[Blogeintrag aktualisiert am 4. Juli 2012] Der Kinder- und Jugendarzt Dr. Rainer Böhm hat in der FAZ die Krippenoffensive der Bundesregierung scharf kritisiert. In seinem Artikel zeigt er die Befunde der neuesten Forschungen über die Auswirkung von Betreuung in Krippen.
Am bekanntesten ist die Untersuchung des US-National Institute of Child Health and Development (NICHD-Studie), in der die kognitive Entwicklung und das Verhalten von 1.300 Kindern über einen Zeitraum von 15 Jahren detailliert gemessen wurden:
„Am beunruhigendsten war indes der Befund, dass Krippenbetreuung sich unabhängig von sämtlichen anderen Messfaktoren negativ auf die sozioemotionale Kompetenz der Kinder auswirkt. Je mehr Zeit kumulativ Kinder in einer Einrichtung verbrachten, desto stärker zeigten sie später dissoziales Verhalten wie Streiten, Kämpfen, Sachbeschädigungen, Prahlen, Lügen, Schikanieren, Gemeinheiten begehen, Grausamkeit, Ungehorsam oder häufiges Schreien. Unter den ganztags betreuten Kindern zeigte ein Viertel im Alter von vier Jahren ein Problemverhalten, das dem klinischen Risikobereich zugeordnet werden muss. Später konnten bei den inzwischen 15 Jahre alten Jugendlichen signifikante Auffälligkeiten festgestellt werden, unter anderem Tabak- und Alkoholkonsum, Rauschgiftgebrauch, Diebstahl und Vandalismus. Noch ein weiteres, ebenfalls unerwartetes Ergebnis kristallisierte sich heraus: Die Verhaltensauffälligkeiten waren weitgehend unabhängig von der Qualität der Betreuung. Kinder, die sehr gute Einrichtungen besuchten, verhielten sich fast ebenso auffällig wie Kinder, die in Einrichtungen minderer Qualität betreut wurden.“
In einer weiteren Studie Ende der neunziger Jahre gelang es Forschern in den USA, das Tagesprofil des Stresshormons Cortisol bei Kleinkindern zu bestimmen, die in ganztägiger Betreuung waren. Untersucht wurden Kinder von zwei Daycare Centers. An den Tagen, an denen die Kinder in der Familie waren, war der Cortisol-Tagesverlauf normal: hoher Cortisolwert am Morgen und kontinuierlicher Abfall zum Abend hin. An den Tagen in der Kinderkrippe:
„stieg die Ausschüttung des Stresshormons während der ganztägigen Betreuung im Lauf des Tages an – ein untrügliches Zeichen einer erheblichen und chronischen Stressbelastung. (…) In der zweiten Einrichtung mit sehr hoher Betreuungsqualität standen am Abend immer noch fast drei Viertel der Kinder unter abnormem Stress.“
Diese Ergebnisse wurden durch weitere Studien bestätigt:
„Somit muss als gesichert gelten, dass besorgniserregende Veränderungen des Cortisolprofils vor allem bei außerfamiliärer Betreuung von Kleinkindern auftreten, und das selbst bei qualitativ sehr guter Betreuung.“
„Jene Cortisol-Tagesprofile, wie sie bei Kleinkindern in Kinderkrippen nachgewiesen wurden, lassen sich am ehesten mit den Stressreaktionen von Managern vergleichen, die im Beruf extremen Anforderungen ausgesetzt sind.“
Rainer Böhm nimmt auch Bezug auf eine neue Studie aus Wien:
„Die dauerhafte Aktivierung des Stresssystems mündet oft in eine Erschöpfungsreaktion: Das Immunsystem geht sozusagen unter dem Stress-Trommelfeuer in die Knie. Genau dieser Effekt wurde jetzt auch in Wien in einer Studie über Kinderkrippen nachgewiesen. Vor allem Kinder im Alter unter zwei Jahren zeigten nach fünf Monaten qualitativ durchschnittlicher Krippenbetreuung stark abgeflachte Cortisol-Tagesprofile – vergleichbar mit den Werten, die in den neunziger Jahren bei zweijährigen Kindern in rumänischen Waisenhäusern gemessen wurden. Diese Befunde lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass eine große Zahl von Krippenkindern durch die frühe und langdauernde Trennung von ihren Eltern und die ungenügende Bewältigung der Gruppensituation emotional massiv überfordert ist.
Wie sich diese Überforderung im späteren Leben auswirken kann, lässt sich mittlerweile der NICHD-Studie entnehmen. Kürzlich wurden die morgendlichen Cortisolwerte der inzwischen 15 Jahre alten Studienteilnehmer gemessen. Bei den Probanden, die schon früh ganztags betreut worden waren, zeigten sich die gleichen Veränderungen wie bei Kindern, die in der Familie emotional vernachlässigt oder misshandelt worden waren. Besonders fällt auf…, dass die Veränderungen unabhängig von der Qualität der Betreuung auftraten und dass sich die Stresseffekte von Tagesbetreuung und familiärer Vernachlässigung addierten. Mit anderen Worten: die Krippenbetreuung wirkt sich weder kompensatorisch noch schützend aus. Alles in allem steht damit fest, dass Krippenbetreuung die Stressregulation auch langfristig negativ beeinflusst.“
Rainer Böhms Fazit ist klar:
„Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, ist unethisch, verstößt gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank. Ein freiheitlicher Staat, der frühkindliche Betreuung in großem Umfang fördert, ist verpflichtet nachzuweisen, dass Kleinkinder keine chronische Stressbelastung erleiden. Das staatliche Wächteramt gebietet, eine Gefährdung des Kindeswohls gerade in öffentlichen Institutionen auszuschließen.“
Böhm fordert deshalb die Bundesregierung auf, von ihren Planungen, ein Recht auf außerfamiliäre Betreuung ab dem ersten Geburtstag einzuführen, Abstand zu nehmen.
Zum Artikel: Die dunkle Seite der Kinderheit
Guten Tag,
ich schreibe zurzeit meine Masterarbeit zu diesem Thema. Mich würde interessieren, wie ich an diese Forschungsergebnisse herankomme. Wer hat diese Forschung wann durchgeführt?
Über eine Antwort freue ich mich sehr!
Mir freundlichen Grüßen
Erica Petersen
Näheres zur NICHD-Studie finden Sie auf der Webseite von Dr. Rainer Böhm:
http://www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9&Itemid=176
Die Studie selbst können Sie hier lesen:
http://www.fylrr.com/archives.php?doc=seccyd_051206.pdf
Wir hoffen, wir konnten Ihnen weiterhelfen und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre Masterarbeit.