nicht so sehr in Form einer allgemeinen Theorie der Sexualität, sondern in Form von Analyse, Buchführung, Klassifizierung und Spezifizierung, in Form von quantitativer und kausaler Untersuchung …“[^39]. Die neu entstehende kapitalistische Gesellschaftsform braucht gesunde und disziplinierte Körper. „Auf dem Felde der politischen Praktiken und der ökonomischen Beobachtungen stellen sich die Probleme der Geburtenrate, der Lebensdauer, der öffentlichen Gesundheit…; verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerungen schießen aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ’Bio-Macht’.“[^40] Sexuelle Lust durfte nur dann ausgelebt werden, wenn sie keine Gefahr für die körperliche und seelische Gesundheit darstellte. Es entstand eine Reihe von Prozeduren, um gesundes und normales von pathologischem und perversem Sexualverhalten zu unterscheiden. In dem daraus entstehenden medizinischen und psychologischen Diskurs führte dies zu „einer sichtbaren Explosion der häretischen Sexualitäten“[^41]. Menschen, denen man eine häretische Sexualität nachsagte, waren durchaus sichtbar im Diskurs, nur wurde ihnen das Ausleben sexueller Handlungen verboten: „Wo es Macht gibt, da gibt es Widerstand“[^42], und so machten sich Sexualwissenschaftler wie Wilhelm Reich Anfang des letzten Jahrhunderts auf, dieser Macht zu entrinnen, und entwickelten die historisch-politische Kritik der sexuellen Repression.[^43]

Die Suche nach der Wahrheit über die Sexualität ergab plötzlich ein ganz anderes Bild von dem, was zur Gesundheit der Bevölkerung beitragen sollte. Doch auch jetzt noch leben die Menschen unter der Macht eines Sexualdispositivs, dessen Erfüllung vielleicht sogar noch mehr verspricht und deren Macht noch tiefer in das Wesen der Menschen eingreift, als sie denken. Laut Foucault „haben wir es jetzt so weit gebracht, dass wir unsere Selbsterkennung von dem erwarten, was wir Jahrhunderte hindurch als Wahnsinn betrachtet haben, dass wir die Fülle unseres Körpers bei dem suchen, was lange Zeit sein Stigma und seine Wunde war, dass wir unsere Identität dort vermuten, wo man nur dunkles namenloses Drängen wahrnahm.“[^44]

Trotz all der vermeintlichen Befreiung im Bereich sexueller Handlungen ist der Mensch immer noch gefangen unter der Macht der Sexualität. „Das Sexualitätspositiv hat ‚den Sex‘ als begehrenswert konstituiert. Und dieser ’Begehrens-Wert’ des Sexes bindet jeden von uns an den Befehl, ihn zu erkennen … Dieser Begehrens-Wert macht uns glauben, dass die Rechte unseres Sexes gegen alle Macht behaupten, während er uns in Wirklichkeit an das Sexualitätsdispositiv kettet…“. So kann der „Gegenangriff nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.“[^45] Nur wenn der Mensch sich vom Sexualdispositiv befreit, das dem Körper seine Identität zuschreibt, kann er sich seine eigene Identität entwerfen. Man muss nur aufhören, nach der Wahrheit zu suchen, die die Menschen unterhalb der Funktion ihres Körpers, ihrer Geschlechtsorgane vermuten: „Stellt man nämlich z.B. die Frage nach der Homosexualität nicht mehr als Frage nach der Wahrheit und nach dem Geheimnis der eigenen Natur, sondern als Frage nach einer homosexuellen Ästhetik der Existenz, dann stellt sie sich als Frage nach den konkreten sozialen Beziehungen, die im Gebrauch der Lüste aufgebaut, entworfen, erweitert und von Fall zu Fall modifiziert werden können. Es geht dann nicht mehr darum, die Wahrheit der eigenen Sexualität auszudrücken, sondern darum, die eigenen Lüste und die Lüste der anderen zur Erfindung einer neuen Sozialität zu benutzen.“[^46]

Mit seiner Genealogie des Sexualbegriffs versuchte Foucault aufzuzeigen, wie im 17. Jahrhundert eine Vermehrung der diskursiven Aussagen rund um den sexuellen Akt entstand, und wie dieser im wissenschaftlichen Diskurs der Moderne immer weiter vertieft und ausgebreitet wurde, bis dahin, dass sich eine Gesellschaft rund um diesen Akt formierte. Er möchte die Menschen aus der Macht dieses Sexualdispositivs befreit sehen. Die Gesellschaft soll nicht länger um die angebliche Normalität des sexuellen Aktes und Begehrens herum gestaltet werden. Er wünschte sich die Konstruktion einer Gesellschaftsform, die es dem Einzelnen ermöglicht, sich aufgrund seiner Lüste eine eigene, für ihn stimmige Lebensform einzurichten. Das heißt nicht, dass er die Funktion seines Körpers negieren könnte oder sollte, sondern dass er in Freiheit über sie verfügt. Foucault kritisiert vielmehr „die Möglichkeit der Kontrolle … [die] zur Idee des Zwecks“ führt. „Tatsächlich hat die Menschheit keine Zwecke. Sie funktioniert, sie kontrolliert ihr Funktionieren und bringt ständig Rechtfertigungen für diese Kontrolle hervor!“ Daher ist er der Meinung, dass wir uns damit abfinden müssen, „dass es nur Rechtfertigungen sind. Der Humanismus ist nur eine von ihnen, die letzte“.[^47] Daraus folgt, dass im Blick auf den Körper und die Lüste sich eine andere Gesellschaftsform errichten ließe als die, die das Sexualdispositiv hervorgebracht hat. Er glaubte, dass Politik möglich sei, ohne die Berufung auf die Idee vom Menschen, dass „ein Optimum des Funktionierens … intern definiert werden“, kann, „ohne das gesagt wird ’für wen’ es so besser ist“.[^48] Was dies für die Organisation des Lebens bedeuten könnte, kann man in einem Interview mit dem Titel „Von der Freundschaft als Lebensweise“ erkennen, wo er Freundschaft als einen Namen für eine „Beziehungs-Form, deren Gestalt noch nicht gegeben ist, die ’außerhalb von allen institutionellen oder familiären Bindungen’ besteht und für die weder ’Gesetz, Regel, noch Gewohnheit’ vorliegen“[^49] bezeichnet.

So könne also der Sexualdiskurs und das Sexualdispositiv, das sich laut Foucault im Christentum entwickelte und seine Vertiefung durch die Aufklärung und die Moderne erhielt, entmachtet werden. Demnach sollen die Menschen einerseits leben können wie sie möchten, andererseits soll eine Politik entwickelt werden, die sich um die Probleme der Gesellschaft dreht. „In Wirklichkeit sind die Probleme, die sich einem Politiker stellen, folgender Art: Soll man den Index des Bevölkerungswachstums steigen lassen? Soll man die Schwerindustrie oder die Leichtindustrie fördern? Bietet die Steigerung des Konsums in einer bestimmten Konjunktur Vorteile oder nicht? Das sind die politischen Probleme.“[^50] Foucault möchte ethische Werte und Moral im Bereich der Sexualität von der reinen Technik der Staatsführung trennen. Er fordert Herrschaftsverhältnisse, in denen Sexualität (Zweigeschlechtlichkeit und Anerkennung nur einer Form des sexuellen Verlangens) weniger Bedeutung zukommt. Stattdessen soll gewährleistet sein, dass sexuelles Begehren ausgelebt werden kann, unabhängig von Fragen der Wirtschaftlichkeit und der Demographie, die die Sexualität an die Zweigeschlechtlichkeit binden.

4 Die foucaultsche Denke

Aus foucaultscher Sicht ist der Mensch ein intelligentes Wesen, das seinen biologischen Körper funktionell einzusetzen versteht, sich aber nicht über ihn definiert. Seine Körperlichkeit dient ihm zur Errichtung sozialer Ordnungen, hat aber in sich keine tiefere, notwendige Bedeutung, aus der sich ein Sinn für das Daseins ableiten ließe. Im Gegensatz zur Denktradition der Aufklärung glaubt Foucault nicht, dass sich aus dem körperlichen Sein des Menschen irgendeine Notwendigkeit für bestimme soziale Gefüge ableiten ließe: weder in der Beziehung der Geschlechter noch in irgendeiner anderen sozialen Hierarchie. Woran er sich in seinem Verhalten orientiert, sind seine Gefühle und Lüste. Die Spannungen in der Geschichte der Zivilisation ergeben sich aus dem Paradox, dass der Mensch sich aber nach Sinn und Ordnung sehnt und deswegen nach immergültigen, universellen Wahrheiten – Ideen – fragt, von denen sich die „Ordnung der Dinge“ ableiten ließe.

Haben sich Ideen vorausgegangener Generationen einmal in den Köpfen etabliert, üben sie Macht aus. Doch nicht nur die Ideen haben Macht, auch diejenigen, die sich diese zu eigen machen und ihre Mitmenschen dazu bringen wollen, den Ideen zu folgen. Der Mensch in seinen Beziehungen ist also hineingewoben in ein Netz von Rechtfertigungen und Mechanismen der Macht. Würde er begreifen, dass es keine universelle Wahrheit gibt, würde er erkennen, dass er sich ihnen nicht vorbehaltlos unterzuordnen braucht.

Das Neue an Foucaults Geschichtsverständnis, sein Eifer, „die Unmöglichkeit eines Anfangs des Denkens offen zu legen,“ führt den Menschen vor Augen, dass sie selbst als Subjekte das Produkt eines „offenen Prozesses aus je anderen diskursiven Praktiken, je anderen Wissens-Macht-Konstellationen“[^51] sind. Das so konstituierte Subjekt ist allerdings frei, sich der Machtansprüche vormaliger Denkprozesse zu entledigen und neue in Gang zu setzen.

Für Foucault ist nicht die Emanzipation des Subjekts von seinen biologischen und natürlichen Voraussetzungen ausschlaggebend, wie für manche radikalen Gender-Theorien seiner Nachfolger, sondern erst einmal die Befreiung des Subjekts aus den Zwängen einer Gesellschaftsordnung, die sich auf die biologische Natur des Menschen beruft. Auch in seinem Drang nach Freiheit kommt der Mensch nicht umhin, sich in soziale Ordnungen und Zuorndungen zu fügen; neu ist, dass er sich seiner Rolle und Möglichkeiten, diese zu gestalten, bewusst wird. Foucault glaubte, „man kann das Optimum des sozialen Funktionierens definieren, indem man es erreicht, und zwar dank eines bestimmten Verhältnisses zwischen Bevölkerungswachstum, Konsum, individueller Freiheit und Vergnügungsmöglichkeiten für jedermann, ohne sich dabei jemals auf die Idee des Menschen zu stützen“.[^52]

5 Foucaults Erben

Man könnte meinen, die Geschichte gäbe ihm Recht: Diejenigen, die sich auf ihn berufen, Foucaults Nachfolger, scheinen sich nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im politischen Alltag zunehmend durchzusetzen. Man könnte meinen, eine neue Episteme stehe vor der Tür. Foucaults Traum von einer Gesellschaft, in der der Einzelne sich seine Identität selber konstruieren kann und die Zweigeschlechtlichkeit keine Rolle mehr spielt, spiegelt sich in den Medien, der Politik[^53] und Zukunftstrends: „Innovation schlägt Tradition, das Geschlecht verliert das Schicksalhafte, die Zielgruppe an Verbindlichkeit. Noch nie hat die Tatsache, ob jemand als Mann oder Frau geboren wird und aufwächst, weniger darüber ausgesagt, wie Biografien verlaufen werden. Der Trend veränderter Rollenmuster und aufbrechender Geschlechterstereotype sorgt für einen radikalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Das starke Ich schlägt das alte Frau/Mann-Schema und schafft eine neue Kultur des Pluralismus.“[^54]

Die foucaultsche Denke manifestiert sich etwa in einer Bildungspolitik, die Kinder so früh wie möglich mit diversen sexuellen Empfindungen und Identitäten in Berührung bringt, damit sie als Erwachsene in der Lage sind, „die eigenen Lüste und die Lüste der anderen zur Erfindung einer neuen Sozialität zu benutzen“[^55]. Das „Regenbogenportal“ des Bundesfamilienministeriums, bei dem sich junge Menschen darüber informieren können, dass „Geschlecht, Sexualität und Begehren auf vielfältige Weise gelebt werden, wird gesellschaftlich und politisch immer mehr anerkannt.“[^56] Und dass sich die Zweigeschlechtlichkeit nur durchsetzen konnte, weil zwar die Natur, nicht aber die Gesellschaft die Vielfalt mochte.[^57]

Auch Foucaults Feststellung, dass neue Episteme, wenn sie sich durchsetzen, alte zum Schweigen bringen, scheint sich zu bewahrheiten: gesellschaftspolitische Positionen, die vor wenigen Jahren noch selbstverständlich schienen, werden mit großer Vehemenz aus dem Diskurs gedrängt. Es gilt die Räume der Auseinandersetzung, auch angesichts sich ideologisch verhärtender Fronten, im Glauben an Vernunft, Dialog und Werte, die konstruierte Episteme überdauern, offenzuhalten.

Améry hatte wohl recht mit seiner Prognose, man könne Foucaults Thesen nicht als Modephänomen ad acta legen. Er irrte sich aber, sofern er meinte, dem Denken Foucaults sei mit analytischer Vernunft beizukommen. Foucaults Worte „hypnotisieren“ nicht nur, sie nehmen das Denken in ihrem System des radikalen Konstruktivismus und dessen Skepsis gegenüber der Möglichkeit von verbindlicher Wahrheit gefangen. Das schafft neue Machtverhältnisse im Diskurs: Wer bestimmt die Kriterien wissenschaftlicher Validität? Wir sollten Foucaults Worte „man darf die politischen Probleme nicht in den Kategorien ‚Wissenschaft/Ideologie‘ angehen, sondern in den Kategorien ‚Wahrheit/Macht‘“ ernst nehmen und uns nicht von dem regieren lassen, was der jeweils aktuelle Diskurs als Wahrheit postuliert.


  1. Siehe dazu Antke Engel u. Nina Schuster: Die Denaturalisierung von Geschlecht und Sexualität. Queer/feministische Auseinandersetzungen mit Foucault, in Anhorn, R. et al., Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2007, S.135. – Im Anschluss an das Denken Michel Foucaults gelten Geschlecht und Sexualität nicht als naturgegebene, jenseits von Geschichte und Gesellschaft existierende Größen. Heterosexualität und Heteronormativität werden in queer/feministischen Kontexten als Ergebnis sozio-diskursiver Konstruktionsprozesse verstanden, innerhalb derer sich auch die Körper als historisch veränderlich erweisen. Bezüglich dieser Denaturalisierungen ist „Konstruktion“ kein neutraler Begriff. Vielmehr geht es um die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer sich historisch spezifische Formen von Geschlecht und Sexualität ausprägen, sowie um die Frage, wie Geschlecht und Sexualität innerhalb dieser Machtkonstellationen wirksam werden und zu ihrer Reproduktion oder Veränderung beitragen. Die These von der Machtverwobenheit macht die Attraktivität von Foucaults Denken für geschlechter- und sexualpolitische Bewegungen aus. Sie besagt, dass es kein Außerhalb der Macht gibt - und dass dort, wo Macht ist, immer auch das Potenzial zum Widerstand existiert. Interessant für die queer/feministischen Theorien, die seit Anfang der 1980er Jahre an Foucaults Denken anknüpfen, ist auch die Tatsache, dass dieser Geschlecht und Sexualität im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Rassismus thematisiert und somit das feministische Anliegen unterstützt, das komplexe Zusammenspiel verschiedener sozialer Differenzierungen zu erfassen. 

  2. Siehe dazu: Harald Schulze-Eisentraut u. Alexander Ulfig:: Gender Studies: Wissenschaft oder Ideologie? Baden-Baden 2019, S.2. – Wobei der Begriff der Ideologie eher im engeren Sinn gemeint wird, als etwas, das weder durch Fakten noch rationale Argumentation verifizierbar ist, z. B. “Wenn wir im Titel fragen „Gender Studies – Wissenschaft oder Ideologie?“, dann ist Wissenschaft hier verstanden im Sinne von Forschungsmethodik, die vor allem anderen dem Prinzip einer Überprüfbarkeit der faktenbasierten Argumentation verpflichtet ist, um so ein begründetes und systematisch geordnetes Wissen zu generieren. Wissenschaft ist damit das Gegenteil von Ideologie im Sinne einer weltanschaulichen Idee zur Erreichung politischer und gesellschaftlicher Ziele. 

  3. Siehe dazu: www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Hannovers-neue-Gender-Politik;art310,195483 (zuletzt aufgerufen am 28.12.2020) „Wer die geistigen Traditionslinien der Gender-Ideologie – von Judith Butler und Uwe Sielert, Elisabeth Tuider bis hin zu Michel Foucault – nachverfolgt, entdeckt den Grund: es geht um Macht und um die Dekonstruktion des Menschen.“ – Oder: Handreichung der Geistlichen Gemeindeerneuerung, Gender Mainstreaming: Architektur einer neuen Gesellschaft, 2016 Initiative im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, S. 7 www.gemeindeerneuerung.de/wp-content/uploads/2018/01/Brosch%C3%BCre_Gender_2016-1.pdf (zuletzt aufgerufen am 28.12.2020) „Einer der tiefgreifendsten Denker, der für die unterschiedlichsten Strömungen eine Art ideologischen Unterbau formulierte, ist Michel Foucault (1926-1984).“ 

  4. Lukas Brandl (2020): Festhalten am Menschen: Jean Amérys Kritik an Michel Foucault. Le Foucaldien, 6(1), 8. DOI: doi.org/10.16995/lefou.76 

  5. Jean Améry: Archäologie des Wissens: Michel Foucault und sein Diskurs der Gegenaufklärung, In: DIE ZEIT Nr. 14/1978 

  6. Ebd. 

  7. Siehe dazu: www.nationalreview.com/2019/10/douglas-murray-book-the-madness-of-crowds-gender-race-and-identity/ (zuletzt aufgerufen am 16.12.20) I’m interested in tracing, in all of these things, what the deep intellectual underpinnings are, what the presumptions are of our time, including the philosophical presumptions, and which follow on to cause, very often, political presumptions. … And I suppose what I was struck by was, of course — he’s basically the most cited thinker in academia today. And in terms of citations, I think Foucault is cited something about four times more often than Einstein in academic papers. 

  8. Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 53 

  9. Foucault in Hannelore Bublitz: Foucaults Genealogie der Moral und der Macht, in: Matthias Junge (Hg): _Macht und Mora_l, Wiesbaden 2003, S. 102 

  10. Foucault: _Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften_, Frankfurt 1996, S. 396 

  11. Ebd. S. 414 

  12. Karoline Tschuggnall: Der Mensch ist eine Erfindung…“ Von Michel Foucaults Kritik der Psychologie zur „Diskurspsychologie“, Opladen 1996, S. 247 

  13. Foucault, 1996. S. 10 

  14. Ebd. , S.9 u. 10 

  15. Ebd. S. 15 

  16. Ebd. S. 11 

  17. Ebd. S. 22 

  18. Foucault verwendet den Begriff nicht im üblichen Sinn, gemeint ist bei ihm das historische a priori. „Der Begriff Episteme (gr.: Wissen/Verstehen) bezeichnet historisch variable Denkstrukturen, welche Erkenntnis und Wissen einer Epoche bestimmen, beherrschen und auch begrenzen.“ pro-qm.de/episteme (zuletzt aufgerufen am 16.10.20) 

  19. Foucault, 1969, S. 24 

  20. Ebd. S. 23 

  21. Ebd. S. 74 

  22. Siehe dazu: Peter Ullrich: Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie: Ein- und Überblick. - In: Ulrike Freikamp, [u.a.] (Hg.): Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik, Berlin 2008. - (Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; 42), S. 20 u. 21 – Die Vertreter dieser neuen Ansätze verwiesen insbesondere darauf, dass die vorhandenen sprachlichen Kategorien bestimmen, was überhaupt denk- und wahrnehmbar ist. Was nicht sprachlich bezeichnet ist, existiert nicht. Jäger (2001: 91) illustriert das Phänomen mit einem weidmännischen Beispiel: Der von einem Förster bemerkte Vogel ist für den ornithologisch unbedarften Wanderer vielleicht nur ein roter Fleck. Andererseits kann ein Brett oder ein Baumstamm auf dieser Wanderung durchaus ein ’Tisch’ sein, jedoch nur für die hier rastenden und sich stärkenden Wanderer. Jedoch: ’Ein Ding, dem ich keine Bedeutung zuweise, ist für mich kein Ding, ja, es ist für mich völlig diffus, unsichtbar oder sogar nicht existent; ich sehe es nicht einmal, weil ich es übersehe’ (ebd.). Und wenn es nicht übersehen wird, ist die kommunikative Selektion wichtig. Fleck oder Vogel, Baumstumpf oder Tisch – das sind handlungsrelevante Unterscheidungen. Diese Position ist eine konstruktivistische, beinhaltet jedoch nicht notwendigerweise ein Bekenntnis zum radikalen Konstruktivismus und postmodernen Relativismus.
    [^23]: Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt 1998, S. 116
    [^24]: Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt 1974, S. 17
    [^25]: Foucault, 1998, S. 118
    [^26]: Foucault, 1974, S. 34
    [^27]: Ebd., S. 33
    [^28]: Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, S.11
    [^29]:  Z.B Der Wille zum Wissen oder Wahnsinn und Gesellschaft
    [^30]: Foucault, 1974, S. 38
    [^31]: „Der Mediziner und Philosoph Georges Canguilhem (1904-1995) war einer der maßgeblichen Lehrer von Michel Foucault. Doch nicht nur für diesen, auch für viele andere Philosophen aus Foucaults Generation spielte Canguilhems historische Epistemologie des Lebens eine wegweisende Rolle.“ www.fsw.uzh.ch/foucaultblog/essays/22/das-unsichtbare-kabinett-des-georges-canguilhem (zuletzt aufgerufen am 01.03.20)
    [^32]: Foucault, 1973, S. 11
    [^33]: Siehe dazu: Foucault, M., 1998, Anm. d. Übers., S.7 – Der frz. Begriff ‚dispositif‘ findet sich vornehmlich in juristischen, medizinischen und militärischen Kontexten. Er bezeichnet die (materiellen) Vorkehrungen, die eine strategische Operation durchzuführen erlauben.
    [^34]: Foucault, 1998, S. 27
    [^35]: Ebd., S. 128
    [^36]: Ebd., S. 129
    [^37]: Ebd., S. 31
    [^38]: Ebd., S. 31
    [^39]: Ebd., S. 35
    [^40]: Ebd., S. 167
    [^41]: Ebd., S. 65
    [^42]: Ebd., S. 116
    [^43]: Ebd., S. 157
    [^44]: Ebd., S. 185
    [^45]: Ebd., S. 186-187
    [^46]: Thomas Seibert: Über den freien Gebrauch des Lebens und der Lüste, Michel Foucaults „Ästhetik der Existenz“ und der emanzipatorische Diskurs der Sexualität. 1996, www.thomasseibert.de/texte/ueber-den-freien-gebrauch-des-lebens-und-der-lueste/ (zuletzt aufgerufen am 29.11.20)
    [^47]: Foucault 2001, in Foucault: Ausgewählt und vorgestellt von Pravu Mazumdar. Philosophie jetzt! München 2001, S. 319-320
    [^48]: Ebd., S. 317
    [^49]: Johannes Binotto: Design for Living: Der Begriff der Freundschaft bei Michel Foucault, in: Denkbilder Nr. 16, März 2004, S. 14-16
    [^50]: Foucault, 2001, S. 316
    [^51]: Karlheinz Ruhstorfer: Konversionen: Eine Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn 2004, S. 430
    [^52]: Foucault in Alexander Ulfig (2014): Der Mensch als Maß aller Dinge? Michel Foucaults postmoderner Anti-Humanismus versus Humanismus als Lebensorientierung, 2014, le-bohemien.net/2014/10/27/humanismus-der-mensch-als-mass-aller-dinge/ (zuletzt aufgerufen am 30.11.20)
    [^53]: Hierzu muss man sich nur einmal das neue Grundsatzprogramm der Grünen anschauen: cms.gruene.de/uploads/documents/20201218_Grundsatzprogramm_2020.pdf (zuletzt aufgerufen am 22.12.20)
    [^54]: www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-gender-shift/ (zuletzt aufgerufen am 09.11.20)
    [^55]: Thomas Seibert: www.thomasseibert.de/texte/ueber-den-freien-gebrauch-des-lebens-und-der-lueste/ (zuletzt aufgerufen am 29.11.20) – Vergl. dazu auch Anja Henningsen: Kritisch-reflexive Sexualpädagogik – Anknüpfungspunkte für eine Berufsethik, 2016 BZgA: „So mahnt die Gesellschaft für Sexualpädagogik: ’Sexualerziehung in öffentlicher Verantwortung ist dieser rechtlich-ethischen Ausrichtung auf Selbstbestimmung verpflichtet und darf keine ›richtige‹, ›natürliche‹ oder ›gelungene‹ Form von Liebe, Beziehung und Sexualität vorschreiben. Sie muss für verschiedene Wertauffassungen offen sein, den Dialog fördern und wechselseitige Anerkennung einüben.’ (gsp 2014). Es geht also keineswegs um eine machtvolle Indoktrination durch Sexualpädagog_innen, wohl aber darum, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu irritieren, um so den Blick für vielfältige Lebensweisen zu öffnen. Differenzen in Lebensentwürfen, die möglicherweise im sozialen Umfeld verborgen blieben, können erst auf diese Weise sichtbar werden. Dabei sollen keine Entwürfe beworben werden, sie stehen als gleichberechtigt nebeneinander. Heranwachsende, die sich über ihre eigenen Vorstellungen im Klaren sind, werden auf diese Weise bestärkt; Heranwachsende mit indifferenten Konflikten erfahren, welche Chancen ein frei wählbares Lebensmodell birgt.“ forum.sexualaufklaerung.de/ausgaben-ab-2010/2016/ausgabe-2/kritisch-reflexive-sexualpaedagogik-anknuepfungspunkte-fuer-eine-berufsethik/
    [^56]: www.regenbogenportal.de/informationen/anti-genderismus-gender-unter-ideologieverdacht (zuletzt aufgerufen am 01.03.2021)
    [^57]: https://www.regenbogenportal.de/informationen/das-koerperliche-geschlecht-ein-mosaik 

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